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Kanyes perfekte Makel: ‚My Beautiful Dark Twisted Fantasy’ fünf Jahre später

Kanye Wests bombastisches Werk hat verändert, wie wir über Musik sprechen.

Eigentlich sollte My Beautiful Dark Twisted Fantasy gar nicht existieren. Kanye West hätte nicht dieses eine Jahr haben sollen, das ihn dazu veranlasst sah, für sein Werk ein Team aus Musik-Avengers zusammenzurufen. Er hätte bei den MTV Video Music Awards nicht im Cognac-Rausch Taylor Swifts Dankesrede unterbrechen dürfen, was ihn 2009 die Missgunst der halben Welt einbrachte. Sie hätte andererseits aber auch wirklich nicht gewinnen dürfen. Das schmalzige High School Drama Video zu „You Belong With Me“ kann „Single Ladies (Put a ring on It)“ nicht im Entferntesten das Wasser reichen. Betrunken und unverschämt wie Wests lange Liste von Award-Show-Ausrastern oft auch gewesen sein mag, das ihnen zugrunde liegende Ideal—dass schwarze Künstler und ihr Werk mehr Anerkennung brauchen und besser repräsentiert werden müssen—wird medienübergreifend von Kreativen geteilt. Durch sein Schaffen, seine Interviews und seine Ausraster hat West dabei geholfen, eine Toleranz dafür zu etablieren, solche Themen in die Öffentlichkeit zu tragen—ja, sie sogar zum Bestandteil der Kunst zu machen, anstatt sich angesichts verdienter aber nicht vergebener Auszeichnungen hinter einer Maske aus falscher Akzeptanz zu verstecken.

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Kanye hatte Recht, was Beyoncé und Taylor anging, aber sein Pfad nach den VMAs war mehr als steinig. Die Fans nörgelten. Das Internet machte Memes. Selbst Barack Obama nannte ihn einen Trottel. West zog sich still und heimlich aus dem Scheinwerferlicht zurück und arbeitete an einem Projekt, um mit dem öffentlichen Spott und seinen dickköpfigen, schnapsgeschwängerten Ausrastern abzuschließen, die ihn an diesen Punkt gebracht hatten. Der Grundpfeiler seiner 2010er Charmeoffensive war die G.O.O.D. Friday Kampagne, bei der er Woche für Woche einen neuen, kostenlosen Track rausbrachte, was direkt mehreren, sich überschneidenden Zwecken diente: Der Hauptbeweggrund dahinter war mit ziemlich Sicherheit, die breite Öffentlichkeit mit einer Reihe von nicht zu ignorierenden Event-Releases wieder in Schaaren in Kanyes Arme zu treiben. Dabei wird oft unterschätzt, dass die recht enggefassten Deadlines den Künstler dazu zwangen, seine perfektionistischen Tendenzen zu Gunsten von ungemasterten, losen und manchmal unfertigen Tracks hintenan zu stellen. Das wirkte sich auf den wöchentlichen Output aus, geleiteten die Hörer aber auch sachte in die verdrehte Welt seines anstehenden Albums, das zwar reduziert und cool anfängt, sich aber mit der Zeit zu morbiden Kuriositäten wie „Take One for the Team“ und lethargischen Nummern wie „Christian Dior Denim Flow“ und „Don’t Look Down“ entwickelt. Und es funktionierte: Als das Album in die Läden kam, hatte Kanye sich eine Publikumsbasis herangezogen, die bereit war, ihm und seinem griechischen Chor aus Co-Stars überall hin zu folgen. Sein mutiger Richtungswechsel bescherte ihm dann auch begeisterte Kritiken aus allen erdenklichen Lagern.

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Für ein Album, das vermeintlich für den Massenmarkt gemacht ist, kommt Fantasy jedoch recht ungeschliffen und herausfordernd daher—gleichermaßen was Konzept, Struktur und Arrangement angeht. Wenn es sich dabei tatsächlich bloß um einen großen Entschuldigungsstrauß gehandelt haben soll, dann besteht dieser aus nichts als Rosen: blutrot und übersäht mit Dornen. Wenn West es wirklich damit darauf abgesehen hatte, das weiße Amerika zurückzugewinnen, dann ging er das auf eine Art an, die afro-amerikanischer nicht hätte sein können: mit Gastbeiträgen von Wu-Tang Clan Mitgliedern, Spoken-Word-Kostproben von Gil Scott-Heron und einem Riff von Chris Rock. Die größte Analogie im Kanye-Katalog lässt sich dazu wahrscheinlich im bahnbrechenden orchestralen Pomp von Late Registration finden, aber aggressive Schimpftiraden wie „Crack Music“ bauten im Vergleich zum Wu-Tang-Prog von „Dark Fantasy“ oder dem bombastischen Heilige-VS-Hure-Komplexen und Black Sabbath-Anspielungen in „Hell of a Life“—seines Zeichens ein Vorbote der Tonalität von Yeezus—einfach nur ausladende Instrumentalbreaks und Build-ups in relativ konventionelle Songs ein.

