“Hast du das gesehen?” “Boah, ist das echt?” “Ehhh-keeeel-haft!” – Wer um die Jahrtausendwende auf Schulhöfen unterwegs war, erinnert sich an solche Gespräche. Sie drehten sich um eine Website, die einer ganzen Generation junger Nutzer den Appetit verdarb und sie ebenso schockierte wie faszinierte. Sie war der digitale Autounfall, bei dem man nicht wegsehen konnte. Ihr Name: rotten.com.
Schon kurz nach dem Start im Jahr 1996 und über viele Jahre hinweg galt rotten.com als die krasseste, in jedem Fall aber ekligste Seite im Internet. Hinter der unscheinbaren Aufmachung steckten Bilder von Promi-Leichnamen, Fotos von Menschen, deren Gesichter von Schrotflintenschüssen zerstört wurden, Babys in Einmachgläsern und Männern, die ihre Penisse in Fische stecken, alles garniert mit süffisant-ironischen Kommentaren der weitestgehend anonymen Betreiber. Das selbsternannte “Archiv verstörender Illustrationen” wurde zum Synonym für die dunkle und hässliche Seite des World Wide Web. Erfolgreich war sie trotzdem – oder gerade deshalb: In seinen besten Zeiten begrüßte rotten.com täglich hunderttausende Besucher.
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Seit Ende 2017 aber ist rotten.com offline und nur noch über das Internet Archive einsehbar. 20 Jahre lang versuchten Anwälte, Politiker und Jugendschützerinnen vergeblich, die Seite dichtzumachen. Am Ende war es ein Ausfall der Technik, der die Seite in die Knie zwang, die ohnehin seit Jahren nicht mehr aktualisiert wurde.
Doch rotten.com ist mehr als eine Fußnote der Internethistorie. Die Ekel-Seite aus den 90er Jahren nahm große Teile der modernen Netzkultur vorneweg.
Rotten.com sollte ein Symbol für Meinungsfreiheit im Netz sein
Dabei war das so gar nicht geplant. 2001 sagte der Betreiber im Gespräch mit dem Online-Magazin Salon, er wollte ursprünglich bloß einige Bilder zum Spaß auf die Seite stellen. Er habe schon immer das Makabre gemocht. Die einprägsame Adresse von rotten.com habe sich dann aber schnell in der Internet Community und darüber hinaus verbreitet: Schon kurz nachdem die Seite online ging, erwähnte sie der Radiomoderator Howard Stern in seiner Show und stellte sie somit einem größeren Publikum neuer und vor allem neugieriger Nutzer vor.
Aufgrund der kontroversen Inhalte geriet rotten.com schnell in die Schlagzeilen. Der Gründer und später auch ein Team von Unterstützern sammelten die Bilder aus alten Büchern, Zeitungen oder anderen Websites. Manche Inhalte kamen auch per Leserpost: Grausame Aufnahmen aus dem Drogenkrieg, von Motorradunfällen und Kriegsverbrechen, wissenschaftliche Experimente, offizielle Tatortfotos, auf denen die aufgedunsenen Leichen von Marilyn Monroe und Chris Farley zu sehen waren. Aber eben auch Fotos von absurden Tätowierungen und kuriosen Illustrationen, die man heute auch auf Facebook teilen würde, konnten die Besucherinnen finden.
“Kein Kind sollte allein im Internet sein”
Das Team von rotten.com wählte die Inhalte zwar aus, scherte sich aber herzlich wenig über Persönlichkeits- und Urheberrechte. Alles wurde veröffentlicht. Hauptsache, es war heftig oder absurd und “regte die Leute” auf, wie es in den FAQ hieß.
“Rotten.com beweist, dass Zensur im Internet nicht praktikabel, unethisch und falsch ist”, stand in einem Manifest. Hinter dem Vorhang einer Schock-Website präsentierten sich die Betreiber als Verfechter einer radikalen Free-Speech-Politik. Kurz bevor die Website online ging, wurde in den USA der umstrittene Communications Decency Act verabschiedet. Das Gesetz sollte die Verbreitung von Pornografie im Internet regeln, wurde aber ein Jahr später wieder gekippt weil es das Recht auf freie Meinungsäußerung einschränkte. Eine Entscheidung, die rotten.com Auftrieb gab: Nach Ansicht der Betreiber verstießen sie selbst nie gegen Pornografie- oder Obszönitätsgesetze. Und gegen den Jugendschutz? “Kein Kind sollte allein im Internet sein”, schrieben sie.
