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Die Evolution von Deichkind

Vom Rap-Trio zum Elektrotrash-Quintett—die Entwicklung von Deichkind in 15 Jahren, sechs Alben und zehn ausgewählten Songs.

Foto © Henning Besser | Deichkind

Die Bandgeschichte von Deichkind ist äußerst verwirrend. Fakt ist, dass von den drei Herren, die im Jahr 1999 eine Rapcrew namens Deichkind gründeten, nur noch einer übrig ist. Und vom Sound? Fast noch weniger. Kaum eine Band hat sich so entwickelt, oder eher noch: so verändert. Mehr als 15 Jahre ist die Geschichte von Deichkind vom ersten Song „Kabeljau Inferno“ zum neuesten Album Niveau Weshalb Warum nun alt, wir versuchen die Evolution in zehn Songs nachzuvollziehen.

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„Kabeljau Inferno“ (1999)

Ein Remix dieses Songs landet später auf dem Debütalbum Bitte ziehen Sie durch, das Original aus dem Jahr 1999 ist aber wohl einer der ersten Songs der damals dreiköpfigen Band. Gründungsmitglieder sind Philipp Grütering aka Kryptic Joe, Bartosch Jeznach aka Buddy Buxbaum und Malte Pittner. Die drei lernen sich in Philipps selbst zusammengeschusterten Bergedorfer „Tonstudio“ kennen, in das Buddy und Malte mit einem ersten Demotape kommen, weil sie professionell aufnehmen wollen. „Wir heißen Deichkind und wir machen so Rap-Sachen“—Philipp reagiert begeistert auf die Musik und wird Teil der Band.

„Bon Voyage“ (2000)

„Nicke mit dem Beat und beweg dein’ Arsch“—die erste Deichkind-Hymne. Damals hat die Band noch den Anspruch, den deutschen Rap nach vorne zu bringen und innerhalb der bestehenden Rap-Grenzen weiterzuentwickeln. Die 90er sind vorbei, irgendwas muss anders werden, Deichkind denken, sie könnten die Zukunft des Rap werden und merken dabei nicht, dass sich exakt zu dieser Zeit nicht in Bergedorf, sondern in Berlin der Deutschrap komplett neu erfindet. „Bon Voyage“ ist ein schon deutlich elektronisch angehauchter Dancefloor-Hit, der ziemlich genau zeigt, was die Görn vom Deich mit Deutschrap vorhaben. Doch dann kommt dieser Typ namens KKS, setzt sich selbst die Krone auf und rappt: „Du und Deichkind haben was gemeinsam und zwar SCHEISSE!“—Kool Savas droppt diese Zeile nicht zufällig zu einem Zeitpunkt, an dem „Bon Voyage“ in den Single-Charts steht.

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„Limit“ (2002)

Ein entscheidender Schritt: Irgendwo zwischen den Jahren 2000 und 2002 wird Produzent Sebi Hackert festes Bandmitglied und erscheint dann auch auf dem Albumcover vom Zweitwerk Noch fünf Minuten Mutti. Musikalisch stellt sich erstmals die Frage: Ist das noch HipHop? Bei „Limit“ gilt das eher nicht, das ist ein Elektrotrack, mit deutschsprachigem Sprechgesang. Da gehen die BoomBap-Oldschooler schon im Jahr 2002 auf die Barrikaden—die Masse reagiert allerdings genau andersherum: „Limit“ mutiert auf Livegigs zur Party-Hymne. Ziemlich schnell stellt sich heraus, dass das Gerät nicht mehr zu bremsen ist, Deichkind startet nun live richtig durch, inzwischen mit Utnerstützung des Live-DJs Dj Phono. Das Fantastische ist dabei gar nicht der Beat alleine, sondern die Mischung aus einem einzigartigen Knallerbeat und den brutal hängen bleibenden Phrasen a la „Sag Bescheid, wenn du oben bist“, die Fähigkeit für solche Ohrwurm-Floskeln hat Deichkind sich bis heute bewahrt.

„Electric Super Dance Band“ (2005)

2005 treten Deichkind bei der ersten Ausgabe von Stefan Raabs Bundesvision Song Contest auf. Sie machen einen ziemlich beschissenen 14. Platz, gewinnen an Fans aber wohl doch so einiges dazu. Der Song „E.S.D.B.“ klingt wie eine alberne, deutsche Version von The Prodigy, ohne die Wut des britischen Originals. 2005 wird zu einem Wendepunkt in der Deichkind-Geschichte: Noch in Originalbesetzung (Philipp, Malte, Buddy, Sebi), aber schon komplett ohne Rap. Außerdem sind hier erstmals die Pyramidenhelme zu sehen, die seitdem fester Bestandteil der Deichkind-Ästhetik geworden sind. Übrigens treten die Görn vom Deich damals für Mecklenburg-Vorpommern an, die eigentliche Heimat Hamburg besetzt Samy Deluxe mit einem Rap-Song. Den Sieg trägt auch der nicht davon, sondern: Juli.

