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Wir haben Zürchern das Argovia-Fäscht gezeigt

Nach ein paar Stunden Gewaltandrohungen, Penisgläsern und Sombreros hatten wir dann aber alle genug.

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Wie ich mich auf diesen Tag gefreut habe: Letztes Jahr habe ich gemeinsam mit einem anderen Exil-Aargauer das Argovia-Fäscht besucht. Und obwohl in Bild und Text festgehalten wurde, warum ich an dem Tag gerne gestorben wäre—so richtig geglaubt haben es die Leute im Büro nicht. Dieses Jahr sollten sie den Abgrund auch erleben. Erst habe ich einen Mitarbeiterausflug ausgerufen, am Ende machten dann nur zwei Zürcher den Weg in den Aargau. Diese Zwei litten dafür richtig und den Erdbeer-Margharita-Pegel, der den Schmerz stillen könnte, konnten sie weder erreichen noch definieren. „S wär nie besser worde as es jtz gsi isch" war das Mantra, das die Zürcher schon auf dem Fussmarsch über die Feldwege aufgesagt hatten.

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Schon auf dem Hinweg fragt sich Till, ob es nicht zu provokant ist, das T-Shirt mit der Aufschrift „Züri-Chind" zu tragen. Denn einerseits fasziniert ihn die ewige Wand aus Wegrand-Pissern, andererseits ist ihm in den wenigen Minuten am Bahnhof Brugg schon mit Schlägen gedroht worden. Ungern lasse ich die zwei Zürcher (der andere ist medienscheu) also bei der Tageskarten-Kasse alleine und geh alleine vor. Während die anderen anstehen, erlebe ich die letzten Minuten vom Müslüm-Konzert und damit auch das absurde Szenario, dass zehntausende Aargauer den Refrain „Ich bin dr Sami-chlaus. Und schaffe all die Schwarze Schööfli auus." mitsingen. Als ich rumfrage, ob sie denn gegen die Ausschaffungsinitiative waren, wollen alle den Song unabhängig davon verstanden haben.

Als die Zürcher drin sind, bereuen sie ihre Anwesenheit. Ich freue mich sehr und frage regelmässig nach, ob sie denn wirklich Spass haben. Trotzdem finden sie sich damit ab, einen Tag lang Embedded Aargauer zu sein und obwohl ich das persönlich anders beurteile, bestätigen Fäscht-Besucher „Das isch de place-to-be zum de Aargau kennezlehre". Auch beobachte ich eine gewisse Verwandlung: Als Till einen seiner ersten Wodka Redbulls bestellt, reagiert er noch schockiert auf die Frage „Weli Farb Wodka wötsch?" (Meine Empfehlung zum optimalen Kulturaustausch, Pink Wodka zu bestellen, wird ignoriert.) Als Till ein paar Stunden und Drinks später zwei Riesen-Drinks in einem Becher aus Spritzkannen-Plastik bestellt, während der zweite Zürcher 40 Minuten (40 Minuten!) am Bankomaten-Lieferwagen ansteht, verschluckt sich sein „Es sind Erdbeer-Margaritas!" fast in hämischer Freude.

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Auf eine Art ist es also ein spassiger Tag: Peoplewatching und Fremdschämen können sehr befriedigend sein. Aber immer wieder tun sich Abgründe auf, die ernsthaft an meiner nicht sonderlich ausgeprägten Aargauer Identität nagen und die cluberfahrenen Zürcher grenzenlos schockieren. Als wir an der Coyote Ugly-Bar für Drinks anstehen, sind die beiden Polostangen noch leer, aber bald sind zwei, drei Mädchen und ein dicker Junge dort (letzterer kommentiert meine Kamera mit „Bisch du vo Tillate? Vo wa süsch? Oder wötsch wichse ab mine Bilder?"). Das schockiert Till zwar schon („Ich gseh ihri Spangene! Sie hend Zahnspangene! Sie sind höchstens 14."), allerdings ist das noch der harmlose Part. Ehrlich angewidert sind wir dann als wir von oben eine Stimme hören. „Hopp ufe ad Stange! Hopp! Ad Stange!" schreit ein etwa 50-Jähriger Rosschwanzträger vom Mischpult. Und ein Siebenjähriger steht neben ihm.