Überhaupt erschien die Website zu einer Zeit, in der die Regeln des World Wide Web noch längst nicht fest geschrieben waren. Die Grenzen des Erlaubten, Akzeptierten, Angemessenen mussten Ende der 90er noch ausgelotet werden: Fotos abgeschossener Gliedmaßen und toter Promis mögen damals wie heute die Grenze des guten Geschmacks überschritten haben, aber sollte man sie deshalb vor der Öffentlichkeit verstecken? Wer sollte entscheiden, was im Internet gezeigt werden kann und was nicht?
Bis heute bleiben solche Fragen unbeantwortet: Während Plattformen wie WikiLeaks und sein Gründer Julian Assange sich als radikale Verfechter der Informationsfreiheit sehen, stehen soziale Netzwerke wie Twitter und Facebook im Spannungsfeld zwischen dem Ruf nach freier Meinungsäußerung und dem Vorwurf der Zensur. Der Fall von rotten.com beweist, wie lange sich manche Debatten um Inhalte im Internet nun schon ziehen.
Der Gründer von rotten.com hatte Verbindungen zu Hackern
Hinter rotten.com stecken Menschen, die tief in der Hacker-Kultur verankert sind. Ihre Geschichte beginnt in den 80er Jahren. Damals bildete sich in den USA eines der ersten weltweit bekannten Hackerkollektive, die Legion of Doom. Zwei ihrer ehemaligen Mitglieder, Patrick Kroupa (alias Lord Digital) und Bruce Fancher (Dead Lord) gründeten 1991 die Firma MindVox als damals zweiten Internetprovider in New York City. Ebenfalls bei der Gründung dabei: Der Kalifornier Thomas E. Dell, der die MindVox-Software und das integrierten Forensystem entwickelte, wie Dokumente aus der Zeit belegen.
Der gleiche Thomas E. Dell gilt heute relativ sicher als Gründer von rotten.com. Nicht nur sind sein Name, ein Postfach im Silicon Valley und seine heutige Firma namens Soylent Communications als Besitzer der Domain und anderer Schwesterseiten eingetragen. Er antwortet auch dem Online-Magazin The Outline im vergangenen Jahr persönlich auf die Situation der Seite – ein seltener Auftritt, denn Dell reagiert gewöhnlich nicht auf die Anfragen von Journalisten. Ein frühes Easter-Egg auf rotten.com verwies zudem auf das Halluzinogen Ibogain, das der MindVox-Gründer Patrick Kroupa regelmäßig einnahm.
Der Salon-Artikel aus dem Jahr 2001 beschreibt den Gründer von rotten.com unter dem Pseudonym Soylent als damals 34-jährigen Entwickler mit gräulichem Haar und einer sanftmütigen Art, der zuvor unter anderem auch für Netscape gearbeitet habe – ein Detail, das zwischenzeitlich auch auf einer Google+-Seite eines gewissen Thomas E. Dell auftauchte. Wie er Salon sagte, habe er Mitte der 90er Jahre mit Domains gehandelt und rotten.com für sich behalten, einfach weil er den Namen mochte.
Thomas Dell war einerseits ein talentierter Programmierer, der offenbar Verbindungen zu ehemaligen Hackern hatte, die in Systeme eindrangen, die Grenzen des Erlaubten teilweise überschritten und mit ihren Entwicklungen die “Evolution des Cyberspace” vorantreiben wollten, wie es auf der Seite von MindVox hieß. Andererseits war er Teil des Dotcom-Booms im Silicon Valley, war also nah dran an der Weiterentwicklung des Internets und am Puls der Zeit. Es ist kein Zufall, dass aus dieser Mischung schließlich rotten.com entstand: Eine Website, die ebenso anarchistisch wie zukunftsweisend war.
In Deutschland steht rotten.com seit 1999 auf dem Index
In Deutschland steht rotten.com seit 1999 und bis heute auf dem Index – eine Indizierung hält 25 Jahre an. 2001 ordnete ein Gericht in Düsseldorf 56 Internetprovider aus Nordrhein-Westfalen per “Sperrungsverfügung” an, den Zugang zu rotten.com und anderen Seiten zu sperren. Die Entscheidung sorgte für Kritik von Netzaktivisten und Branchenverbänden. Sie warnten davor, Websites pauschal zu sperren anstatt einzelne Inhalte. Tatsächlich wurde rotten.com nach der Kritik von der Verfügung ausgenommen.
Die Website stand somit im Mittelpunkt der Debatte über Sinn und Unsinn von Netzsperren, die seitdem immer wieder geführt wurde. 2009 etwa, als die Bundesregierung mit Stoppschildern auf Websites die Verbreitung von Kinderpornografie eindämmen wollte. Oder bald wieder, wenn die EU neue und umstrittene Verbraucherschutzregeln einführt.
