Amy Berkowitz’ chronische Schmerzen begannen in der Schulter. Dann spürte sie den stumpfen Schmerz im ganzen Körper. Mit 23 Jahren wurde ihr dieses ständigen Unbehagen zu viel. „Jeden Morgen wachte ich auf und fühlte mich, als wäre ich von einem LKW überfahren worden”, schreibt Berkowitz in ihrem neuen Buch Tender Points. „Ich fühle mich, als hätte mich ein Bus angefahren. Ich wache auf und ich fühle mich, als hätte ich ein Schleudertrauma. Ich wache auf und ich fühle mich, als hätte ich auf dem Boden geschlafen.” Ihr Buch ist nach den 18 Punkten benannt, die Personen mit Fibromyalgie bei Druck als schmerzhaft empfinden—„zwei am unteren Nacken über dem Schlüsselbein, zwei direkt unter der Mitte der Schlüsselbeine, einer in der Falte am Ellenbogen, zwei weitere an der Innenseite des Knies, auf der Körperrückseite zwei am unteren Nacken, einer über jedem Schulterblatt und im Schulterblatt, zwei auf jeder Seite der unteren Wirbelsäule, zwei weitere an der äußeren Seite der Kniesehne”—und sie führt darin in poetischer Präzision aus, wie es sich anfühlt, mit dem chronischen Schmerz dieser Krankheit zu leben und wie es sich anfühlt, wenn einem keiner glaubt, dass man leidet.
Fibromyalgie betrifft etwa zwei bis vier Prozent der Bevölkerung zeigt sich durch anhaltende körperliche Schmerzen, Müdigkeit, unerholsamen Schlaf und ein getrübtes Bewusstsein. Frauen bekommen diese Diagnose sieben Mal häufiger als Männer. Die Krankheit wurde in den 1990er Jahren das erste Mal als vager Sammelbegriff für Patienten verwendet, die von lebensbeeinträchtigendem Unbehagen berichteten, bei denen aber pathobiologisch keine Probleme festgestellt werden konnten. Damit die Diagnose gestellt wird, muss ein Patient Schmerzen in 11 von 18 der sogenannten Tender Points spüren, wenn Druck darauf ausgeübt wird. Bis vor Kurzem wurde Frauen mit diesen Schmerzen ohne objektiven Ursprung gesagt, dass sich alles in ihrem Kopf abspiele. Gerade vor ein paar Jahren veröffentlichte die New York Times einen Artikel mit dem Titel „Drug Approved. Is Disease Real?” [„Medikament zugelassen. Ist die Krankheit echt?”], in dem wissenschaftliche Publikationen zitiert wurden, die die Legitimität von Fibromyalgie als medizinisch anerkannte Krankheit anzweifeln.
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Die Diagnose Fibromyalgie ist in der Tat kompliziert, aber die Betroffenen bilden sich die Schmerzen sicherlich nicht nur ein. Patienten, bei denen die Krankheit diagnostiziert wurde, erleben sie auf verschiedene Arten. Manche leben mit einem erträglichen Schmerz und können ihren Alltag unter der Anwendung verschiedener therapeutischer Techniken normal bewältigen. Andere müssen ihren Job aufgeben, ihre Aktivität ist eingeschränkt oder sie haben ihre Beweglichkeit komplett verloren. Mit so einer Vielfalt an Fällen wird deutlich, dass Fibromyalgie keine genau definierte Krankheit ist—aber die diagnostische Bezeichnung hat einem vergleichsweise großen Teil der weiblichen Bevölkerung geholfen, deren sehr reale Schmerzen in der Vergangenheit mit viel Skepsis betrachtet wurden. Kristen K. Barker führte in ihrer soziologischen Studie über die Krankheit mehrere Interviews mit Frauen, die an Fibromyalgie leiden, und fand dabei heraus, dass das Nützlichste an der Diagnose ist, „eine medizinische Erklärung für das subjektive Leid einer Person zu bieten”.