„Remmi Demmi (Yippie Yippie Yeah)“ (2006)

Deichkind-Frontmann Philipp sagt im Nachhinein, dass er überrascht ist, dass ausgerechnet dieser Song so sehr zum Hit und zum Symbol für Deichkind wurde. Wo auch immer 2006/07 eine Studentenparty zum Ausrasten gebracht werden sollte, lief „Remmi Demmi“. Bei Liveshows wird der Song natürlich noch mehr zur Abrisshymne, was in einem heute legendären Gig in der aufgehenden Sonne des Melt-Festivals 2006 gipfelt. Damals fordert die euphorisierte Band das euphorisierte Publikum zum Bühnensturm auf, was dazu führt, dass hunderte, springende Menschen die Hauptbühne an den Rand eines Kollapses bringen. Aus den Aufnahmen vom WDR entstand im Nachhinein das offizielle Musikvideo. Ab diesem Tag sind Deichkind eine der berühmtesten Livebands des Landes. Deichkind wird danach zur „Remmi Demmi“-Band, zur Abrissbirne für Festivals, zum Suff-, Drogi-, Party-Symbol. Auch für ein breiteres Publikum, kein ein Schützenfest ohne „Krawall und Remmi Demmi“-Grölerei. Malte spielt da nicht mehr mit und steigt aus. Dafür wird Sebastian Dürre aka Porky vom Bassisten zum festen Mitglied, genau wie der ehemalige Live-DJ Henning Besser aka DJ Phono, der zwar nicht mehr auf der Bühne die Platten spinnt, aber dafür zu so etwas wie einem Maskottchen auf der Bühne mutiert.

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„Luftbahn“ (2009)

Was macht dieser Song in diesem Artikel? Definitiv keiner der großen Hits, definitiv kein prägender Deichkind-Sound und definitiv kein Richtungs-entscheidender Song in der Diskographie. Eigentlich ist „Luftbahn“ nur ein mit Autotune verunstalteter, etwas zu käsiger Kuschelsong, der als zweite Single-Auskopplung des Albums Arbeit nervt weit weniger Aufmerksamkeit bekommen hat als der Arnacho-Titeltrack. Aber andererseits ist „Luftbahn“ bei all seiner Tendenz zum Kitsch eben das, was in Sachen Gefühle bei Deichkind möglich ist: „Wir fahren mit der Luftbahn durch die Nacht, wo der Sternenhimmel für uns lacht, und all die Probleme auf der Erde, liegen für uns in weiter Ferne.“ Das Video ist natürlich wieder vollkommen übertrieben ironisch und albern, damit man bloß nicht auf die Idee kommt, dass Deichkind ernst meinen, wovon sie singen. Bei diesem Album ist Buddy Buxbaum ebenfalls aus der Band ausgestiegen, dafür ist Ferris MC seit 2008 volles Mitglied.

Letztlich gibt es noch einen Grund für diesen Song in diesem Artikel: Man kann diese Single-Veröffentlichung nicht ohne den Zusammenhang zum Tod des langjährigen Produzenten und Bandmitglieds Sebi Hackert sehen, der weniger als drei Wochen vor Single-Release überraschend im Alter von 32 Jahren starb. Vermutlich war der „Luftbahn“-Release da schon längst geplant, aber hört man den Song so kurz nach Hackerts Tod klingt das alles gar nicht mehr so albern und kitschig, sondern tatsächlich ergreifend.

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„Bück Dich Hoch“ (2012)

Als ich vor einiger Zeit die Band Deichkind als Punk bezeichnete, ging das zu einem großen Teil auf diesen Song zurück. „Bück Dich Hoch“ ist Kapitalismuskritik in Reinform, allerdings auf einem Track, der perfekt zur musikalischen Untermalung einer Autoscooterfahrt passt, weshalb man es halt einfach kaum merkt. Ähnliche linke Propaganda ist zu finden in den Vorgängern „Arbeit Nervt“, „Illegale Fans“, „Krieg“ und vielen mehr. Nebenbei mutiert das fünfte Album Befehl von Ganz Oben zum ersten richtigen Verkaufsschlager, bis heute hat Deichkind mehr als 230.000 Platten davon verkauft—Platinstatus.

„Leider Geil“ (2012)

20.000.000 Klicks. 100.000+ verkaufte (!) Singles. 0 Reime. Leider geil.

„Ich hab’ eine Fahne“ feat. Da Bo (2014)

Hatte ich gerade linke Propaganda erwähnt? Zur Weltmeisterschaft, während du dir mit diesem beschissenen dreifarbigen Schminkstift die Wangen schwarz-rot-geil malst, veröffentlicht Deichkind einen Song, der ein riesiger Stinkefinger in Richtung aller nationalen Freundenräusche ist, mit einem Video, das ein noch größerer Stinkefinger in Richtung FIFA und der gesamten Weltmeisterschaft ist. Das Video kann man nicht mehr sehen, da die FIFA viel Geld für Anwälte hat, aber der Song ist nach wie vor Punk as Fuck.

„So 'ne Musik“ (2015)

Und alle nur so „yeeeeeaaah“. Was für ein Comeback-Track, düster-schleppender Bass, synapsenzerfetzende Synthies, und ein grandioser Drop.

Bestellt euch das neue Deichkind-Album Niveau Weshalb Warum hier. Niveau Weshalb Warum Tour 2015 20.04.15 CH-Zürich - Maag Event Hall
23.04.15 A-Graz - Stadthalle
24.04.15 A-Linz - TipsArena

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