Alle diese Versuche, rotten.com abschalten zu lassen, überlebte die Schock-Seite. Jahrelang sammelten die Betreiber auf der Website Unterlassungserklärungen und Klagen, die entweder vor Gericht oder meist schon vorher scheiterten. Für die Betreiber wurden diese Klagen zu Trophäen, die Kritiker und Kläger abschrecken sollten. Wobei die Seite durchaus einzelne Inhalte löschte – wenn ihr Anwalt denn ein “überzeugendes Argument” lieferte.
“Sprüht unsere URL an Stadtbusse und ritzt sie mit euren Klappmessern in Schulbänke!”
Gerade in den ersten sieben Jahren, als rotten.com am erfolgreichsten war, umschiffte die Website immer wieder geschickt neue Gesetze und Vorschriften. Sie wurde 1999 vor dem US-Kongress zitiert, als dieser über ein neues Jugendschutzgesetz abstimmte. Der Child Online Protection Act sollte Kinder vor gefährlichen Inhalte im Internet schützen, doch auch dieser wurde schließlich abgelehnt, da er zu weit gefasst war.
Die Betreiber von rotten.com argumentierten, auf ihrer Startseite gäbe es ohnehin keine gefährlichen Inhalte zu sehen. Für einzelne Inhalte schalteten sie eine Altersabfrage vor. Und um den Vorwurf der Obszönität zu umgehen, fütterten die Macher die Bilder mit biografischen Informationen und aktueller Berichterstattung an – denn Inhalte, die einen Bildungsanspruch haben, sind in den USA von manchen Gesetzen befreit. Was in diesem Fall absurd klingt, hielt tatsächlich einige Kläger vor Gericht ab.
Zudem entstanden neue Schwesterseiten, die von der Hauptseite ablenkten: boners.com zeigte Penisse in allen Formen und Farben. Mugshots.org war für Polizeifotos gedacht. Auf Daily Rotten verwies das Team um Thomas Dell ab 1999 vor allem auf externe Quellen wie Nachrichtenseiten. Im Jahr 2000 entstand mit The Gaping Maw ein Satire-Portal mit derben gesellschaftskritischen Kommentaren und Illustrationen. Heute ist von diesen Seiten ebenfalls nicht mehr übrig. Lediglich die Notable Names Database (NNDB), eine harmlose Biografie-Sammlung, ist noch online.
Rotten verbreitete Falschmeldungen und führte Medien vor
Müsste man ein zentrales Ereignis in der Geschichte von rotten.com erwähnen, landet man im September 1997. Zwei Wochen nachdem Diana Spencer, gemeinhin bekannt als Lady Diana, in Paris bei einem Autounfall verstarb, veröffentlichte rotten.com ein Bild, das um die Welt gehen sollte: Es zeigt einen Autounfall und ein Opfer, in der Ecke ein Porträtfoto der ehemaligen Kronprinzessin. Der Titel: “Death of a Princess”.
Die Aufnahme sollte den Leichnam von Diana zeigen, doch schnell war klar: Das Bild war eine Fälschung; ein Foto wäre aus diesem Winkel im Tunnel nicht möglich gewesen, und im Hintergrund ist offenbar eine britische Notfallnummer erkennbar. Dennoch griffen Medien von der New York Times bis hin zu Telepolis das Foto und die Reaktionen auf die Fälschung auf. Dabei erwähnten sie diese obskure Website, die es verbreitet hatte. Plötzlich war rotten.com auch außerhalb der Netzkultur ein Begriff.
Wie die Betreiber später schrieben, hätten sie niemals behauptet, dass das Bild echt sei. Es waren also Desinformationen, die rotten.com zu seinem ersten großen Erfolg im Mainstream verhalfen. Viele Jahre, bevor der Begriff Fake News zum geflügelten Wort wurde, legte die Episode die Kräfte offen, die bis heute das Internet bestimmen: Netzwerkeffekte, dank derer sich Inhalte online verbreiten. Der für viele Medien schwierige Spagat zwischen Authentizität und schneller Berichterstattung. Die morbide Sensationsgeilheit der Menschen. Und nicht zuletzt die Macht der Fälschung, die sich heute in Zeiten sozialer Netzwerke nach Anschlägen und vor Wahlen stärker denn je wirkt. Es gab schon vorher Fälschungen im World Wide Web. Aber rotten.com machte deutlich, welche Auswirkungen sie haben konnten.