Die gelebte Erfahrung einer Frau wird so oft aberkannt. Berkowitz erlebte das aus erster Hand, als sie wegen ihrer mysteriösen Schmerzen in der Schulter einen Arzt aufsuchte. „Die Ärztin behandelte mich sehr abfällig und war unfreundlich”, erinnert sich Berkowitz per Telefon. „Es war das erste Mal, dass ich das Gefühl hatte, dass ich mich gegenüber einer medizinischen Expertin behaupten und ihr sagen muss, dass sie so nicht mit mir reden soll.” Nachdem sie die Praxis unter Tränen verlassen hatte, ging Berkowitz ganz erschüttert nach Hause. Im Bett erinnerte sie sich an ein Erlebnis, das sie zehn Jahre lang verdrängt hatte. „Als ich im Bett lag, bevor ich einschlief, dachte ich daran, wie ich von einem Kinderarzt vergewaltigt wurde, als ich etwa zehn Jahre alt war. Am nächsten Morgen wachte ich auf und hatte am ganzen Körper Schmerzen.” Sie suchte einen anderen Arzt auf, der ihr die Diagnose Fibromyalgie stellte, was, räumt sie ein, schneller passierte als bei vielen anderen.
In ihrem Buch stellt Berkowitz einen Zusammenhang zwischen ihren Schmerzen und ihrer Vergewaltigung her. Sie glaubt, dass ihr körperliches Unbehagen von dieser traumatischen Erinnerung herrührt. „Ich glaube daran, dass Erinnerungen oder Traumata im Gehirn die biologischen Prozesse beeinflussen”, sagt sie—und damit hat sie recht. Während Ärzte darauf bestehen, dass Fibromyalgie keinen eindeutigen Ursprung im Körper hat, gibt es viele Studien, die ein Zusammenhang zwischen der Krankheit und Traumata wie Posttraumatische Belastungsstörungen oder eine Vergewaltigung in der Kindheit belegen. Dieser Zusammenhang könnte einen Hinweis darauf geben, weshalb Fibromyalgie häufiger bei Frauen als bei Männern vorkommt. „Frauen entwickeln bei ähnlichen Erlebnissen wie Männer häufiger ein chronisches Schmerzsyndrom, nachdem sie ein Trauma erlebt haben”, schreiben Diane E. Hoffmann und Anita J. Tarzian in ihrerAnalyse des Gender Bias in der Behandlung von Schmerzen, mit dem Titel „The Girl Who Cried Pain”. Oder in anderen Worten, warum Frauen als Folge traumatischer Erlebnisse häufiger an somatischen Schmerzen leiden—wie bei Fibromyalgie. Eine aktuelle Studie zeigte, dass 51 Prozent der Frauen mit Fibromyalgie von „sehr negativen Lebensereignissen in der Kindheit oder Jugend” berichteten, im Vergleich zu nur 28 Prozent der gesunden Frauen.
Wenn man sich furchtbar fühlt und die Leute mit Unglaube reagieren, ist das sehr ärgerlich.
Auf ihrem Blog schreibt Giulianna Rigali darüber, wie sie als Jugendliche von einem Fremden vergewaltigt wurde, als sie spazieren ging. Acht Jahre später, schreibt sie, wurde sie erneut vergewaltigt. 1997 spürte sie Schmerzen in ihren Handgelenken und Schultern. „Aber nach der Geburt meines vierten Kindes, 2001, weitete sich der Schmerz auf meinen ganzen Körper aus”, schreibt sie mir per E-Mail. „Ich konnte nicht aus dem Bett steigen, ohne vor Schmerz gelähmt zu sein. Ich konnte kaum gehen oder einen geraden Satz bilden.” Sie litt auch an einer Posttraumatischen Belastungsstörung, die sich in Schlaflosigkeit und Müdigkeit manifestierte. 2001 bekam sie die Diagnose Fibromyalgie. Heute arbeitet die 49-jährige Mutter mit ihrem Arzt daran, mit ihrer Diagnose umzugehen. „Eine Diagnose zu bekommen, war der erste Schritt, um mein Leben zurückzugewinnen”, sagte sie.
