Fotos und Standbilder von Pawo Choyning Dorji
Als Khyentse Norbu an der Filmhochschule war, trug er Hosen. Er freundete sich gern mit Leuten an, die mit dem Buddhismus nichts anfangen konnten. Er stritt sich gern mit ihnen. Und er mochte es, dass sie ihn ohne Ehrfurcht behandelten.
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Es war 1994. Norbu war Anfang 30 und besuchte die New York Film Academy. Der Kurs war intensiv: In drei Wochen sollte man den Umgang mit einer 16-Millimeter-Kamera und das Schneiden lernen. Der Unterricht fing früh an und endete spät. Die Hosen, die er trug ersetzten seine traditionelle purpurne Mönchsrobe. Ein nicht buddhistischer Freund, der Wallace Shawn ähnelte, kam jeden Tag, sobald der Unterricht zu Ende war, vorbei. Manchmal war „Wally“ schon da, bevor Norbu vom Unterricht zurückkam, und hing dann einfach in der Eigentumswohnung ab, die Norbu sich ausgeliehen hatte—sie war die Zweitwohnung eines seiner buddhistischen Schüler. Norbu war also den ganzen Tag lang bei seinem Kurs und wenn er nach Hause kam, war Wally schon da, um mit ihm zu streiten.
Außerdem reiste noch eine Strafverteidigerin aus Louisiana mit Norbu durch die Gegend—ebenfalls eine Schülerin von ihm. Sie schlief auf der Couch. Ab und zu schrieb sie seine Hausarbeiten. Vor allem aber schaute sie den ganzen Tag lang fern und rauchte Zigaretten. Und dann war da noch ich. Ich war 18. Obwohl ich als Buddhistin aufgewachsen war, hatte ich damals beschlossen, keine zu sein. Ich war da, um mir ein paar Colleges anzusehen, und hatte gefragt, ob ich auf der Couch schlafen könne. Da es sich um eine große Couchgarnitur handelte, sagte Norbu: „OK.“
Da war nun also dieser berühmte bhutanische Lama, in Hosen, an der Filmhochschule, und wir hatten es ungefähr 6 Uhr abends. Bei ihm waren Wally der Skeptiker, die fernsehglotzende Strafverteidigerin und ich. Ich hatte mir gerade in einem Friseursalon, von dem ich in der Vogue gelesen hatte, für 400 Dollar meine Haare abschneiden lassen. Sie hatten mir einen konservativen Kurzhaarschnitt verpasst, dabei hatte ich einen rasierten Kopf gewollt. Die Strafverteidigerin und Wally gingen sich aus Gründen, an die ich mich nicht erinnere, an die Gurgel. Es war einer der verrücktesten Streite, die ich je erlebt habe. „Du bist nur eine alte, dicke Frau“, sagte Wally, und die Strafverteidigerin schoss zurück: „Du bist ein kleiner, glatzköpfiger Mann!“ Der Streit war laut und lang, es ging in hohem Tempo hin und her, und aus irgendwelchen Gründen kletterte ich auf das Fenstersims und begann zu weinen. In diese Szene platzte Norbu hinein.
Er fing an zu lachen. Er lief um seinen Kassettenrekorder zu holen und rannte damit hin und her, damit ihm nichts von dem, was seine wütenden, brüllenden Schüler sagten, entging.
20 Jahre später, im Februar 2014, saß Norbu um 9 Uhr morgens auf einem Kissen im Kalachaya Cultural Center in Pune, Indien. Das Kissen lag auf einer Bühne, die sich etwas vom Boden abhob. Im Publikum saßen 75 Leuten, vor allem indische Collegestudenten und Akademiker. Es war der erste Tag eines Seminars über das Werk Eintritt in das Leben zur Erleuchtung des indischen Philosophen Shantideva, der im 8. Jahrhundert gelebt hatte.
Norbu hatte die Grippe. Seine Assistentin sprang auf die Bühne. Die junge Inderin, die ein türkisfarbenes langes Hemd und rote Salwar-Hosen aus Baumwolle trug, goss ihm ein Glas Wasser ein und hüpfte dann auf die andere Seite, um ihm ein paar homöopathische Pillen zu reichen. Er kippte sich die Pillen in den Mund, hustete und sah sich um.