Fantasy gab den Beats nicht nur genug Platz zum Atmen, sondern verzerrte sie und ließ sie mutieren. Das Aushängeschild der Session, „Runaway“, ein unverblümtes Eingeständnis von Kanye Wests berüchtigtem Arschlochcharakter, taucht erst relativ spät in einer alles übertrumpfenden extended Version auf, deren Verses und Choruses von einem in die Länge gezogenen Schlusssatz gefolgt werden, der geisterhaft den zentralen Groove mit seinem Pete Rock geschuldeten Sampler-Workout methodisch auflöst und in eine dicke Suppe aus den verkohlten Melodiefetzen verwandelt. Das große Allstar-Treffen „All of the Lights“, das Rihanna, The-Dream, Fergie, Alicia Keys, Elton John und ein halbes Dutzend weiterer Künstler für die Backing Vocals zusammenführt, kommt mit einer majestätischen Fanfare aus Hörnern, Trompeten und Posaunen daher, auf der sich Wests Geschichte von einem Mann, der eigenhändig seine Familie mit häuslicher Gewalt zerstört, entfaltet. Verderb lauert hinter allem Schönen.

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Dieses Axiom erhärtet sich besonders deutlich in dem zweiminütigen „Video-Gemälde“ zur Fantasy Lead-Single „Power“ des Installationskünstlers Marco Brambilla. Darin steht Kanye bedrohlich unbeweglich in seinem persönlichen Garten der Lüste und rapt: „No one man should have all that power.“ Er ist umgeben von einer Szenerie der sinnlichen Extravaganz, das Damoklesschwert schwebt über seinem Kopf und Attentäter nähern sich bedrohlich seinem Genick. Mehr noch als das ausgeklügelte Konzept des Runaway Films, bei dem Hype Williams Regie führte und der die physische Veröffentlichung des Albums mit einer fantastischen Phönix-Geschichte begleitete, verkörpert Brambillas Kurzfilm den Geist von Fantasy: alles zerbricht, alles stirbt und in der Sekunde, in der du für dich entscheidest, dass das für dich nicht gilt, bist du an der Reihe. Die langanhaltende Genialität des Projekts war die Ummünzung von Kanyes schwierigem 2009 in eine Tragödie kosmischen Ausmaßes. „Das sind unsere Herrscher“, schien es zu sagen. „HipHop ist unser Reich.“

Was das angeht, lesen sich die Lyrics von Fantasy im Vergleich zu allem, was Kanye davor und danach gemacht hat, am ehesten wie klassische Poesie. Für diesen Mann und die Kultur steht alles auf dem Spiel und kein einziges Wort wird verschwendet. Im ersten Verse von „Gorgeous“ prangert er die Gesellschaftsstrukturen an, die schwarze Jugendliche ins Gefängnis bringen:

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„Penitentiary chances, the devil dances
And eventually answers to the call of autumn
All them fallin’ for the love of ballin’
Got caught with thirty rocks, the cop looked like Alec Baldwin
Inter-century anthems based off inner city tantrums
Based off the way we was branded
Face it, Jerome gets more time than Brandon
And at the airport they check all through my bag and tell me that it’s random“

„Lost in the World“ bedient sich an Bon Ivers „Woods“, dem experimentellem Highlight der Blood Bank EP, um eine potenzielle Liebhaberin in das mögliche Glück oder Unglück zu locken, das sich daraus entwickeln mag:

„You’re my devil, you’re my angel
You’re my heaven, you’re my hell
You’re my now, you’re my forever
You’re my freedom, you’re my jail“

Fantasay ist aber nicht bloß West in dichterischer Höchstform. Ein paar der Guestverses gelten zum Besten, was je in seinen Kollaborationen rumgekommen ist: Nicki Minajs Verse in „Monster“ („PINK WIG, THICK ASS, GIVE EM WHIPLASH / I THINK BIG, GET CASH, MAKE EM BLINK FAST”) zerstörte alle Jungs und bewies ihr Talent gegenüber einer HipHop-Hörerschaft, die sich nach dem Weggang von Lauryn, Missy und Kim von der Idee verabschiedet hatten, dass auch Frauen Rapstars sein konnten. Rick Rosses Spot nach Mike Deans alles vernichtendem Gitarrensolo in „Devil in a New Dress“ zeigt den Miami Mogul, ganz objektiv, von seiner besten Seite—die Hälfte ist zwar erlogen („Had cyphers with Yeezy bevore his mouth wired“, „Getting 2pac money twice over!“), aber einfach unerhört königlich in seinen schamlosen Übertreibungen. Der verschachtelte, von Stars nur so strotzende Bombast von Fantasy funktioniert aber am Ende nur, weil Kanye ein gewiefter Produzent ist—sowohl in seiner Eigenschaft als Beatmacher, als auch im klassischen Sinn: Er weiß, wie er einen Raum voller Leute dazu bringt, im Dienste eines Albums zu arbeiten, und wie man Leistungen aus Künstlern herauskitzelt, die diese selbst nie für möglich gehalten hätten.

