Vor wenigen Stunden stand ich noch mitten in der Nacht im Niemandsland zwischen der ungarischen und der serbischen Grenze und habe Wasser und Decken an Flüchtlinge verteilt, neben mir der niedergedrückte NATO-Stacheldraht des EU-Grenzregimes.
Um mich herum die Lagerfeuer der Menschen, die irgendwo im Nirgendwo kampierten. Die Menschen haben nichts bei sich, es ist beißend kalt, viele haben gerade ein T-Shirt an. Sie laufen über den Grenzstreifen, überall patrouilliert Polizei. Immer wieder verdunkeln sich die Scheinwerfer der Polizei-Jeeps und ich sehe die Schatten von laufenden Menschen.
Videos by VICE
Bei der Rückfahrt konnte ich endlich ein wenig schlafen, schreckte aber bei jedem Bremsmanöver hoch. Ich träumte von den Fliehenden, die im Grenzgebiet neben und vor mir über die Straßen liefen und hatte Angst, wir würden gerade jemanden überfahren.
Jetzt habe ich ein paar Stunden in einem weichen Bett geschlafen, einen heißen Kaffee getrunken, lange geduscht und sitze an einem PC, um meinen Artikel über die Situation an der Grenze zu schreiben. Es ist völlig surreal.
Röszke an der ungarisch-serbischen Grenze ist ein kleines und beschauliches Dorf mit 3.252 EinwohnerInnen. Gleichzeitig ist es aber ein wichtiger Grenzübergang von Serbien nach Ungarn—und damit einer der zentralen Außenposten der „Festung Europa”.
Wir kommen mit dem Auto am Nachmittag im nur wenige Kilometer entfernten Szeged an. Am Bahnhof der drittgrößten Stadt des Landes haben freiwillige HelferInnen einen Infopoint und einen Spenden-Sammelpunkt eingerichtet. Es gibt Trinkwasser, Kleidung, Essen und auch WLAN, damit die Fliehenden Kontakt etwa mit ihrer Familie oder Angehörigen aufnehmen können, von denen sie getrennt wurden. Immer wieder treffen Autos ein, vor allem aus Ungarn und Österreich, und bringen neue Spenden. Auch in andere Städte sind andauernd einzelne Autos und Hilfs-Konvois unterwegs (einen dieser Konvois nach Debrecen haben wir bereits am letzten Wochenende begleitet).
Viele der Spenden liegen am Bahnhof in Szeged zwangsweise im Freien, die Transportkapazitäten sind am Limit. Es gibt parallel in der Stadt auch ein größeres Lager. Dorthin werden wir weiter geschickt. Unser eigener PKW ist bis oben vollgestopft mit Decken und Schlafsäcken, aber auch mit Windeln, Damenbinden und Taschentüchern. Es wäre absurd, von solchen Situationen zu berichten, ohne etwas zurückzugeben.
Eine Helferin am Bahnhof berichtet, dass die Grenzpolizei in der Umgebung mehrere „Catch-Points” errichtet hat, wo Flüchtlinge in größeren Gruppen kampieren, bewacht von der Polizei. Es ist für alle vor Ort völlig unklar, ob die Fliehenden registriert werden, ob sie weiter nach Westen dürfen, ob das Dublin-Abkommen (das besagt, dass Menschen in den ersten EU-Staat abgeschoben werden, wo sie in der EU registriert sind) aktuell exekutiert wird. Ich kann das bis zum Schluss nicht auflösen, die Situation dürfte sich auch permanent ändern.
Wir bekommen die GPS-Koordinaten der Catch-Points I und II, laden die Hygiene-Artikel ab und dafür zusätzlich Wasser und kleine Saft-Pakete ein und fahren los. Überall auf den Straßen ist massenhaft Polizei, überall auf den Straßen sind Flüchtlinge zu sehen, entweder am Straßenrand unterwegs oder irgendwo hinter einigen Büschen, ein wenig rastend. Wir halten mehrmals an und verteilen Decken, Nahrung und Wasser.