Nachdem er sich beim Rektor des Colleges für die Einführung bedankt hatte, stellt er sich mit ein paar Worten vor. Er war ein buddhistischer Rinpoche, der an einem College lehrte. Er würdigte den bescheidenen Schrein, den man auf der Bühne errichtet hatte, und sagte: „Ich habe in London studiert und dort Erfahrungen mit Buddhismuskunde gemacht. Jahre später bekam ich die Gelegenheit, ein Semester lang buddhistische Philosophie in Oxford zu unterrichten. Aus irgendeinem Grund haben auch wir in Indien und ganz Asien die Haltung übernommen, uralte Weisheiten im Kontext dessen zu studieren, was man Objektivität nennt. Die ganzen Formen und Rituale—die Blumen, Räucherstäbchen, Statuen und all das—sind der akademischen Welt daher wohl ein bisschen fremd. Es ist in der Tat wichtig zu wissen, dass vor 2.500 Jahren Buddha eine der wenigen Persönlichkeiten war, die Wert auf kritisches Denken und eine kritische Auseinandersetzung mit den Schriften legte. Er sagte selbst, man solle seine Lehren niemals einfach so übernehmen, sondern sie analysieren und überdenken, und wenn man sie dann als gut erachte, solle man ihren Weg einschlagen.“
Er schlug vor, dass die Wissenschaftler im Publikum die Räucherstäbchen und Blumen als eine „Studie und einen analytischen Fall“ betrachten. Er ging noch etwas auf den geschichtlichen Hintergrund von Shantidevas Text ein und fing dann an, ihn Satz für Satz durchzugehen. Er begann mit den ersten Worten: „Ehrerbietung allen Buddhas und Bodhisattvas.“
Er sagte: „Die Geste der Ehrerbietung weist auf die Bescheidenheit des Autoren hin, aber in diesem besonderen Fall verkörpert der Vers über die Ehrerbietung das, zu dem wir aufschauen, unser Vorbild; das, was wir erreichen wollen.“
Er ging das erste Kapitel durch: 36 vierzeilige Verse. Er rezitierte jeden Vers auf Tibetisch, bevor er ihn auf Englisch vorlas. Dann besprach er seine Bedeutung, was ihn oft vom Thema abführte und ihm Geschichten in Erinnerung rief. Bei diesem Tempo brauchten wir für 144 Verszeilen ungefähr sieben Stunden. Dabei sagte er ständig: „Das handele ich ganz schnell ab.“
Norbu wurde 1961 im östlichen Bhutan geboren. Sein Vater war ein tibetischer Flüchtling, seine Mutter Bhutanerin. Sie hatten nicht viel Geld. Als Norbu sieben war, wurde er als Reinkarnation des Lamas Jamyang Khyentse Chökyi Lodrö anerkannt. Sein wichtigster spiritueller Lehrer, Kyabje Dilgo Khyentse Rinpoche, begleitete ihn von seinem Elternhaus in ein Kloster in Sikkim, Indien, wo seine Ausbildung begann.
In dem Zimmer, in dem Norbu als kleiner Junge in Sikkim lebte, sieht man noch immer seine Kratzspuren in der Wand. Er hatte Wutanfälle und zerkratzte die Wände, weil er kein Lama werden wollte. Als er elf Jahre alt war, reiste Norbu mit seinem Mentor umher und erhielt Unterweisungen und Dharma-Übertragungen. Norbu hatte kein Geld, daher bat seine Aufsichtsperson, eine buddhistische Nonne aus dem Westen, Ani Jinba Palmo, darum, dabei zu helfen, Gelder für seine Unterrichtsgebühren zu sammeln. Palmo ist Wissenschaftlerin und Übersetzerin und zudem die Autorin einer Biografie eines des größten tibetischen buddhistischen Lehrers dieses Jahrhunderts.
Sie erläuterte: „Ich hatte kaum Geld und keine Ahnung vom Spendensammeln. Damals waren alle so arm, dass wir nicht mal Geld hatten, uns Aufnahmegeräte zu besorgen. Deshalb sind so viele kostbare Unterweisungen verloren—keiner hatte Geld.“
Laut Palmo bekam Norbus spiritueller Lehrer etwas Geld und etwas Land und übergab beides an Norbu. Von dem Geld wurde seine Ausbildung am Sakya College in Rajpur finanziert, einem klösterlichen Ausbildungszentrum.
Norbus Darstellung dieser Zeit schwankt. Mal sagt er, er habe im Schein von Butterlampen gelesen. Mal behauptet er, er habe seine gesamte Zeit damit verbracht, Tim und Struppi-Comics zu lesen und sich ins Kino davonzuschleichen. Aber Palmo sagt, er sei sehr ernsthaft bei der Sache gewesen, habe immerzu gelernt und Fragen gestellt. Ich fragte Palmo für diesen Artikel nach Norbu, und sie schrieb mir von einigen Dingen, an die sie sich erinnern konnte. Sie schrieb: „In den späten 80ern besuchte [der Endzwanziger Norbu] mich einmal in Holland. Ich glaube, er war vorher noch nie da gewesen. Er wollte sich vor allem das Rotlichtviertel in Amsterdam ansehen, also verbrachten wir dort einen ganzen Abend, an dem er versuchte, mich in eine Live-Sex-Show zu ziehen. Er verbrachte einen Nachmittag damit, eine wunderschöne Ton[figur] für mich zu machen. Sie steht noch immer auf meinem Schrein.“
Ein Standbild aus Vara: A Blessing von Pawo Choyning Dorji
Kurz nachdem VICE mich darum gebeten hatte, ein Porträt über den spirituellen Lehrer zu schreiben, fuhren mein Ehemann und ich auf einer Fernstraße. Er las gerade Patrul Rinpoches Buch Die Worte meines vollendeten Lehrers und sagte: „Weißt du, ich glaube, wenn ich mir den vollendeten Lehrer für mich vorstelle, wäre er philosophisch, intelligent, kreativ … Ich denke, er wäre genau wie Norbu.“
„Das denke ich auch“, sagte ich.
Er sagte: „Der Titel, Die Worte meines vollendeten Lehrers, klang für mich immer nach einer asiatischen Formalität. Ich hab mir nie Gedanken um die Bedeutung gemacht oder begriffen, dass es persönlich gemeint ist. Dass er wirklich den vollendeten Lehrer gefunden hatte.“
Ich lernte Norbu kennen, als ich elf war. Meine Freundin Claudia, ebenfalls elf, und ich fuhren mit ihm und einer Gruppe von Lamas im Sommer 1987 durch die Gegend. Als er zwei Jahre später wieder in die USA kam, bat ich ihn darum, mein spiritueller Lehrer zu sein. Doch er lehnte es ab, mit den Worten: „Du bist jung und du solltest jung sein.“
Als ich in New York aufs Barnard-College ging, lernte ich nihilistische Philosophen kennen und dachte: Oh, das ist toll. Ich kann all die Weisheiten des Buddhismus haben, ohne die Buddhisten. Meinen New Yorker Freunden schien es irgendwie Angst einzujagen, wenn ich erzählte, dass ich als Buddhistin aufgewachsen war; sie fanden es abgedroschen. Ich dachte: Ich kann normal rüberkommen.
