Bild: Screenshot RTG
Was ist das abscheulichste Video, das du je im Internet gesehen hast? Sicher wird dir etwas einfallen. Aber war es auch das ekelhafteste Video im ganzen Internet? Bestimmt nicht, da geht noch was. Willkommen in der Welt von Run The Gauntlet.
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RTG ist eine einfache Website, auf der eine Serie Videos abläuft. Allerdings kannst du erst zum nächsten Video springen, nachdem du das aktuelle Video überstanden hast—dann folgt ein schlimmeres. In der Sprache der Website heißt das: Das nächste Level. Es ist ein beabsichtigtes Crescendo der fetischisierten Gewalt und des bizarren Schocks—ein Nervenkitzel aus verwackelten Bildern und unvorhersehbarem, unmittelbarem und ungestelltem Horror. Inzwischen scheint der Erfolg der Seite selbst ihrem Schöpfer, der nur unter dem Kürzel G auftritt, unheimlich zu werden.
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Der USP der seit dem Frühjahr 2015 existierenden Website wird mit den „abscheulichsten, Kotzreiz verursachenden, am schwersten ertragbaren Videos des Internets” angegeben. Der Sinn der Plattform? „Nur für Bildungszwecke” natürlich.
Mal ganz abgesehen von der ethischen Fragwürdigkeit ist die Zurschaustellung von Menschen in entwürdigenden Situationen natürlich ein rechtliches Problem. Auch ältere Schockseiten wie Rotten.com (mit Tochterwebsites wie The Gaping Maw, Sports Dignity und Rate My Poo) mussten schon viele Unterlassungsklagen von Menschen einstecken, die plötzlich Bilder ihrer toten Verwandten als Freakshow für ein Publikum unbestimmter Größe auf der Website wiederfanden. Auch bei Run The Gauntlet werden Vorfälle in Videos gezeigt, die bereits eine Strafverfolgung nach sich zogen, wie ein mitgefilmter Mord der Serienkiller Dnepopetrowsk Maniacs.
Auch RTG erinnert an die Bildwelt von Gore-Seiten wie Rotten.com und die alten Tage des 90er-Filesharings, in denen sich groteske Videos und menschenverachtende Bilder gern mal auf weitergegebenen CD-Roms mit vermeintlich harmloser Software verbargen und kursierten. Die Grenze zum Snuff ist bei diesem voyeuristischen Extrem-Grusel manchmal fließend: Ausgeweidete Menschen und Tiere, schreckliche Unfälle in Nahaufnahme, Verwachsungen, Elefantitis, Exekutionen, entstellte Gesichter.
Run The Gauntlet—übersetzt heißt das Spießrutenlauf—geht noch weiter und macht eine „Challenge” daraus. Es beginnt harmlos mit zwei lachenden Frauen, die sich beim Armdrücken messen, bis urplötzlich ein Knochen bricht. Die Herausforderung besteht in nichts anderem, als sitzenzubleiben und hinzuschauen. Drückst du irgendwann auf den Stop-Button, fordert dich die Seite auf, deinen vermeintlichen Abgebrühtheits-Level mit deinen Freunden auf Social Media-Plattformen zu teilen—und dich beim nächsten Mal zu überbieten.
Die Idee hinter Run The Gauntlet war, dass du am Ende ‘alles gesehen hast’
Die Faszination an schockierenden Inhalten oder den perversen Spaß am Zusehen, wenn sich Menschen wehtun, kennen wir schon seit Bitte lächeln oder _Jackass_—nur nicht so pointiert auf die Gewaltspitze getrieben. Im Fall von RTG mag es auch der Wettbewerbsfaktor sein, der die Menschen vor dem Bildschirm kleben lässt. Zudem gibt es auf der Website von G kuratierte Publikumsvideos, in denen Zuschauer auf die Videos regieren, sich schmerzverzerrt zur Seite ducken oder ihren Schock weglachen. Durch diese Einblicke in die Gefühlswelt anderer wird noch einmal eine Pufferzone zum eigentlichen Inhalt eingebaut.
Auch ohne die Videos alle zu sehen, erlaubt die enorme Popularität der Seite in jedem Fall einen ziemlich tiefen Einblick in die menschliche Natur und ihrem Spaß am Leid anderer. Das sieht sogar der Erschaffer selbst ähnlich, wie er gegenüber dem Online-Magazin Daily Beast einräumte: „Ganz ehrlich”, sagt G, „es erschreckt mich ein bisschen, dass so viele Menschen total einverstanden sind mit dem, was sie sehen.”
Für die Materialsuche zeichnet sich der Webdesigner selbst verantwortlich. Die Idee einer Plattform aus graduell extremer werdenden Videos hatte ein Kunde bereits 2010, sagt G. „Die Idee war, dass du am Ende ‘alles gesehen hast’ und vermutlich desensibilisiert gegenüber allem bist, was du ab dann im Internet findest”, versucht er seine Motivation zu erklären.
Der Sinn der Plattform? „Nur für Bildungszwecke” natürlich…
Doch dann war der Backbone der Website fertig und der Kunde machte sich aus dem Staub. G, der von sich selbst behauptet, besonders empfindlich auf Gewalt gegen Tiere zu reagieren, drückte sich paar Jahre darum, selbst Content für die Seite auszugraben, machte es dann aber doch und trug selbst massiv zur Verbreitung von RTG bei: Nachdem er Messageboards wie 4chan und Reddit mit Links zu der Seite „zuspammte”, wie er zugibt, zieht das digitale Gruselkabinett seit dem Start im März 2015 mehrere Millionen Besucher aus der ganzen Welt an—die Lust am Schock und das Interesse an Gewalt und Düsterem scheint (Jahre nach Jackass und der von deutschen Suchmaschinen vorübergehend gefilterten Inhalte von rotten.com) nach wie vor riesig zu sein.
Auf Reddit gibt es dementsprechend ein gutes Dutzend Threads, in denen sich Nutzer engagiert bis manisch über das „allerschlimmste Video auf Gauntlet” austauschen. Manche der Filme werden durch erfahrene Connoisseure der ganz dunklen Seiten im Netz auch als vermeintlicher Fake gelistet, so wie der einer gefesselten, in der Badewanne ertrinkenden Frau, die selbst hartgesottenen Redditors Unbehagen bereitete.
Die Reaktionen auf die Videos reichen von Abscheu über angebliche Gleichgültigkeit bis hin zu purer Gewaltverherrlichung: „Das mit dem Kätzchen erinnert mich daran, wie ich mit elf oder zwölf Ratten mit dem Luftgewehr abgeknallt hab und drei dieser Bot-Fliegen krochen aus seinem Arsch, nachdem es schon tot war und kringelten sich auf dem Rasen vor mir”, teilt etwa einer aufgeregt mit. Andere fühlen sich nach den Gucken „deprimiert und schmutzig“; ein anderer fasst zusammen: „Hab’s bis Level 21 geschafft. Hasse mich selbst jetzt irgendwie dafür.”
Die vielleicht denkwürdigste Rechtfertigung auf die Frage, warum sich Menschen die verstörenden Bilder der Challenge überhaupt antun, stammt aber von einem Nutzer in einem Mixed Martial Arts-Forum: „Ich habe kaum Interesse daran, diesen Dreck zu sehen, aber manchmal teste ich die Grenzen meiner Menschlichkeit; nur um sicherzustellen, dass ich sie nicht verloren habe.”