Ein Mann fragt uns, wie er so schnell wie möglich nach Budapest kommen kann, für die Route verwendet er das GPS auf seinem Handy. Er ist Arzt aus Syrien und erzählt, dass er so schnell wie möglich wieder in seinem Beruf arbeiten will. Ein paar Jugendliche wollen unbedingt Selfies mit uns machen, ein paar positive Erinnerungen mitnehmen. Ein Mann zeigt mir währenddessen ein Foto seines besten Freundes am Handy, der in Syrien gestorben ist, als sein Haus zerbombt wurde. Wer da ernsthaft noch fragt, warum Fliehende Smartphones brauchen, hat sich schon disqualifiziert.
Als wir den Catch-Point I erreichen, ist dort niemand mehr, er wurde offenbar geräumt. Wir fahren weiter zum Catch-Point II, die Landschaft erinnert an die Steiermark oder Niederösterreich. Kein Wunder, wir sind hier nur wenige hundert Kilometer von der österreichischen Grenze entfernt. Am Catch-Point II schließlich sehen wir rund 70 Menschen, die Polizei steht am Rand, das „Lager” ist nicht bewacht. Doch was als „Catch-Point” so formell klingt, sind schlicht fünf bis sechs Lagerfeuer, um die sich Menschen drängen, es gibt zu wenig Wasser, es gibt zu wenig Nahrung, es gibt keine Decken, keine Unterkünfte.
Wir verteilen Wasser und Decken und fahren weiter zu den drei großen Lagern. Direkt hinter dem Grenzübergang Röszke hat die ungarische Polizei zwei Anhalte-Lager für die Flüchtlinge gebaut, die wie Gefängnisse aussehen. Das eine Lager ist ein großes Viereck, umgeben von drei Meter hohen Zäunen, NATO-Stacheldraht und Polizei, die außen und innen patrouilliert.
Zwei Männer aus Afghanistan, mit denen ich durch den Zaun sprechen kann, schätzen die Anzahl der Menschen im Lager auf rund 1500, die rund 100 großen Zelte lassen diese Schätzung realistisch scheinen. Es sind hier offenbar Männer, Frauen und Kinder untergebracht, an einigen Stellen hängt Kinderkleidung an einem der Zäune, möglicherweise zum Trocknen. Ein Mann aus Burma erzählt, dass genug Wasser da sei, aber nur sehr wenig Essen.
Das zweite Lager steht auf einem Grün-Streifen zwischen der Autobahn zum Grenzübergang und einer Schnellstraße. Hier ist der Zaun weniger hoch, alles wirkt improvisierter. Doch gleichzeitig hat die Polizei hier einen Innen- und einen Außenzaun errichtet, es gilt also zwei Zäune zu überwinden. Es ist hier auch nicht möglich, mit jemandem zu sprechen. Wir sehen teils eingedrückte Zäune, möglicherweise sind hier Menschen aus dem Lager entkommen.
Das dritte Lager ist einfach eine riesige chaotische Ansammlung von kleinen Zelten und Menschen auf einem Feld, die sich an Lagerfeuern wärmen. Es ist Abend und hat rund acht Grad, die Menschen hüllen sich notdürftig in gespendete Decken und Schläfsäcke. Vermutlich sind hier mehrere tausend Flüchtlinge.
Eine tatsächliche Anzahl ist schwer zu schätzen, es kommen und gehen permanent Menschen. Die Anzahl ist in den letzten Wochen deutlich angewachsen. Einerseits wollten viele noch über das Mittelmeer, bevor der Winter die ohnehin lebensgefährliche Überfahrt noch schwieriger macht, andererseits sollen in Ungarn die Gesetze für den Grenzübertritt mit 15. September drastisch verschärft werden.
Eine staatliche Versorgung der Menschen kann ich nicht erkennen. Die Hilfe hier wird offenbar ausschließlich von Freiwilligen geleistet. Vor allem die Organisation Migráns Szolidaritás dürfte vor Ort eine wichtige Rolle spielen. Wie auch in Österreich und Deutschland gibt der Staat seine Verantwortung zur Hilfe an Private ab.