Rotten war die Petrischale für 4chan, Anonymous, Trollkultur
Wie vieles auf rotten.com, war die Veröffentlichung des falschen Diana-Fotos nicht nur dazu gedacht, zu schockieren, sondern auch zu trollen. Immer wieder erschienen auf der Website Inhalte, die gefälscht waren: Fotos von Männern, die angeblich ihre Freunde aßen. Ein Bild von angeblich Rapper Tupac, nachdem er erschossen wurde. Die Köpfe hinter rotten.com wussten, wie sie Reaktionen hervorrufen und die Boulevard-Presse manipulieren konnten. Sie waren Proto-Trolle und ihr FAQ liest sich heute wie ein einzig großes “We did it for the lulz“: “Sprüht unsere URL an Stadtbusse und ritzt sie mit euren Klappmessern in Schulbänke! Gratis T-Shirts für alle, die sich rotten.com tätowieren lassen.”
Ein Beispiel für Rottens Vorliebe zum Trollen ist der Fall von Bonsai Kitten. Im Jahr 2000 zeigte die Website, wie man angeblich Katzen in Gläsern aufziehen sollte, damit sie, ähnlich wie Melonen, in eine bestimmte Form wachsen. Die Sache war natürlich nicht ernst gemeint, aber schnell verurteilten Tierrechtsorganisationen die Website; selbst das FBI ermittelte. Nachdem das MIT die Seite von seinen Servern nahm, landeten die Bonsai Kitten schließlich bei rotten.com und lebten fortan als Meme weiter.
Womit wir beim Einfluss von rotten.com angekommen wären. In seinem Buch Epic Win For Anonymous schreibt der Autor Cole Stryker: “Für Teile meiner Generation war Rotten eine Einstiegsdroge, die uns später an Orte wie 4chan führte.” Tatsächlich bediente die Seite eine eigene Subkultur, wie man sie heute auf 4chan, auf Reddit oder speziellen Foren findet: Auf ihr fanden sich Inhalte, die zu extrem für das “normale Internet” waren. Für viele Menschen war rotten.com bloß eine Seite, über die man den Kopf schüttelte und sich mit Freunden davor ekelte. Für andere aber war sie auch eine Bestätigung, dass im Internet wirklich fast alles geht.
Mit seiner Mischung aus subversiver Fuck-You-Attitüde und kalkulierten Tabubrüchen ebnete rotten.com anderen Plattformen den Weg: 2003 ging 4chan online und gab die Auswahl schockierender Inhalte seinen Nutzern und Nutzerinnen in die Hand.
rotten.com wurde Opfer seines eigenen Erfolgs
Rotten.com hatte es spätestens ab 2005 wie andere frühe Schockseiten schwer, gegen neuen Plattformen wie Reddit, YouTube und sozialen Netzwerke wie Facebook zu bestehen. Die Website war technisch wie optisch um die Jahrtausendwende stehen geblieben. Aber auch inhaltlich hatte es seinen Reiz verloren: Was einst schockierend war, konnte man längst auch über Googles Bildersuche finden. Schockierende Fotos gab es auch auf Reddit, für Pornografie und Fetisch entstanden bessere Plattformen, und wer trollen wollte, fand auf 4chan eine nur allzu willige Community.
Es ist ironisch, aber rotten.com wurde gewissermaßen ein Opfer seines eigenen Erfolgs. Es wollte schockieren, half aber gleichzeitig, die gezeigten Grausamkeiten zu normalisieren, indem es die Inhalte, die bis dato in obskuren Foren und Usenet-Gruppen geteilt wurden, befreite und allen Nutzerinnen und Nutzern präsentierte. Im Gespräch mit der Süddeutschen Zeitung sagte ein früherer Mitarbeiter: “Wenn du heute auf etwas wie Rotten stößt, würdest du kurz klicken, gucken und dann fragen: ‘Okay, und was jetzt?’”
Ab 2005 sanken die Nutzerzahlen von rotten.com und ab 2009 spielte die Seite praktisch keine Rolle mehr in der Netzkultur. Die letzte Aktualisierung auf Daily Rotten war im Februar 2012: mit Links auf Drohnengesetze in den USA und zu Leichenfunden aus dem Ersten Weltkrieg. Seitdem war die Seite buchstäblich nur noch ein Archiv verstörender Illustrationen. Als sie im vergangenen Jahr schließlich nicht mehr erreichbar war, bemerkte das kaum jemand. Auf den heutigen Schulhöfen bestimmen andere Themen das Gespräch, wenn es um das Internet geht. YouTube-Dramen etwa oder der neue Instagram-Post von Lisa und Lena. Auch das ist für manche wohl auf gewisse Weise schockierend. Aber eindeutig weniger blutig.