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Es ist kein großes Wunder, dass My Beautiful Dark Twisted Fantasy immer noch als die Sternstunde von Kanyes Schaffen gilt: Das Album legt an vielen Stellen eine oftmals beeindruckender Genialität an den Tag. Die Kritiker, die es zu seiner Zeit und seitdem als makellos bezeichnen, verpassen allerdings einen wichtigen Aspekt, der sich wie ein roter Faden durch die Vermarktung und die Musik selbst zieht und gezogen hat. Fantasy ist ein Album, das davon handelt, für und mit seinen menschlichen Makeln akzeptiert zu werden—und genau wie bei dem Mann, der es erschuf, blitzt dieses auch immer in den verschiedenen theatralischen Einlagen durch. Nicki Minajs britischer Akzent in „Dark Fantasy“ ist einfach nur absurd. Das „Runaway“-Outro dauert eine gute Minute länger als nötig. Die zweiminütige Einlage von Chris Rock, mit der „Blame Game“ abschließt, tötet die komplette Stimmung des Songs. „So Appalled“ wird beinahe von dem tragischen CyHi da Prynce-Verse torpediert und RZAs Auftritt später—gepriesen sei The Abbot—ist nur eine weitere Stimme zu viel in einem Track, der schon hoffnungslos überladen ist. Wenn Fantasy der Versuch war, die Massen wieder dazu zu bringen, Kanye West zu lieben, dann kann es in seinen wackeligeren Momenten wie der eine Drink zu viel rüberkommen, der einen gesitteten Abend in totales Chaos stürzt—ein stimmiges Schicksal, wenn man bedenkt, dass es ein paar Schlucke Hennessy zu viel waren, die dieses Monster überhaupt erst erschufen.

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Der Erfolg des Krieges gegen die Marginalisierung des schwarzen Hollywoods, wie er von Kanye West, den Filmregisseuren Steve McQueen und Ava DuVernay, der Scandal und How to Get Away with Murder Erschafferin Shonda Rhimes und vielen mehr geführt wird, ist zwar spürbar, aber immer noch frustrierend ungleich: In den USA sehen sich Schwarze zwar mehr und mehr zur besten Sendezeit mit Serien wie Black-ish, Empire und Konsorten im Fernsehen vertreten und schwarze Regisseure konnten im letzten Jahr einige ermutigende Erfolge landen (Selma von DuVernay, Straight Outta Compton von F. Gary Gray), aber ein halbgares Beck Album kann immer noch Beyoncés bahnbrechendem, selbstbetiteltem Blockbuster-Album den Grammy für das Album des Jahres unter der Nase wegschnappen.

Ein gewisser Streit, der die letztjährigen VMA-Nominierungen umgab, illustrierte anschaulich die Früchte von Kanyes Revolution: Nicki Minajs Kolleginnen kamen kurz ins Stocken, als sie suggerierte, dass ihre „Anaconda“- und „Feeling Myself“-Videos wegen ihrer Hautfarbe und ihres Körperbaus mit spürbarem Nachteil gegenüber den grazilen, weißen Popstars ins Rennen gehen würde. Wo Wests ruppige, wachhundartige Verteidigung von Beyoncés künstlerischem Schaffen auf Entsetzen traf, entfachte Nickis Behauptung einen ertragreichen Dialog über die Stellung nicht-weißer Frauen in der Musikindustrie, anstatt als ein weiterer skandalöser und dummer VMA-Moment verspottet zu werden. Kanye, der besagtes Establishment in seinem Song („The day you play me will be the same day MTV play videos“) und auf dessen eigenen Bühnen direkt adressierte, verschaffte sich so den Ruf eines Tyrannen. Aber das aufkeimende Aufbegehren über das Weißwaschen des HipHops während der Award-Saison (siehe: Macklemore schlägt Kendrick Lamar bei den 2014er Grammys und eigentlich jeder Award, der an Iggy Azalea geht) ist mehr Absolution, als sie von irgendeiner begeisterten Review geliefert werden könnte.

Craig’s livin' in that 21st Century, doin' somethin' mean to it, doin' better than anybody you ever seen do it. Folgt ihm bei Twitter—@CraigSJ

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