Michael Shaker, ein Medizin-Student aus Budapest, der vor Ort hilft, erzählt mir von den Krankheitsbildern im Lager. Er berichtet von Problemen mit den Beinen, Pilzinfektionen wegen der Feuchtigkeit, aber auch von unbehandelten chronischen Krankheiten: „Heute hatte ich einen Patienten mit Hämophilie, er hat neben mir Blut gekotzt. Wir haben hier aber viel zu wenig Behandlungskapazitäten.” Er erzählt auch, dass Menschen oft nicht ins Spital wollen, weil dann Familien zerrissen würden. Shaker geht davon aus, dass es wegen der einsetzenden Kälte in den nächsten Tagen massiv zu grippalen Infekten im Lager kommen wird, vor allem bei Kindern.
Hin und wieder geht die Polizei in großen Einheiten mit Helmen ins Zeltlager. Danach kommt dann ein Bus—viele Menschen wollen in diese Busse, die nach Gerüchten nach Györ oder Hegyeshalom fahren, also näher an die österreichische Grenze. Parallel zu diesen Menschen, die freiwillig in die Busse wollen, sind in den letzten Tagen immer wieder Flüchtlinge aus den Lagern ausgebrochen, erst wenige Stunden vor unserer Ankunft gab es wieder Auseinandersetzungen mit der Polizei.
Ein Hintergrund könnte die unterschiedliche Ausgangslage sein. Das Dublin-Abkommen wurde in Deutschland für Flüchtlinge aus Syrien aufgehoben, diese können sich also unbesorgt bei der ungarischen Polizei melden. Menschen aus Afghanistan oder dem Irak hingegen versuchen, den Kontakt mit der Polizei zu vermeiden. Für sie stehen an der großen Tankstelle neben dem Lager buchstäblich hunderte ungarische Privat-PKW, um die Menschen nach Budapest zu transportieren. Wir hören, dass der Tarif pro Person 200 bis 300 Euro beträgt.
Schließlich kommen wir direkt an den Grenzzaun. Er ist unfertig, die über drei Meter hohen Pfosten sind noch nicht bespannt. Doch überall ist bereits der zwei Meter hohe rasiermesserscharfe NATO-Stacheldraht. Diese Barriere ist an etlichen Stellen niedergedrückt, direkt hinter dem Zaun im Niemandsland zwischen Ungarn und Serbien höre ich überall Stimmen, ich sehe improvisierte Lager und Feuerstellen. Die Polizei leuchtet an einzelnen Stellen in die Büsche hinter der Grenze, dann verstummen die Gespräche auf der anderen Seite.
An einigen Stellen sehe ich dann die Menschen, die in einem unendlichen Zug des Elends den Zaun der Festung Europa überwinden. In diesem Niemandsland verteilen wir unsere letzten Vorräte an die Menschen, die nichts mit sich führen außer dem, was sie am Leib tragen können. Die wenigsten haben auch nur einen Rucksack. Es sind viele Frauen mit kleinen Kindern dabei, die sich mit letzter Kraft vorwärts schleppen.
Die meisten Flüchtlinge, mit denen ich einige Worte wechseln kann, kommen aus Syrien, Afghanistan und dem Irak. Und das sollte nicht vergessen werden: Es sind die Flüchtlinge, die vor den Waffen flüchten, die die Rüstungskonzerne der EU und der USA auch in Konfliktstaaten verkaufen, die nach Europa kommen.
Es ist unklar, wie lange die Grenze so offen bleiben wird wie jetzt. Die Regierungsspitzen in Deutschland und Österreich haben bereits angekündigt, die Grenzen wieder kontrollieren zu wollen, „Schritt für Schritt zur Normalität” nennt das etwa Österreichs Bundeskanzler Werner Faymann.
Am Donnerstag wurde der Zugverkehr zwischen Ungarn und Österreich von den ÖBB vorübergehend eingestellt. Ungarn soll Dublin wieder exekutieren, wird gefordert. In Folge werden dann in Presseaussendungen zweifelsohne wieder Krokodilstränen über die Behandlung der Flüchtlinge durch die Regierung in Budapest vergossen werden.
Doch zu denken, dass Zäune und Grenzen Menschen aufhalten können, die vor furchtbaren Kriegen unter lebensgefährlichen Umständen bis an die Außengrenzen der Festung Europa geflüchtet sind, ist absurd. Vielmehr geht es darum, Menschen aufzunehmen, ihnen zu helfen und ihnen eine Perspektive zu bieten. Und es geht um eine Außenpolitik, die es nicht mehr notwendig macht, dass Menschen ihr Leben auf der Flucht riskieren.