Zwölf Jahre später, als ich bei The Onion arbeitete, kaufte mir eine Freundin Tickets für eine Premieren-Vorführung von Norbus zweitem Film, Von Reisenden und Magiern. Sie trickste mich aus, indem sie ihre Tochter für eine Woche allein zu mir schickte und mir erst, als sie bei mir angekommen war, sagte, dass sie uns zwei Tickets gekauft hatte. Ich kannte ihre Tochter seit sie ein Baby war, also konnte ich schlecht sagen: „Geh du mal ruhig zum allersten Mal ganz allein in New York City ins Kino, ich bleib hier und schmolle.“ Ich dachte mir: Diese Buddhisten spinnen total, und ging hin. Als ich Norbu sah, erinnerte ich mich wieder daran, wie er ist: gütig, normal, liebenswürdig und einfach. Und daher wollte ich ihn wieder kennenlernen.
Auf dem Empfang nach dem Film ging ich, nachdem ich sechs Gläser Wein getrunken hatte, auf ihn zu. Ich schlug ihm auf den Arm und sagte, ich wolle mit ihm reden. Ich fand, es war an der Zeit, ihm zu sagen, dass er eine große Mogelpackung ist. Ich dachte, das müsste ihm mal einer sagen. Er sagte: „OK.“ Obwohl ich betrunken war, zog ich den Schwanz ein und sagte: „Ich gebe dir meine E-Mail-Adresse.“
Ungefähr zwei Monate später schrieb er mir eine kurze E-Mail. Ich erhielt sie, nachdem ich einen ganzen Nachmittag lang im Meer geschwommen war. Er lud mich nach Indien ein, um dort für eine Woche an einem drupchen, einer intensiven Gruppenübung, teilzunehmen, und schlug vor, dass ich danach noch ein paar Monate in Indien bleiben sollte.
In Indien bat mich Norbu am dritten oder vierten Tag der Zeremonie darum, das Manuskript seines ersten Buches What Makes You Not a Buddhist Korrektur zu lesen. Das Buch handelt von den Vier Siegeln.
- Alle Produkte sind unbeständig.
Alles Befleckte ist leidhaft.
Alle Phänomene sind leer und ohne Selbst.
Nirvana ist Frieden, das endgültige Glück.
Das Buch ist einfach geschrieben, fast im Plauderton, aber legt meisterhaft die grundlegende Philosophie des Buddhismus dar, ohne jedes religiöse oder Guru-Gerede. Im Kern sagt er, wenn man an diese vier Dinge glaubt, ist man nicht kein Buddhist. Man mag sich vielleicht nicht als solcher bezeichnen, aber man folgt zumindest denselben Regeln wie der Buddha. Als ich das Manuskript ungefähr zur Hälfte durch hatte, erkannte ich, dass ich Buddhistin war und niemals aufgehört hatte, eine zu sein.
Es war der Nachmittag des zweiten Tages von Norbus Unterweisung in Pune und er hatte gerade seine Erörterung des ersten Kapitels von Eintritt in das Leben zur Erleuchtung beendet.
Er sagte: „Dies ist etwas, was ich nicht zu erwähnen brauche. Der Zweck des Pfades ist, der Verblendung zu entkommen. Frei von Verblendung zu sein ist das, was man Nirvana nennt, so einfach ist das. Wenn wir über Verblendung sprechen, meinen wir nicht irgendein mystisches, angeborenes Böses oder ein äußerlich existierendes Geschöpf oder Problem. Wir reden hier sozusagen von einer falschen Idee, oder einer falschen Angewohnheit. Und von denen gibt es viele …“
Er wollte wissen, ob jemand Fragen hat.
Eine Frau hob die Hand. Sie fragte, wie sie jemals nach bodhicitta streben könne, dem Wunsch, alle fühlenden Wesen zu erleuchten. Sie sagte, wenn sie sehe, wie sich Menschen verhielten, könne sie sich nicht vorstellen, dass es ihr möglich sei, auch nur einer Person zu helfen. Sie sagte, das wäre in einer Ewigkeit nicht zu vollbringen.
Norbu sagte: „Nun, Buddhisten glauben nicht wirklich daran, dass es so etwas wie Ewigkeit gibt. Ewigkeit ist ein Konzept, stimmt’s? Denn wenn wir von Ewigkeit sprechen, meinen wir normalerweise etwas, was ganz, ganz lange dauert. Das ist so ungefähr alles, an was wir dabei denken.“
Er verwies auf ein bestimmtes Sutra und fasste es dann folgendermaßen zusammen: „Ein Bodhisattva und der Buddha diskutieren miteinander. Der Bodhisattva kommt und sagt, er sei so müde, dass er diese ganzen Bodhisattva-Dinge nicht mehr länger tun könne … Um auch nur ein fühlendes Wesen zu befreien, brauche es grenzenlose emotionale Anstrengungen. Schon allein ein fühlendes Wesen erschöpfe ihn.
Also gab ihm Buddha folgendes Beispiel: Sagen wir, eine Mutter träumt davon, dass ihr Kind bei einem heftigen Tsunami ums Leben kommt. Sie würde alles tun, um ihr Kind zu retten, und während sie es rettet, fühlt sich jede Sekunde an wie Stunden oder Jahre. Dann wacht die Mutter auf und ihr Kind schläft friedlich in ihren Armen.
