Aus der Fiction Issue 2015
Es gibt wirklich keinen schlechteren Ort für ein Interview als ein russisches Badehaus. Der Dampf setzt sowohl digitale Aufnahmegeräte als auch traditionelles Schreibzeug außer Gefecht, irgendjemand schreit immer in einer Fremdsprache durch die Gegend, und Fotografieren ruft Argwohn oder sogar Feindseligkeit hervor. Allerdings ist die Banja ein toller Ort für ein Porträt, bei dem Beobachtungen wichtiger sind als korrektes Zitieren und es als tiefer Einblick durchgeht, wenn man über den bestellten Salat und die Aussprache des Interviewpartners spottet. Außerdem kann man es sich dort gut gehen lassen.
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Ich traf mich mit Joshua Cohen im Mermaid Spa in Brighton Beach, Brooklyn, um genau das zu tun. Es war sein Vorschlag; meiner war es, gemeinsam Kratom zu nehmen, was er höflich als „zu abgedroschen” ablehnte. Cohen gehört zu der Sorte Autoren, die niemals nicht arbeiten. Er schreibt unendlich lange Buchrezensionen für Zeitschriften wie Harper’s und London Review of Books. Momentan promotet er seinen vierten Roman, arbeitet am zweiten Entwurf seines fünften und hat etwa fünf Bände gesammelter Kurzgeschichten und Sachliteratur in der Hinterhand (wobei der Stapel stetig weiter wächst). Er ist 34. Und damit das Ganze so richtig einschüchternd wird, handelt es sich hierbei nicht um kleine Skizzen oder Novellen, sondern dicke Bände voll dichter, furchtbar akribisch recherchierter Prosa.
Im jüngsten Roman, Book of Numbers, erzählt ein Programmierer namens Joshua Cohen einem abgehalfterten Brooklyner Romanschriftsteller, der ebenfalls Joshua Cohen heißt und den er als Ghostwriter engagiert hat, die Unternehmensgeschichte des von ihm gegründeten Google-Ersatzes Tetration.com. Das klingt irgendwie niedlich, und in der ersten Hälfte des Romans trifft er den Tonfall eines warmduschenden New Yorker Schreiberlings so überzeugend, dass ich völlig gewillt war, dies als die Erzählstimme des echten Joshua Cohen anzunehmen, bis mir ein eigensinniger Satz ins Auge stach wie eine verirrte Wimper.
„Ich glaube, einer der besten Sätze im Roman ist: ‚Wie groß ist der größte Niggerschwanz, den Natalie Portman in ihr kleines jüdisches Loch kriegt?’”, sagte Josh kurz nach unserer Begrüßung und bestätigte damit nur meinen positiven Ersteindruck.
„Ist dir aufgefallen, dass Auftraggeber [so nennt Ghostwriter-Josh im Buch den Pseudo-Google-Josh] nie Kontraktionen oder Possessivformen verwendet und von sich ausschließlich in der ersten Person Plural spricht?”
„Ja, ist es”, sagte ich. Sehr passende Macken für einen seltsamen Silicon-Valley-Typen.
„Hast du auch bemerkt, dass jeder Abschnitt des Buches eine gerade Anzahl Absätze enthält und jeder Absatz eine gerade Anzahl Sätze?”
Oh, Scheiße. Nein, hatte ich nicht.
„Außerdem enthält jeder Satz eine Silbenanzahl, die bestimmte metrische Prinzipien erfüllt. Die meisten sind gerade, doch die Sätze, die herausstechen sollen, haben eine ungerade Anzahl. Die Zahl ungerader Sätze in einem Absatz ist allerdings immer gerade. Alles basiert stark auf geraden Zahlen, mit vier als Basis, denn Tetration bedeutet Potenzturm. Ich wollte ein Strukturmittel, um Auftraggeber diese autistisch-gleichmäßige Sprechweise zu verleihen, fast wie ein Algorithmus, aber es ist auch eine Hommage an das Chandahshastra, ein alter Sanskrit-Text zur Prosodie und das früheste bekannte Beispiel der Binärschreibweise. Und in der ersten Person Plural sprechen natürlich Hindugottheiten in Epen wie dem Ramayana und dem Mahabharata von sich selbst.”
Vor unserem Dampfbad fuhren wir zu Joshs Wohnung in Red Hook, um uns Badehosen zu holen. Er bezeichnete die Wohnung mehrmals als Bunker, doch sie war meiner Einschätzung nach ein ziemlich gemütliches Souterrain. Viel Licht, Fenster an beiden Enden, lang und hoch genug für fünf oder sechs deckenhohe Bücherregale und zusätzliche, freistehende Stapel, ohne dass es gleich aussah wie das Kämmerchen eines Irren. „Du solltest es sehen, wenn ich die mittleren Türen zuziehe und das ganze Licht verschwindet. Dann kann man hier so richtig die Ärmel hochkrempeln.”
In den Regalen neben Joshs Schreibtisch stehen vier Bücher wie in der Buchhandlung mit dem Titelblatt nach vorn an die anderen gelehnt: The Orators von W. H. Auden und Die Betrogene von Thomas Mann rahmen zwei SciFi-Taschenbücher aus den 1960ern ein.
„Das neue Zeug, an dem ich arbeite, ist von diesen Büchern inspiriert. Ich versuche, die Sprache ähnlich wie in Audens Journal of an Airman abgehackt und voller Fachjargon zu gestalten, während die Handlung näher an Die Betrogene ist—in kaum einem anderen Werk wird ein Tier so überzeugend eingesetzt.”
