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In Guantanamo wurde mit der Sesamstraßenmusik gefoltert

Musikfolter zerstört den letzten Zufluchtsort, den der Gefolterte noch hat: den Verstand.

Jeder kennt die Bilder aus Guantanamo Bay: Fotos von Gefangenen in orangenen Overalls und Fußfesseln, eingepfercht in Stacheldrahtkäfige gingen vor sieben Jahren um die Welt. Damals wurde nach und nach bekannt, dass in dem Gefangenenlager systematische Folter betrieben wurde—quasi im Keller der Nation, die sich die Einhaltung der Menschenrechte vor mehr als 200 Jahren in die Verfassung geschrieben hat. Waterboarding und Schlafentzug waren gängige Praktiken, um die Häftlinge gefügig zu machen, doch kaum einer weiß, dass auch Musik als Foltermethode benutzt wurde. Gefangene wurden stundenlang mit lauter Musik beschallt, um ihren Willen zu brechen. Besonders gerne wurde dabei die Musik aus der Sesamstraße verwendet, natürlich verzerrt und übersteuert, um die Geräusche so unerträglich wie möglich klingen zu lassen.

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Tristan Chytroschek, ein Dokumentarfilmer aus Hamburg, hat dieses Thema aufgegriffen und den Dokumentarfilm Musik als Waffe gedreht. Für den Film wurde er mit dem International Emmy Award ausgezeichnet. Wir haben uns mit ihm über Folter-Handbücher, Soldaten als Folter-DJs und James Hetfields Psychoaussagen unterhalten.

Noisey: Herr Chytroscheck, was genau passiert mit dem Körper und der Psyche, wenn man mit Musik gefoltert wird?
Tristan Chytroschek: Die unmittelbarste Auswirkung ist der Schlafentzug. Es kommt zu psychischen Ausfallerscheinungen, sodass man sich nicht konzentrieren und keinen klaren Gedanken fassen kann. Es geht aber soweit, dass physische Schäden davon getragen werden: Erhöhter Blutdruck, höheres Herzinfarktrisiko. Im Extremfall kann es auch zum Tod führen.

Bleibende Schäden können also vorkommen?
Bei einigen Gefangenen aus Guantanamo war das der Fall. Die psychischen Schäden sind so groß, dass die Menschen buchstäblich den Verstand verlieren und in jedem Fall in psychische Behandlung müssen.

Auf welche Arten wurden denn Gefangene mit Musik gefoltert?
Die CIA hat genaue Richtlinien dafür gegeben, wie man Gefangene mit Musik foltert, ohne dass sie bleibende Schäden davontragen sollen. Diese Richtlinien sind natürlich absurd, weil Menschen nun mal keine Maschinen sind, die man mit einem Handbuch steuern kann. Es gab eine große Bandbreite an Foltermethoden mit Musik: Zum Beispiel wurden die Gefangenen während eines Verhörs gefesselt und zwei Stunden lang durch einen Kopfhörer mit Musik beschallt. Die Intention war, eine Angstsituation herzustellen, weil die Häftlinge nicht wussten, was als nächstes passiert, ob sie vielleicht durch Schläge gefoltert werden.

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Die Medizinische Abteilung der CIA hat ein Dokument herausgegeben, wo die Richtlinie zu Verhörmethoden beschrieben werden. Menschenrechtsgruppen erstritten vor Gericht eine Veröffentlichung des Dokuments. Herr Chytroschek hat uns das Dokument zukommen lassen.

Auf Seite 152 des Dokuments stehen Richtlinien, wie lange ein Verhörter bei einer bestimmten Lautstärke mit Musik oder lauten Geräuschen beschallt werden darf:

Wurde Musikfolter also nur zu Verhörzwecken verwendet?
Nein. In Guantanamo gab es ein sogenanntes „Frequent Flyer Program“. Da wurden die Häftlinge nachts aus dem Schlaf gerissen und im Zweistundenrhytmus in andere Zellen verlegt, um ihnen den Schlaf zu rauben. Teil des Programms war es, die Gefangenen in einen dunklen Raum zu führen, der „The Disco“ hieß. Dort wurden sie in einer kauerartigen Position auf dem Boden gefesselt und stundenlang mit lauter Musik beschallt.

Warum haben die Gefängniswärter Musik zur Folter benutzt? Hätten laute Geräusche nicht den gleichen Effekt erzielt?
Die Frage haben wir einer Musikpsychologin gestellt. Musik ist wohl am effektivsten, weil das Gehirn Musik sehr schlecht ausblenden kann. Menschen, die an lauten Straßen wohnen, gewöhnen sich irgendwann an den Lärm. Das Gehirn kann das Geräusch irgendwann ausblenden. Bei Musik geht das nicht. Musik hat, ähnlich wie Sprache, Rhythmus und Melodie und unser Gehirn ist darauf programmiert, diese Laute wahrzunehmen.