So sind die Dinge. Von dem Moment, wenn ein Wesen den Bodhisattva-Eid ablegt, über die Bodhisattva-Ausbildung, die er erhält, bis er dann endlich das erreicht, was wir die zehnte bhumi nennen, vergeht eine sehr lange Zeit, ungefähr drei zahllose Äonen. Was sagt der Buddha zu dem Bodhisattva, der sich darüber beschwert, dass es so lange dauert? Er sagt, wenn der Bodhisattva die zehnte bhumi erreicht, dauern drei zahllose Äonen so lange, wie ein Funke braucht, um vom Feuer zu springen. Zeit ist also vollkommen relativ. Ja, es ist ein Prozess, ein Pfad. Aber Dauer, Zeit, Kontinuität—all das existiert in Wirklichkeit nicht. Beantworte ich damit deine Frage? OK.“
Ein Standbild aus Vara: A Blessing
Maggie Westhaver, eine von Norbus Schülerinnen, schrieb mir über seine Zeit in London. Eine aus Hongkong stammende Schülerin von Norbu hatte Kontakte zu Immobilienfirmen in London. Sie fand eine Zweizimmerwohnung in der Nähe von Bayswater und mietete sie für Norbu. Phuntsok Tobgyal war Norbus Begleiter und lernte in einer Autowerkstatt in der Nähe etwas über die Instandhaltung von Toyotafahrzeugen. Norbu ergatterte sich einen Job, bei dem er Flyer verteilen musste, und er meinte, an einer Straßenecke herumzustehen sei eine gute Erfahrung. Er war 29, sein Begleiter war 18.
Norbu lud Westhaver dazu ein, drei Monate bei ihm zu verbringen. Manchmal nahm sie Telefonate entgegen, aber sie hatte keine anderen zugeteilten Aufgaben. Sie lebte in einer kleinen Wohnung in Notting Hill, ganz in seiner Nähe, also widmete sie sich jeden Morgen ihren Ngöndro-Praktiken (die ersten und grundlegenden Meditations-Praktiken, die ein Buddhist vollzieht), bis Norbu gegen 2 Uhr nachmittags von der Schule nach Hause kam. Norbu ging mit seinen Studenten (Westhaver und vier weiteren) essen. Einmal versuchte ein Jugendlicher, ihm den Geldbeutel zu klauen. Norbu nahm die Hand des Jungen, und der Junge sagte: „Ich habe Hunger.“ Norbu erwiderte: „Du könntest einfach fragen.“
Er war vermutlich in London, um Englisch zu lernen. Er fing in einer Schule an und wechselte dann auf eine andere in der Nähe des Russell Square. Er hing mit Freunden aus seiner Schule ab und nannte sich Lawrence oder Larry. Einmal kam eine Gruppe von Freunden zu ihm zu Besuch. Sie wussten nicht, dass er ein Lama war. Jemand fragte nach Tee und einer seiner Schüler—der wusste, dass er ein Lama war—sagte:
„Larry könnte uns doch einen machen.“
Norbu ging in die Küche. Ein paar Minuten später bat er um Hilfe. Er hatte noch nie zuvor eine Tasse Tee gemacht. Er wusste nicht, wie das ging.
Norbu fotografierte gerne Leute. Sein Schreibtisch, gleichzeitig auch sein Schrein, war immer in großer Unordnung und Westhaver wollte ihn gerne aufräumen, aber sie wagte es nicht, alles durcheinanderzubringen. Er begann, eine Brille mit Fensterglas-Gläsern zu tragen. Es war 1990, ein Weltmeisterschaftsjahr, und Norbu war und ist ein großer Fußball-Fan. Der Fernseher lief ununterbrochen und Norbu und der europäische Sangha schienen sich in einem Glückszustand zu befinden. „Italien muss im Finale gewesen sein, denn wochenlang hörte man in London nichts außer Pavarottis Lied zur WM“, sagte Westerhaver. Norbu hatte in der Nähe eine Videothek entdeckt, aus der er jeden Tag stapelweise schlechte Filme ankarrte. Sie sahen sich zudem auch jede Menge grottiger Filme im Kino an, wobei Westerhaver schrieb: „Ich lernte in jenem Sommer das Kino Pedro Almodóvars kennen, von dem ich seitdem ein großer Fan bin.“
Eines Tages klingelte es an der Tür. Norbu schmiss daraufhin all seine Schüler raus und wies sie an, in den privaten Park auf der gegenüberliegenden Straßenseite zu gehen, der zu dem Gebäude gehörte, in dem er lebte. Westhaver schrieb: „ Ich glaube, außer mir waren das Ruth, Indra und eventuell Phuntsok. Wir wurden für 30 bis 45 Minuten vor die Tür gesetzt. Die Tür ging auf und es spazierten zwei Filmleute herein, die zum Team von Bernardo Bertolucci gehörten. Die Frau war tadellos gekleidet, sie trug einen unglaublichen Anzug und tolle Schuhe. Ich weiß nicht mehr, was Norbu zu uns sagte, als sie gegangen waren, oder ob er überhaupt etwas sagte.“
Kurz darauf besuchte Norbu eine Filmhochschule, ging dann bei Bertolucci in die Lehre und beriet ihn für Little Buddha. Norbus erster Film, Spiel der Götter—Als Buddha den Fußball entdeckte [engl. Titel: The Cup], spielt in einem Kloster in Bir, einer tibetischen Kolonie in Indien und auf einem Grundstück in der Nähe, das Norbu geschenkt wurde, bevor er sein Studium am Sakya College aufgenommen hatte, und auf dem er und seine Mönche ein Kloster errichtet hatten. Der Film handelt von einem jungen, fußballfanatischen Mönch, der es allen Widrigkeiten zum Trotz (ein aufmerksamer Aufseher, eine kaputte Satellitenschüssel, schlechter Empfang) schafft, sich aus dem Kloster zu schleichen, um in einer Bar in der Stadt die WM zu verfolgen. Der Film kam 1999 im Verleih von Fine Line Features in die Kinos und gewann den Publikumspreis beim Sundance-Festival. Ich glaube, der Titel hat zwei Bedeutungen, denn zu jener Zeit ärgerte sich Norbu oft über Schüler, die nie meditierten, sich aber wie Tibeter kleideten. Er fand eine höfliche Art, uns zu berichtigen. Er sagte, wir würden den Becher, den cup (die tibetische Kultur), mit dem Getränk (dem Dharma, den Lehren des Buddha) verwechseln. Er sagte, es spiele keine Rolle, aus welchem Becher man trinke—man könne auch aus den Händen trinken. Er sagte oft, ein hübscher Becher helfe einem vielleicht, aber letztendlich ginge es doch um das Getränk.
