​Ich habe in der “schalltoten Kammer” in Wien getestet, ob man bei Stille wahnsinnig wird

Wien Landstraße, ein Innenhof. Im idyllischen Schatten mächtiger Laubbäume gehe ich zu einem Termin, der mich vergangene Nacht schlecht schlafen ließ. Ich bin an der Universität für Musik und darstellende Kunst, aus den umliegenden Fenstern tönen gekonnt gespielte Geigen und Flöten—und ich bin darauf vorbereitet, ein bisschen wahnsinnig zu werden.

Ganz in der Nähe all dieser schöner Töne ist ein Ort, an den die Klänge zum Sterben kommen. Das Institut für Wiener Klangstil (IWK) hat in seinem Keller eine Kammer, die man “Schalltoter Raum” nennt. Dieser ist das logische Ziel einer Suche nach Stille. Auf dieser bin ich seit einiger Zeit, auch wenn es mir lange nicht so richtig bewusst war.

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Ist euch schon einmal aufgefallen, dass es nie wirklich ruhig ist? Da müssen Nachbarn noch gar nicht ihren Boden neu verlegen (wie meine) und die Müllabfuhr nicht in frühester Früh ihr Tagwerk verrichten (wie die bei mir). Die meisten Geräusche sind viel subtiler: Wenn man aufpasst, hört man immer eine Heizung sausen, ein Handyladegerät surren, ein Flugzeug fliegen, die Autobahn in der Ferne donnern, den Wind wehen. Selbst ein ruhiges Schlafzimmer bei Nacht hat eine “Zimmerlautstärke” (Physiker verzeihen mir bitte den unwissenschaftlichen Begriff) von etwa 20 bis 30 Dezibel.

Seit mir das aufgefallen ist, habe ich wenigstens einmal nur für ein paar Minuten wirkliche Stille herbeigesehnt. Man kann sich vermutlich auch allein damit verrückt machen, auf alltägliche Geräusche zu achten und ständig zu hoffen, dass keines kommt. Aber diesmal ist das Gegenteil mein Plan. Stille und schalltote Räume sollen nämlich auch psychische Herausforderungen sein.

Als “extrem—und extrem verstörend” beschrieb mir ein Freund seinen Besuch. “Ich glaube, die meisten zucken eher aus, wenn sie da länger drin sind”, meinte er. Berichten zufolge hält es in den stillsten dieser Kammern tatsächlich niemand länger als eine Stunde aus. Manche Menschen sollen unter diesen Umständen bereits die Orientierung verloren haben und panisch geworden sein.

Wenn ich spreche, klinge ich anders als gewohnt. Trompeter müssen in dieser Kammer daran erinnert werden, nicht zu übertreiben.

Am Weg zur Kellerkammer erzähle ich IWK-Leiter Wilfried Kausel von diesen Erfahrungen. Sie amüsieren ihn. “Wer sagt denn sowas?”, fragt er. Er selbst habe schon ganze Arbeitstage im schalltoten Raum verbracht. Im IWK kennt man den Schallpegel der eigenen Kammer nicht; so leise Geräusche kann man hier gar nicht messen. Der Grund für die Einrichtung ist übrigens, dass man hier Instrumente ohne Hall und Echo aufnehmen und analysieren will. Die Totalvermeidung von Außengeräuschen spielt keine so große Rolle wie etwa bei Microsoft, das 2015 die leiseste Kammer dieser Art baute. Dort werden etwa –15 Dezibel gemessen. Das sind 15 weniger als wir wahrnehmen können.

Prinzipiell sieht die hiesige Kammer aber tatsächlich so aus, wie die Fotos der Weltrekordhalterin von Microsoft. Der etwa 15 Quadratmeter große Raum ist an allen sechs Seiten mit gelblichen Schaumstoff-Keilen ausgestattet. Diese leiten, absorbieren und killen den Schall.

Schon beim Betreten klingt alles gedämpft. Meine Schritte am Bodengitter hört man überraschend schlecht. Wenn ich spreche, klinge ich anders als gewohnt. Trompeter müssen in dieser Kammer daran erinnert werden, nicht zu übertreiben, weil sie ihr Instrument für leiser halten, als es tatsächlich gespielt wird, erzählt Kausel.

