Ich vermute, dass es den meisten Leuten schwer fällt, sich die Welt vor ihrer eigenen Existenz richtig vorzustellen. Wie soll man auch etwas vor seinem geistigen Auge abspielen lassen, das man nicht bewusst erlebt hat? Genauso habe ich als gebürtiger Waliser meine Schwierigkeiten, mir die Welt des Fußballs vor Ryan Giggs vorzustellen. Ich weiß natürlich, dass es diese Zeit gab—ich habe darüber Bücher gelesen und Videos gesehen. Trotzdem kann ich es nicht richtig fassen. Woher soll ich das auch können? Giggs hat es ja immer gegeben.
Diese Woche ist es 25 Jahre her, dass der Junge aus Cardiff bei Manchester United sein Debüt gefeiert hat. Am 2. März 1991 wurde der 17-Jährige gegen Everton eingewechselt. Der Startschuss für eine unfassbare Karriere, in der er mehr Titel gewonnen hat als jeder andere britische Fußballer.
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Der Tag, an dem seine United-Vorherrschaft beginnen sollte.
Giggs war in seinen besten Jahren ein unfassbar guter Kicker, doch auch noch Jahre nach seinem Zenit hat er weiterhin verdammt effektiv gespielt. Er war ein echter Weltklassefußballer mit atemberaubendem Tempo, unglaublicher Ballkontrolle und einem sagenhaften linken Fuß. Er war ein guter Vorbereiter, schoss aber auch selbst Tore (allein in der Premier League waren es 114). Er war der verlängerte Arm von Trainer Alex Ferguson.
Ich war vier Jahre alt, als Ferguson den Teenager zum ersten Mal auf den heiligen Rasen von Old Trafford losließ. Bis ich Fußball so richtig verstand, war Giggs schon zum „PFA Young Player of the Year” gewählt worden—und United englischer Meister. Er war der Dreh- und Angelpunkt seiner Mannschaft und hat seitdem nie mehr die Bühne verlassen.
Ein Dutzend Titel sollten folgen in den fast 1.000 Spielen für United, darunter auch ein paar Champions-League-Trophäen und ein Haufen persönlicher Auszeichnungen. Als er 2014 mit 40 Jahren zurücktrat, wurde Giggs Co-Trainer bei United. So wurde er auch Teil der wöchentlichen Tragikkomödie, die das Manchester United der Post-Ferguson-Ära seitdem abgibt.
Im Wales der 90er-Jahre war Giggs eine omnipräsente, wenn auch weitgehend wortlose Figur. Sein Bild prangte an einer Wand in meiner Oberschule, gleich neben der obskuren Botschaft, dass es wichtig sei, 1) regelmäßig zu üben und 2) Waliser zu sein. Ich erinnere mich noch daran, wie ein Klassenkamerad von mir in Tränen ausbrach, als das Gerücht die Runde machte, dass Giggs zu Inter wechseln könnte.
Gleichzeitig war er aber auch nie ein richtiger Nationalheld, vielleicht auch deswegen, weil er leider Fußball- statt Rugbystar war. Trotzdem hatte er in meinem Land Vorbildcharakter. Ich selbst habe Giggs nicht nur respektiert, sondern fast schon verehrt.
Während all dieser Zeit habe ich Giggs für das Paradebeispiel eines ziemlichen langweiligen Menschen gehalten, der irgendwie vorbestimmt war, Profifußballer zu werden: unfassbar talentiert auf dem Platz, aber daneben einsilbig und frei von Charisma. Schaut euch einfach eines seiner unzähligen Interviews an und versucht mir zu erklären, welchen Mehrwert ihr davon habt. Richtig, keinen. Giggs hat sich mit Zidane, Messi, beiden Ronaldos, Puyol, Maldini und Buffon gemessen, hat dazu aber rein nichts zu sagen. „Natürlich ist es eine Ehre, gegen Spieler von dieser Qualität anzutreten, aber am Ende versuchen wir nur, unser Spiel zu spielen.”