Eine Straßenkatze schlich den Vorhang der Bühne entlang, drei Meter hinter Norbu. Ein Student der Universität fragte ihn nach den Unterschieden in den drei Ansätzen des Buddhismus: Shravakayana, der Pfad der Entsagung; Mahayana, der Pfad der Leere und des Mitgefühls, und Vajrayana, der Pfad der reinen Sicht.
„Mönche—wir sprechen hier von Mönchen—Geschlecht, Männer. Sie meditieren darüber, dass Frauen und Frauenkörper dreckig sind: Muschi, Körperfett, all das, all das müffelnde Blahblahbah. Ein Shravakayana-Mönch“, sagte Norbu, „hat in etwa die Einstellung: Das ist eine Versuchung; es ist nicht richtig; nichts wie weg hier. Ich rasier mir die Augenbrauen ab, ich will nicht vorzeigbar sein; ich rasier mir die Haare ab. All das kommt daher, versteht ihr?
Für den Mahayana-Mönch stellt es sich etwas anders dar. Er tut zwar auch all diese Dinge, aber der Hauptgedanke ist: Wir sollen nicht entsagen, weil es sich um etwas Schmutziges oder Böses, oder gar das personifizierte Böse handelt, denn so etwas wie das Böse gibt es nicht. Es gibt keine schöne Frau; es gibt keine hässliche Frau—es gibt nichts. Es gibt sozusagen nichts, dem man entsagen kann. Solange es Hässliches gibt, so lange man Schönheit empfindet, ist man von beidem gefangen. Beides sind Konzepte …“
Er wandte sich dann dem Vajrayana-Buddhismus zu und erklärte diesen anhand einer, wie er sagte, tantrischen Geschichte: „Ein Sakyapa-Mönch [betete] im Boudha-Stupa in Kathmandu zu Vajrayogini, einer weiblichen Gottheit. Als der Mönch den Stupa verließ, kam ein schönes Mädchen auf ihn zu und sagte: ‚OK, umarme mich, küss mich.‘“
Der Mönch rannte davon. Er flüchtete, aber er schämte sich, weil er das Gefühl hatte, öffentlich gedemütigt worden zu sein. Während er davon rannte, stieg hinter den Läden, die den Stupa umgaben, das Gesicht des Mädchens auf wie der Mond.
„Und dann“, sagte Norbu, „erkannte er, dass sie Vajrayogini war. Er kniete nieder, er brach zusammen und sagte: ‚Seit Jahren versuche ich, mit dir zu kommunizieren, und du gibst mir nie auch nur das geringste Zeichen. Und heute gibst du mir endlich ein Zeichen, aber auf diese Art und Weise? Nicht auf schickliche Weise?‘ Er sagte: ‚Bitte bring mich nach Ketchari, dem Land der Vajrayogini.‘
Sie sagte: ‚Wegen deiner Bedenken und Befangenheit wirst du dich in diesem Leben niemals mit mir vereinigen. Aber sobald du deinen letzten Atemzug getan hast, werfe ich dir eine Korallenleiter zu. Steige dann diese Leiter ohne jede Befangenheit hinauf.‘“
Einige Minuten später führte Norbu ein Beispiel an, und er zeigte hinter sich und sagte: „Eine Katze.“ Mein Ehemann drehte sich zu mir um und sagte: „Es kann nicht sein, dass er die Katze gesehen hat. Das ist witzig: Ich hab schon so viele Geschichten darüber gehört, dass er so etwas tut, aber jetzt habe ich es zum ersten Mal selbst gesehen.“
Ich zuckte mit den Achseln.
Ein Standbild aus Vara: A Blessing
Von Reisenden und Magiern war der erste Spielfilm, der in Bhutan gedreht wurde. Der Film ist eine Geschichte in einer Geschichte in einer Geschichte. Ein bhutanischer Regierungsangestellter will sein Dorf verlassen und nach Amerika reisen, wo er als Apfelpflücker an einem Tag ein Monatsgehalt verdienen kann. Er fährt per Anhalter zum Busbahnhof Richtung Hauptstadt, wo er einen Mönch trifft, der ihm die Geschichte zweier Brüder erzählt. Ein Bruder ist sehr intelligent während der ältere Bruder ein glücklicher Narr ist. Weil er der Ältere ist, wird er auf eine Zauberschule geschickt, wo er im Unterricht schläft und Unsinn macht. Aber der Jüngere spickt durch eine Spalte in der Wand und hört aufmerksam zu. Er belegt seinen Bruder mit einem Zauber, der diesen in das Land der Träume schickt. Im Land der Träume verliebt sich der Bruder in eine verheiratete Frau, bringt ihren Ehemann um und verliert sie an den Fluss. Während er über dem Wasser weint, kommt er wieder zu sich, und findet sich, die Augen noch voller Tränen, seinem Bruder gegenüber.