Als wir uns wegdrehen, will uns jemand, der das geschmacklose Event „Junggesellenabschied" am richtigen Ort feiert, Shotgläser in Penisform verkaufen. Seine Krämertätigkeit wird aber von einem Typen unterbrochen, der sich dazwischen drängt und ausruft „Was hesch do? Gummis chani nid bruche, weisch. Sie wod nur ohni!" Armer Till—ich freue mich sehr.

Ich halte Till dazu an, das Gespräch mit Aargauern oder solchen, die er dafür hält, zu suchen und ich habe die kindliche Freude geliebt, als er einem Kiffer im Wu Tang-T-Shirt etwa drei Minuten lang Albentitel aufgezählt hat (gefolgt von der Enttäuschung, als dieser auf den Redeschwall nur antwortete, dass ihm das Hip-hop-Lineup hier gefällt). Aber irgendwann haben wir uns bewusst dazu entschieden, keine Männer mehr anzusprechen, denn manchmal wurde das blosse Schauen als Provokation gewertet, teilweise ballten sich die Fäuste schon, wenn Till zum Sprechen ansetzte und ein Typ mit glasigen Augen wollte mir die Kamera wegreissen. Tills Fazit zum hiesigen Aggressionspotenzial: „Im Züri-Usgang chunt bi jedem Stress immer de Punkt, wo sich d Lüüt froge, ob sie die Schlegi würklich wend. Im Aargau muesch du alles denke selber übernäh."

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Der Typ wollte uns schlagen. Wir wollen keine Prügel und verkritzeln darum seine Augen.

In der Schlange vom Chnoblibrotstand höre ich ein Gespräch von zwei Teenies mit: „Oh, mir sind so dumm! 50 Franke länge eifach nid. Me hätte de Hunderter sölle mitnä …" „Mega! Mer sind so dumm." „I mein: Es isch eifach nid wie susch Usgang … Wil du besch zwölf Stund do. Du bisch hald zwölf Stund do. Und du muesch ässe, du muesch trinke." Zwölf—Zwölf Stunden! Ich kann das nicht glauben und frage nach. Sie sind stolz und antworten „Jo eh. Vom Zwei bis am Zwei!"

Bei einem der zahlreichen Gänge zum Pissoir—vorbei an Männern, die neben dem Pissoir an die Vergitterung seichen—werde ich als Hipster beschimpft. Und zum ersten Mal fühle ich mich von dieser Beleidigung geschmeichelt. Nein, meine Freunde rempeln mich nicht von hinten an, während ich am Pissoir stehe und fragen dabei nach, „ob ich mis Münz us em Pissloch mues usegrüble". Langsam haben wir genug. Es gibt keine Substanz, die den Anlass angenehmer gestalten könnte.

Als ich Till zurufe, dass da jemand einen Riesenjoint baut, antwortet der 15-Jährige von seinem Dreh-Plätzchen am Boden aus: „Amphii! Amphi! Hesch mer Amphi?!" Wir laufen keine zehn Meter weiter und ein weiterer Teenie torkelt rückwärts aus der Menge, bleibt am Boden liegen, zehn Sekunden, zwanzig Sekunden. Ich schiesse ein Foto und plötzlich steht er wieder auf: „Bitte nid online poste! Bitte nid poste! Ich bi Profisportler, Handball-Nachwuchsnati. Sie schmeisse mi usem Team. Bitte! Bitte nid." Ja, das Argovia-Fäscht ist kein Platz für Menschen, aber das Argovia-Fäscht ist eigentlich auch kein Platz für Teenies, die hier eingegittert ihre komplette Menschlichkeit abwerfen.

Wir stehen noch eine Weile in der Menge vor der Bühne, sehen Cro halbherzig bis ironisch rufen: „Auja … Argovia—ihr seid … Geil." Till will weg. Ich will weg. Der zweite Zürcher will weg. Wir haben Stalldrang nach Zivilisation (bzw. Ausgang, in dem wir uns selbst gehen lassen können). Richtig „giigerig" (Vokabular dem Anlass angepasst) steht Till in der Schlange für den Shuttlebus an. „Zrugg nach Züri, eifach zrugg nach Zürich", antwortet er—und das ist wahr!—als er gefragt wird, in welche Aargauer Stadt er denn mit dem Shuttle fahren will. Sie verkaufen ihm Tickets nach Baden und dieser Bus fährt erst in einer Stunde. Gnädigerweise lässt uns der Fahrer auch in den schnellsten Bus nach Brugg. Gott existiert.

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