Lest hier, von welchen österreichischen Musikern wir uns Stille wünschen würden.

Das Ticken seiner Uhr scheint mir dafür auffällig laut und klar. Was hier fehlt, ist nicht das Geräusch an sich, sondern der Hall und damit auch das gewohnte Grundrauschen. Die schalltote Kammer ist ein großartiges Tonstudio. Als Podcaster träume ich von solchen Bedingungen. Sie sind vergleichbar mit dem Geräuschpegel in 1000 Metern Höhe bei Windstille in einem Heißluftballon. Schall verpfeift sich dort einfach, statt irgendwo abzuprallen und wieder zu dir zurückzukehren.

Als ich den Vergleich höre, habe ich das Bild eines abstürzenden Felix Baumgartner beim echolosen Schreien im Kopf. Eine Uhr tickt. Meine Stimme ist gedämpft. Sonst tut sich wenig. Ich stehe etwas verlegen lächelnd neben dem Wissenschaftler und weiß nicht recht, wie ich nun verrückt werden soll.

Die Gründe, die mich im Vorfeld neben der erwarteten ungewohnten Erfahrung nervös gemacht haben, treffen eben auch noch nicht wirklich zu: Die US-Tester waren alle allein im Raum, das Licht abgeschaltet (weil auch elektrische Geräte und Lichter Geräusche machen). Mich hält schon die etwas peinliche Situation davon ab, klaustrophobisch zu werden.

Mein Gleichgewichtssinn hat hier weder einen optischen noch einen akustischen Anhaltspunkt.

Ich beschließe, die Bedingungen zu verschärfen. Kausel muss sich wohl wundern, aber er lässt mich allein und geht zurück an seine Arbeit. Ich drehe das Licht ab, ziehe die schwere, dicke Tür wieder hinter mir zu und gehe ein paar Schritte, bis ich annehme, in der Mitte des Raums zu stehen. Weil am Türgriff leuchtstickerartige Markierungen kleben, wende ich mich von ihr ab. Nun ist es so dunkel und still, wie ich es weder für sich genommen noch in Kombination je erlebt habe.

Minutenlang stehe ich und warte auf irgendetwas Spektakuläres. Als mir langweilig wird, singe ich “You’ll Never Walk Alone” und schreie sinnlos vor mich hin. Dann warte ich wieder. Plötzlich beginne ich ein Pochen zu hören. Mein Puls!

Erfreut von der Veränderung mache ich einen Schritt und falle dabei fast um. Wer je auf einem Bein gestanden ist, wird wissen, dass das mit geschlossenen Augen schwieriger ist. Mein Gleichgewichtssinn hat hier weder einen optischen noch einen akustischen Anhaltspunkt. Ich setze mich, verbuche das großzügig als weiteren Effekt des Experiments und glaube dann, ein Schimmern in meinem linken Auge wahrzunehmen, das weder mit geschlossenen noch geöffneten Augen verschwindet.

Warum es wichtig ist, Experimente zu wagen, sieht man an der Forschung zu LSD.

Einige Minuten bewundere ich das Pochen meines Pulses, das vielleicht nur eingebildete Schimmern und die Ruhe. Ich höre meinem Genick beim Knacken zu, wenn ich meinen Kopf drehe. Nach insgesamt etwa 25 Minuten ertappe ich mich dabei, fast einzuschlafen. Schließlich akzeptiere ich, dass ich meinen Verstand heute wohl nicht verlieren werde und beschließe, zu gehen. Ich wanke auf die Leucht-Sticker zu, drücke die Tür auf.

Habe ich schon immer so gut gehört? Da surrt ein Gerät im Labor, das ich vorher nicht einmal bemerkt habe. Für ein paar Minuten halte ich mich für sensibilisierter gegenüber kleineren Geräuschen. Beim Weg aus dem Gebäude lässt aber auch das schnell nach. Ich stecke mir meine Kopfhörer ins Ohr und werfe einen Podcast an. Stille wird eh überbewertet.