Norbus dritter Film, Vara: A Blessing, hatte seine Premiere im April auf dem Tribeca-Filmfestival in New York. Der Film spielt in einem kleinen Dorf in Indien. Er handelt von Lila, einer Devadasi-Tänzerin, die sich in einen niedrigkastigeren Mann namens Shyam verliebt, den sie als Krishna erkennt. Sie ist nicht wie der Mönch aus Norbus Beispiel—als Krishna sich ihr zeigt, umarmt sie ihn, was sie in der realen Welt in große Schwierigkeiten bringt.
Was Norbu von anderen Autoren unterscheidet, ist, Geschichten ohne Traurigkeit und Gewalt zu erzählen. Das Mantra meiner Lehrer war immer: „Bringt eure Figuren in Schwierigkeiten.“ Norbu tut dies auch—er schreibt traditionelle Handlungsbögen—aber er tut es auf ungewöhnliche Art und Weise. Wenn das Problem einer Figur ist, dass sie in flüchtigen Augenblicken erkennt, dass ihre Welt heilig und sie selbst heilig sind, ist das nicht dasselbe wie in, sagen wir, Conjuring—Die Heimsuchung, wo die Dramatik dadurch entsteht, dass eine Familie ein Haus kauft und dann erfährt, dass dort eine Hexe, die ihr Baby getötet hat, herumspukt.
Was Norbu von anderen Filmemachern unterscheidet, ist die unverfrorene Schönheit seiner Einstellungen. Ich bin echt stumpfsinnig, was visuelle Dinge betrifft, aber die Landschaften, die er erschafft, nehmen selbst mich manchmal gefangen. Ich fragte Nanette Nelms, die Produzentin von Vara, wie es war, mit Norbu zusammenzuarbeiten. Sie sagte: „Als Regisseur betrachtet er sein Filmprojekt nie als die wichtigste Sache der Welt. Sein Blick auf die Welt ist so weit und so verhaftet in Weisheit, dass ihm diese gängige ‚Besessenheit um jeden Preis‘-Attitüde fehlt. Das ist inspirierend, macht einen manchmal aber auch wahnsinnig.
Normalerweise hat ein Regisseur einen schicken Motivsucher, ein optisches Gerät, um den Schauplatz während der Proben oder des Location Scoutings in verschiedenen Brennweiten anzukucken. Rinpoche [Norbu] verwendete seine Digitalkamera, aber als wir in Sri Lanka ankamen, um zu proben, hörte ich, wie er sagte, er wünsche sich einen Motivsucher. Die Leute von der Produktion wollten schon per Eilbestellung einen Motivsucher aus Indien oder Thailand besorgen, doch Rinpoche sagte, wir sollten uns keine Sorgen machen, er habe schon mit unserer Produktionsdesignerin Aradhana Seth gesprochen, und sie würde sich darum kümmern.
Ich war verblüfft, aber dachte, dass die stets emsige Aradhana vielleicht einen Motivsucher organisiert hatte und ihn mit einer Schiffladung Requisiten aus Chennai hertransportieren ließ. Wie sich herausstellte, hatte Rinpoche sie darum gebeten, ein einfaches Rechteck mit einem Griff aus Holz herzustellen. Das war der Motivsucher, den er wollte. Er war so glücklich damit! Es dauerte nicht lange, da begann unser preisgekrönter Kameramann, Bradford Young, Rinpoche zu fragen, ob er ebenfalls durchkucken könne. Rinpoches Motivsucher ist ein wertvolles Andenken für mich (die Erinnerung an ihn, nicht das eigentliche Objekt; das hatte ich zwar heiß begehrt, aber ich hatte nicht die Stirn gehabt, darum zu bitten), nicht nur weil es Rinpoches erfrischende und außergewöhnliche Herangehensweise ans Filmemachen verkörpert. Dieser einfache Gegenstand, durch den er die Welt, die er erschuf, betrachtete, war eine Erinnerung daran, wie einfach es sei kann, das Wesentliche zu sehen, wenn wir es nur mit etwas Klarheit betrachten.“
Einmal zeigte er mir das Drehbuch von Vara, als der Film noch gar nicht existierte. Er zeigte es vielen Leute; er bittet immer um Meinungen und Ratschläge. Anfangs fand ich, dass alle Figuren viel zu offen und zu sanft miteinander sprachen. Ich strich alles aus und dachte: So reden Leute nicht! Aber dann begriff ich, dass ich es nicht verstanden hatte. Dass diese Welt, in der Menschen liebenswürdig und unmissverständlich sind—und sich natürlich trotzdem verlieben und Probleme bekommen—sein ganz eigener Stil ist.
Neulich fragte ich Norbu, mit welchen Schauspielern er am liebsten mal arbeiten würde.
Er sagte: „Eddie Murphy oder Danny DeVito.“
Ich sagte: „Was ist dein Traumprojekt? Welchen Film würdest du am liebsten machen?“
„Einen Film über das Leben des Buddha.“
Freunde von mir, die keine Buddhisten sind, fragen mich immer, warum ein spiritueller Lehrer denn Filme machen will. Als ich mit meinem Ehemann zusammenkam, sah der mich skeptisch an und sagte: „Er macht Filme?“
Aber als er Norbu zum ersten Mal sah, in einem Kloster im Himalaya an der Grenze zu Tibet, sagte er: „Er ist authentisch, da besteht kein Zweifel.“
„Du hast recht, aber wie kannst du das jetzt schon wissen?“
Norbu hielt einen lung ab, eine Textübertragung, in dem er den Text rasend schnell laut vorlas, zwölf Stunden am Tag, einen ganzen Monat lang. Dies tat er für ein buddhistisches Kloster—für tibetische Mönche—und außer uns beiden waren etwa zwei Dutzend Westler da.