Über die Jahre ist Fibromyalgie sichtbarer geworden und auch Männer sehen die Krankheit als mögliche Diagnose, die ihren unerklärlichen Schmerzen zugrunde liegt. Norman Hanley, bei dem Fibromyalgie 2013 diagnostiziert wurde, moderiert die Facebook-Seite Fibro for Men. „Ungefähr 2009 konnte ich nicht mehr gut schlafen, aber ich dachte, es liegt daran, dass ich einfach älter werde. Ich dachte, ich musste mich einfach zusammenreißen”, erzählt mir Hanley per Telefon. „Aber ich bemerkte, wie meine Leistung bei der Arbeit immer schlechter wurde—ich arbeitete im Außendienst, war aber bald zu müde dafür. Ich musste kündigen und einen Job finden, in dem man nicht so viel reisen muss.” Sechs Monate später, als Hanley seinen neuen Job bereits angetreten hatte, wurde sein Zustand immer schlimmer. Als Marineveteran wandte er sich an das amerikanische Kriegsveteranenministerium und der erste Arzt, den er besuchte, sagte zu ihm, dass ihm nichts fehlte und dass sich alles in seinem Kopf abspielte. Nachdem er sich selbst informiert hatte, ging er noch einmal zu einem Arzt und fragte nach Fibromyalgie. „Mein Arzt sagte zu mir: ‚Ja, das könntest du haben, aber das ist eigentlich eine Frauenkrankheit’”, erinnert sich Hanley. Nach diesem Besuch ging er ein Jahr lang von Arzt zu Arzt und in einer Klinik für chronische Schmerzkrankheiten wurde schließlich Fibromyalgie diagnostiziert.
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Auf der Website Men With Fibromyalgia, die Hanley ebenfalls moderiert, findet man ähnliche Geschichten von Männern, die an überwältigenden Schmerzen ohne biologische Ursache leiden. Der Zweck der Seite, wie der Name andeutet, ist es, das Bewusstsein für Männer mit dieser Krankheit zu schärfen und das scheint bisher zu funktionieren. Dieses Jahr erkannten die Centers for Disease Control and Prevention, eine dem US-Gesundheitsministerium unterstellte Behörde, an, dass einer von sieben Männern an Fibromyalgie leidet. 2014 war es noch einer von acht. „Als ich mich in Hilfegruppen mit anderen Männern unterhielt, wurde klar, dass viele Ärzte glauben, Fibromyalgie sei ausschließlich eine Frauenkrankheit oder, noch schlimmer, überhaupt keine echte Krankheit”, sagt Hanley.
Nortin M. Hadler, ein Professor der Rheumatologie an der University of North Carolina, erklärt, weshalb es so kompliziert ist, bei einem Patienten Fibromyalgie, die er als„sozial konstruierte Krankheit” bezeichnet, zu diagnostizieren. „Das ist ein sehr schwieriges Thema”, sagt er, „größtenteils, weil es ein Problem der Semiotik ist—was meinen wir mit dem Wort Fibromyalgie? Einer der traurigen Aspekte dieses Themas ist, dass man oft dazu übergeht, das Opfer zu beschuldigen. Wenn man sich furchtbar fühlt und die Leute mit Unglaube reagieren, ist das sehr ärgerlich.”
„Aber es gibt hier keine schlechten Menschen”, fährt er fort. „Wir müssen das Erleben einer Krankheit zahlreicher Erwachsener—und mancher Kinder—, die sich schrecklich fühlen, besser verstehen.”
Oder wie Berkowitz über ihre Erfahrung mit dem Schmerz und Fibromyalgie in Tender Points schreibt: „Obwohl ich zwar glaube, dass die Diagnose nützlich ist—zumindest in dem begrenzten Sinne, dass es etwas bringt, einer Sache ohne Namen einen Namen zu geben und ihr so Geltung zu verleihen—, ist es nur ein Anfang.”