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Musik ist ja eigentlich dazu da, Menschen Freude zu bereiten. Wir können uns Musik als Foltermethode wohl gar nicht vorstellen.
Einer der Gefangen, Moazzam Begg, hat später mal gesagt: Wenn man körperlich misshandelt wird, dann zieht man sich auf einen ganz kleinen Teil im Gehirn zurück. Was meinem Körper angetan wird, passiert nicht mit meinem Verstand. Mein Bewusstsein und meine Seele bleiben unangetastet. Doch dadurch, dass Musikfolter in das Gehirn eindringt, zerstört es den letzten Zufluchtsort, den der Gefolterte noch hat. Du versuchst, irgendeinen klaren Gedanken zu fassen, an etwas Schönes zu denken, doch du wirst nicht gelassen. Man hat ja keine Kontrolle darüber, wann die Musik einsetzt und aufhört. Wir können Musik irgendwann ausschalten, wenn wir keine Lust mehr drauf haben, Gefangene mussten stundenlang immer die gleiche ohrenbetäubende Musik hören.

Warum wurde ausgerechnet Sesamstraßenmusik zur Folter verwendet?
Man kennt das: Wenn man drei Mal hintereinander Rolf Zuckowski gehört hat, dann geht es einem einfach auf den Sack. Kinder lieben diese Musik, durch die Wiederholungen haben sie schnell etwas, an das sie sich erinnern können. Erwachsenen geht diese Musik schnell auf die Nerven. Musik aus der Sesamstraße zu verwenden war wahrscheinlich keine bewusste Entscheidung der CIA-Verhörspezialisten. Meistens wurden ja normale Soldaten mit der Musikfolter beauftragt. Die waren dann die „DJs“ und haben unter anderem Lieder aus der Sesamstraße gespielt, weil es ihnen als so nervig in Erinnerung geblieben ist, dass sie es den Gefangenen auch vorgespielt haben.

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Was sind das denn dann für Richtlinien der CIA, wenn jeder einfache Soldat das spielen kann, was er will?
Das ist ja das Problem an diesen Handbüchern, die man den Soldaten gibt. Das, was da geschrieben ist und wie sich die Realität letztlich darstellt, sind zwei verschiedene Paar Stiefel. Meistens haben die Soldaten die Musik gespielt, die sie selbst als Motivation empfunden haben. „Bodies“ von Drowning Pool galt im Irakkrieg als so etwas wie die Hymne unter den G.I.s. Und das Lied, das die Soldaten zum aufputschen verwendet haben, haben sie den Gefangenen vorgespielt, weil das natürlich auch ein Symbol von amerikanischer Kultur ist: Das ist unsere Rockmusik und wir beschallen euch mit dem, was wir gut finden. Die meisten Gefangenen kannten diese Musik ja nicht.

Wird die Beschallung der Häftlinge durch Musik in den USA überhaupt als Folter angesehen?
Als die Geschichte öffentlich wurde und Medien sie aufgegriffen haben, war die häufigste Reaktion: „What‘s the big deal?“. Wenn man die Fingernägel ausgerissen bekommt, dann ist das ja wohl schlimmer als paar Stunden lang laute Musik zu hören. Irgendwo stimmt das natürlich, aber die Leute unterschätzen, was für eine psychische Folter Musik anrichten kann.

Hatten Sie eigentlich Schwierigkeiten bei der Produktion ihres Films?
Bei der Einreise und bei den Drehs gab es keinerlei Schwierigkeiten. Problematisch war es, Interviewpartner zu finden, vor allem beim Militär. Es gibt einen Stützpunkt in North Carolina, wo sich nur mit psychologischer Kriegsführung beschäftigt wurde. Wir wollten da mit jemandem über den Einsatz von Musik in Kriegssituationen sprechen. Natürlich haben wir nicht gesagt, dass es um Musikfolter gehen wird. Obwohl das Interview sechs Monate vorher arrangiert wurde und wir schon am Eingangstor zu dem Stützpunkt standen, wurde uns vom Wachposten gesagt, dass das Interview nicht stattfinden wird.

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Haben sich eigentlich Künstler darüber beschwert, dass ihre Musik zu Folterzwecken verwendet wurde?
In der Regel haben die Musiker darüber geschwiegen, aber es gab ein paar Bands, wie Pearl Jam, R.E.M. oder Rage Against the Machine, die sich gegen diesen Gebrauch ihrer Musik ausgesprochen haben.

Aber Drowning Pool haben sich nie darüber beschwert, der Soundtrack zum Töten zu sein.
Nein. Viele hatten nicht dagegen. James Hetfield, der Frontmann von Metallica, war sogar stolz darauf.

Wirklich?
In einem Interview im 3sat macht er sogar Witze darüber. Später hat er sich nicht mehr darüber geäußert, weil es ziemlich negative Kritiken auf das Interview gab. Sie sollten es mal bei Youtube suchen.

Das werden wir machen. Herr Chytroscheck, vielen Dank für das Gespräch.

Hier haben wir das 3sat-Interview mit James Hetfield. Ab der 5-Minuten Marke lässt er zu dem Thema seinen Schwachsinn ab. Geht es nur uns so oder wirkt James wie ein ziemlicher Psychopath?

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