Mein Mann sagte: „Jemand, der kein wirklicher Lehrer ist, würde nicht hier sitzen und dies tun.“
Ich habe gehört, dass Norbu selbst von seinem Vater wegen seiner Filmemacherei gescholten wurde; er hatte wohl so was gesagt, wie: „Sie kannst du vielleicht täuschen, mich nicht. Du strebst doch nur nach Aufmerksamkeit und Ruhm.“ Norbu selbst wird oft danach gefragt, warum er Filme macht, und er hat darauf verschiedene Antworten: dass er das Kino liebt, dass er das Dharma auf eine Weise vermitteln will, die die Menschen verstehen.
Meine Lieblingsantwort ist folgende: Er erzählte, dass er und die anderen Trülkus während ihrer Zeit am Sakya College nur einen einzigen Film besaßen. Es handelte sich dabei um eine auf ungefähr 30 Minuten heruntergekürzte Version von Vom Winde verweht. Er und die anderen Trülkus sahen ihn sich heimlich an. Ein Mönch bewachte die Tür und ein anderer saß neben dem Projektor mit dem Objektivdeckel in der Hand, um schnell die Linse zu bedecken, falls der Aufpasser vorbeikam.
Aber ehrlich gesagt weiß ich nicht, warum er tut, was er tut. Ich schrieb einen seiner australischen Studenten an, Douglas Mills, um zu fragen, ob es stimme, dass Norbu ihn einmal darum gebeten hatte, zu einem seiner Seminare im Smoking zu erscheinen. Mills schrieb: „Ja, er bat mich darum, zu den Unterweisungen einen Smoking zu tragen, also tat ich es. Komischerweise dachten manche Leute, ich täte das aus eigenem Antrieb und hielten mich für einen totalen Wichser. Andere waren nur verblüfft, weil es ziemlich warm in Sydney war. Ältere Opfer lachten einfach nur.
Einmal sollte ich mir einen Taucheranzug leihen und ihn zu den Unterweisungen tragen. Ich tat es, und die Reaktionen waren ähnlich. Der geliehene Taucheranzug offenbarte bald die Ausdünstungen und den allgemeinen Gestank vorheriger Träger.
Ein andermal wollte er, dass ich mich an die Straße vor den Unterrichtsraum stellte, herumbrüllte und mich darüber ausließ, dass der Lehrer ein Schwindler, Nichtsnutz und eine komplette Mogelpackung sei, was ich tat, so gut ich konnte. Ein paar arme Naivlinge waren dieses Mal wirklich empört und begannen sogar, Rinpoche zu verteidigen und ihre Wut und ihren Abscheu darüber zum Ausdruck zu bringen, dass sich jemand dazu erdreistete, ihn vor seinen eigenen Unterrichtsräumen runterzumachen.“
Ein Standbild aus Vara: A Blessing
Ich werde schnell nervös. Früher wurde ich noch nervöser, weil ich trank, um damit klarzukommen. Aus dem Grund war ich, wenn ich nicht trank, oft zittrig. Also, ich denke, ich hatte ein permanentes leichtes Delirium tremens, das sich verstärkte, wenn ich Grund dazu hatte, nervös zu sein. Kollegen machten mich nervös, Baristas, und Norbu. Norbu machte mich nervös, aber in gewisser Hinsicht war es leichter, nervös in seiner Gegenwart zu sein als in Gegenwart eines Kaffeeverkäufers, weil meine Nervosität nicht auf ihn übersprang, oder ihn dazu veranlasste, sich Gedanken darüber zu machen oder irgend so was. Es ist interessant: Er kann zwar ein großer Neutralisator sein, aber gerade wenn man beginnt, sich wohlzufühlen, kann er genau jenen Knopf drücken, von dem man dachte, man habe ihn verborgen.
Norbu kam nach Seattle, um eine seiner Schülerinnen zu besuchen, die im Sterben lag. Er wohnte fünf Tage lang bei meiner Mutter. In Seattle gab es einen weiteren tibetischen Lehrer mit vielen Schülern. Sie hatten eine Wohnung, um Gäste zu beherbergen, und sie für Norbu vorbereitet. Aber als Norbu davon erfuhr, sagte er dem anderen Lama, er brauche die Wohnung nicht, da er bei meiner Mutter wohnen könne. Das schmeichelte mir, denn der andere Sangha ist sehr erbaulich und attraktiv, und Norbus Seattle-Schüler waren dafür bekannt, höflich ausgedrückt, „exzentrisch“ zu sein. Manche sagen, er nehme sich der härtesten Fälle an.
Meine Mutter, eine langjährige Schülerin von Norbu, hatte eine Wohnung am Alki Beach in West-Seattle. Ich lebte bei ihr. Ich sagte den Inkasso-Typen, die mich in Seattle aufspürten, immer: „Es heißt ALK-EI, nicht Alkie.“ Es war mir wichtig, dass ich nicht am Alkoholiker-Strand lebte.