„Stimmt”, sagte ich, als hätte ich es gelesen.
Josh kramte seine Badehose hervor, und eine dünne, rote Sportmarkenfälschung für mich. Dann gingen wir zurück in den Korridor, vorbei an einem Berg Schuhe, der so groß war, dass er wirkte wie aus einem Holocaustmuseum.
„Die sind alle von Verwandten. Jedes Mal, wenn ein Typ stirbt, kriege ich die Schuhe.”
An dieser Stelle hätte ich am Liebsten ein Wortspiel über Schuhe und die Shoa gemacht, doch stattdessen fragte ich ihn, ob er Adam Sandlers Film Cobbler: Der Schuhmagier gesehen habe. Hatte er nicht. :(
Echte Russen gehen ins Mermaid Spa. Mittwochabends vielleicht nicht in Scharen, doch der Speisebereich war voll genug, um während des Eishockeyspiels der New York Rangers einen beachtlichen Geräuschpegel zu erreichen. Auch liegt das Spa direkt neben dem Eingang von Sea Gate, nicht nur die einzige gated community in New York City, sondern auch die Heimat des einzigen Trailerparks der Stadt. Während die meisten geschlossenen Anlagen ihre Exklusivität dezent herunterspielen, ist der Eingang zu Sea Gate der Schlund eines Brennofens, mit schwarzen Eisengitterstäben und kopfhohen Drehkreuzen.
„Als Hurrikan Sandy hier wütete, wurde geplündert, also hat die New Yorker Polizei jetzt permanente Checkpoints eingerichtet und die ganze Anlage abgeriegelt.”
Nachdem wir unsere Handys bei der Kassiererin eingetütet hatten, zogen Josh und ich unsere Badehosen an und entschieden uns dafür, lieber gemeinsam blind zu sein, anstatt uns alle fünf Sekunden die Brillen zu wischen. Seiner eisengerahmten Lennon-Brille und allem anderen entledigt sah er weniger wie der gepeinigte sowjetische Dissident aus, dem er auf seiner Wikipedia-Seite ähnelt, und mehr wie ein rotblonder Matthew Broderick. Das sagte ich lieber nicht, denn es klang für mich zu sehr nach Anmache oder zumindest wie eine billige Anspielung.
Wir dampften, wir saunierten, wir tunkten uns in eins dieser schrecklichen Eisbäder, das einem die ganze Haut zusammenzieht. Nach einer zweiten Runde setzten wir uns an einen der langen Tische in der Mitte der Banja und Josh bestellte uns Saft und Grapefruitscheiben. Er verwendete dabei gerade genug Russisch, um der Kellnerin klar zu machen, dass er kein Russisch sprach, und mir den Eindruck zu vermitteln, dass er es ausgezeichnet konnte. Josh hatte fünf Jahre in Brighton Beach gewohnt und konnte deshalb auf der Hinfahrt für mich den Reiseführer geben: Er zeigte mir die kasachischen Nachtclubs, die Partyjacht Amberjack V und das lagerhausgroße Bordell, auf dessen ansonsten saubere Mauern jemand „PUSSSEY?” gesprayt hatte.
„Das einzige Mal, dass ich bei den Russen Koks gekauft habe, war hier”, erzählte er mir, als wir in einer schummrigen Seitenstraße hielten, die von bedrohlichen, holzverkleideten Horrorhütten gesäumt war. „Die Küstenwache hat die hier in den 40ern als Kasernen gebaut. Mit Abstand der furchteinflößendste Ort, den ich in New York kenne.”
Als unsere Grapefruit serviert war, merkte ich an, dass diese einen Stoff enthalte, der die Wirkung von Kratom verstärkte. Nur so nebenbei. Er lehnte erneut ab.
Wir unterbrachen unser Früchteessen für eine Zigarettenpause auf der Raucherterrasse der Banja (Russen!). Dabei fiel mir auf, dass Joshua einer der wenigen mir bekannten Schriftsteller ist, die nicht absichtlich schreiben wie sie sprechen oder sprechen wie sie schreiben. Eine Erleichterung, denn seine Prosa ist ein einschüchterndes Sprachgewitter aus Wörtern wie Catholicon, echappieren oder stabwerkslos, selbst wenn er keine vedischen Prosodie-Handbücher durchkämmt, um die Sprache seiner Figuren zu programmieren.
„Ich will allerdings ein stabiler Erzähler werden, damit ich gleichzeitig an mehreren Büchern arbeiten kann. Das gibt es nicht mehr—alle haben furchtbare Angst davor, als prätentiös zu gelten. Aber Faulkner hatte zum Beispiel diese erhabene, biblische Stimme, wenn er nicht aus der Sicht einer Figur schrieb.”
Nach einem letzten Dampfbad stellten wir uns unter die Dusche. „Ich habe immer diese Fantasie, dass ich zu meinem Spind zurückkehre und all meine Sachen sind durch Bessere ersetzt worden. Zum Beispiel das schöne Hemd, das ich statt diesem hier hätte kaufen sollen.”
Auf dem Rückweg zum Auto fielen unsere Blicke auf ein erleuchtetes Fenster gleich hinter dem Sea-Gate-Zaun, das perfekt zwei weibliche Silhouetten an einem dampfenden Herd einrahmte.
„Sieh dir das an”, sagte Josh. „Eine vollbusige Frau—nein, zwei vollbusige Frauen, die in einem Topf rühren. Wie ein Vermeer.”
Ich täuschte ein Husten vor, um meinen viel primitiveren Laut der Wertschätzung zu überspielen.