Auch über sein Privatleben schien man nicht viel berichten zu können. Er wirkte wie einer von diesen Fußballern, deren Existenz neben dem Platz so spannend wie seine Interviews sind. Wir hatten gehört, dass er Frau und Kinder hatte, so wie man auch hört, dass der Postbote Frau und Kinder haben soll.
Gegen diese Langweile hatte ich natürlich nichts einzuwenden, er hatte jedes Recht der Welt, langweilig zu sein, solange er auf dem Platz für die besonderen Momente sorgte. Ich hätte ihn wahrscheinlich auch gar nicht anders gewollt. Wir sind doch beide Waliser.
2011 ging dann die Bombe hoch. Es stellte sich heraus, dass Giggs’ Privatleben nicht nur nicht langweilig war, sondern dass er sogar ein verdammt perfides Doppelleben führte. Hauptdarstellerin Nummer eins: das „Big Brother”-Sternchen Imogen Thomas, mit der Giggs ein siebenmonatiges Techtelmechtel hatte.
Was Hauptdarstellerin Nummer zwei betrifft, lassen wir einfach Giggs’ Vater, Danny Wilson, zu Wort kommen: „Ich kann mir nicht vorstellen, wie ihm seine Mitspieler nach all dem, was er seinem Bruder angetan hat, wieder vertrauen können.” Richtig geschlossen: Giggs hatte tatsächlich eine Affäre mit der Frau seines eigenes Bruders. Eine Affäre, die acht Jahre lang ging.
Obwohl ich nicht glaube, dass Wilsons Äußerung zutrifft. Fußballer scheinen offensichtlich in der Lage zu sein, sich unterschiedlichen Moralkodexen verschrieben zu fühlen. Einer für das Privatleben, einer für die Fußballkarriere. Aus demselben Grund konnte John Terry auch mit der Partnerin eines Mitspielers eine Affäre haben, gleichzeitig aber der bestmögliche Kapitän für Chelsea sein. Kapitän, Leader, Legende. Für „unmoralisches Arschloch” ist da auf Bannern kein Platz.
Sollten wir das ändern? Sollten wir Fußballer losgelöst von ihrem Privatleben sehen, oder sollten wir sie auch an dem, was sie außerhalb des Platzes anstellen, messen? Ich kann mir ehrlich gesagt nicht vorstellen, dass United-Fans—mit Ausnahme ganz unterwürfiger—Giggs mit denselben Augen ansehen wie vor dem Bekanntwerden seiner Affären. Wir können das nicht ändern. Wie Ryan Giggs sind auch wir Fans nur Menschen.
Es gibt übrigens einen Grund dafür, dass ich in diesem Giggs-Jubiläumsbeitrag auf sein Privatleben zu sprechen komme. Denn aufgrund seiner walisischen Omnipräsenz sollte es keinen Spieler geben, den ich besser kenne als ihn. Er sollte bei mir ein Gefühl von Vertrautheit, gar von Zuneigung für all seine Großtaten auslösen. OK, über die Zuneigung kann man wegen seiner persönlichen Verfehlungen vielleicht streiten, aber zumindest müsste doch das Gefühl da sein, den Kerl in seinen Grundzügen zu verstehen.
Doch obwohl ich Hunderte Interviews von Giggs gesehen habe und mittlerweile mehr über sein Privatleben weiß, als mir lieb ist, habe ich das Gefühl, nichts über den Mann zu wissen. Sein Leben wurde komplett offengelegt und seziert, trotzdem kommt er mir wie ein Fremder vor. Ich habe nicht den Eindruck, ihn heute besser zu kennen als den Teenager, der vor einem Viertel Jahrhundert einen verletzten Denis Irwin im Spiel gegen Everton ersetzt hat. Wenn ich ihn heute neben Van Gaal sitzen sehe, denke ich sofort, ach der Giggs. Bis mir klar wird, dass ich diesen Mann nicht kenne.
Wahrscheinlich geht das aber auch gar nicht anders. Denn genauso wie unser Geist nicht für die Zeit vor unserer Existenz geschaffen ist, ist er auch nicht dazu bestimmt, ein so komplexes und widersprüchliches Wesen wie Ryan Giggs zu verstehen.