Die Wohnung war auf einer Senkgrube gebaut worden. Zwei Jahre zuvor, kurz bevor ich nach Seattle zog, war Norbu zu Besuch da gewesen und hatte für seine Schüler auf dem Herd meiner Mutter indisches Essen gekocht. Es waren 20 Leute da, und es war völlig überfüllt. Wirklich, in der Wohnung meiner Mutter herrschte damals der verdammte Wahnsinn. Und die Bude stank oft. Sie verströmte einen mysteriösen Geruch. Meine Mutter sagte immer: „Das kommt davon, dass der Geschirrspüler irgendwie mit der Abfallbeseitung verbunden ist.“
Dennoch hatte er sich, als er die Wahl zwischen einer schicken Gästewohnung in Seattle und der Wohnung meiner Mutter in Alki Beach hatte, für die meiner Mutter entschieden. In anderen Teilen der Welt bauen ihm Leute Häuser, wenn er zu Besuch kommt, oder bringen ihn in Fünf-Sterne-Hotels unter. Eine gute Woche lang putzten seine Seattle-Schüler die Wohnung meiner Mutter. Sie war noch nie so sauber gewesen. Ich war stolz. Dann kam er. Ich befand mich auf dem Außenkorridor der Wohnung—das Ganze war eine Art verputztes, vierstöckiges Strandmotel—und als ich mich umdrehte, stand da Norbu. Er sagte „Hallo“, und ich hatte nicht die Zeit, nervös zu werden.
Um zu lüften und den Gestank loszuwerden, hatten wir die Glasschiebetür, die zum Meer hinausging, geöffnet, ebenso wie die Wohnungstür. Wir waren direkt am Strand und die Abenddämmerung rückte näher, daher peitschte uns der Wind um die Ohren—er peitschte durch meine Haare, sodass ich kaum hören konnte—und Norbu saß auf einem Stuhl.
Meine Mutter und ich wussten nicht, was wir sagen sollten. Ich wusste, ich sollte ihm Tee oder so was anbieten—das gehört zum Umgangsformen-Einmaleins—aber ich war zu schüchtern.
Einer seiner anderen Seattle-Schüler bot ihm schließlich Tee an, als er erkannte, dass weder meine Mutter noch ich es tun würden. Ich war erleichtert. Er machte für alle Tee, und nachdem wir begannen, uns zu entspannen, sagte Norbu sanft:
„Könnten wir vielleicht die Türen schließen?“
Am Ende holten wir uns Essen vom Vietnamesen. Norbu bat uns darum, den Beleg zu behalten, und nachdem er wieder gegangen war, kümmerte er sich darum, dass er beglichen wurde. Er hatte eine Kreditkarte und während er in der Stadt war, bezahlte er alles für uns.
An jenem Abend sahen wir uns Tree of Life im Kino an. Der Film war sehr lang, und ich saß da und überlegte mir, ob er mir gefallen sollte. Die ganze Zeit fragte ich mich: Ist er schön anzusehen? Doch in Wahrheit langweilte ich mich.
Als wir das Kino verließen sagte Norbu: „Das war so was von langweilig!“ Er wetterte gegen den Film und sagte so was wie: „Das war der schlechteste Film, den ich je gesehen habe!“
Norbu hatte morgens in der Wohnung meiner Mutter Treffen und Unterredungen mit Buddhisten, die vor Ort lebten; danach wollte er für gewöhnlich shoppen oder ins Kino gehen. An einem der letzten Tage sahen Norbu, meine Mutter und ich uns gemeinsam mit zwei weiteren Seattle-Schülern Thor an. Ich fühlte mich den ganzen Film lang unwohl, denn ich hatte darum gekämpft, neben Norbu sitzen zu dürfen, um dann zu bemerken, dass ich übel roch.
An seinem letzten Tag in Seattle besuchte Norbu die Freundin meiner Mutter, die im Sterben lag. Meine Mutter hatte sich ungefähr ein Jahr lang um ihre Freundin gekümmert. Mal war sie eine sehr, sehr gute Betreuerin, manchmal nervte sie ihre Freundin—was nur natürlich ist. Man grollt dem, der für einen da ist. Ich stand vor der Tür und mir war klar, dass die sterbende Frau Norbu allein sehen wollte. Ich sagte: „Wir warten draußen.“ Aber er sagte: „Kommt rein.“
Er gab ihr Anleitungen, wie man stirbt. Sie waren sehr, sehr genau. Sie war dem Tod so nahe, dass sie nicht alles genau verstand, daher sagte er es wieder und wieder. Er sprach laut und deutlich und wiederholte eine wichtige Sache. Sie hatte eine sehr genaue Bedeutung, aber würde ich sie hier wiedergeben, wäre es, als ob ich die Gleichung für Beschleunigung aufschreiben würde. Es würde nichts aussagen.
An jenem Abend hatten wir ein Abendessen, bei dem jeder etwas mitbrachte. Viele andere Schüler von ihm kamen vorbei. Sie brachten Wein und Essen mit. Sie waren alle deutlich geschockt darüber, ihn in der Wohnung meiner Mutter zu sehen. Aber was ihn ausmacht—was wir alle wissen, aber vergessen—ist, dass man ihm einen Ferrari geben kann und er würde sich darüber freuen, aber wenn man ihm einen Hotdog von einem New Yorker Straßenstand gibt, freut er sich genauso sehr darüber. Wenn er überhaupt irgendeine Vorliebe haben sollte, dann wahrscheinlich für das, was am wenigsten Aufhebens macht. Das ist vielleicht schwer zu glauben. Ich kann nur sagen, dass er uns und allen, die auf Besuch vorbeikamen, sagte: „Ich mag diese Wohnung.“ Ich wusste, er meint es so. Als er da war, mochte ich sie auch.