Bin ich ein elender Sextourist?

Eine zerknüllte Kondompackung

Ich war in Südamerika und habe weder Salsa tanzen gelernt, noch habe ich Ziegen bei einer indigenen Familie gemolken oder bin mit einem Sand-Board den Hang eines Vulkans heruntergerutscht. Stattdessen hatte ich Sex – mit 21 Typen in sechs Wochen.

Es war erschreckend leicht: Ich öffnete einfach meine Dating-Apps. Die Match-Rate auf Tinder lag bei nahezu hundert Prozent, auf Grindr gingen im Minutentakt Dick-Pics ein. Ich fühlte mich überwältigt von der Auswahl. Nicht selten sahen die Boys, die mir schrieben, illegal jung aus.

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Ich bin nicht für Sex nach Südamerika gereist, aber so bin ich da reingerutscht. Und ja, ich habe das schamlos ausgenutzt. Ich, Mitte 20, habe mir von vornherein Privatzimmer in Hostels gebucht, habe Dates zum Essen eingeladen und die Typen reihenweise mit aufs Zimmer genommen. Zurück in Deutschland fühle ich mich wie ein alter weißer Sack, der sich durch thailändische Jugendclubs vögelt. Wie eine betuchte Dame, die sich neben schwarzen Schwänzen in Kenia noch einmal jung und begehrenswert fühlt. Nun muss es ja nicht gleich ein postkolonialer Feldzug sein, nur weil ein weißer Schwanz in einen dunklen Anus eindringt oder andersherum. Was könnte reiner sein als das sexuelle Verlangen zweier Menschen?

Die Frage ist doch: Warum hatte ich als großgewachsener Weißer in Südamerika so leichtes Spiel? Habe ich das Begehren der Latinos für finanziell potente Europäer ausgenutzt? War ich letztlich auch nur ein elender Sextourist?

Gleich an den ersten beiden Tagen in Bogotá schlief ich mit vier Typen

Los ging die Reise in Bogotá, der Hauptstadt Kolumbiens. Ich hatte mir vorgenommen, die Städte mal anders zu erleben, nicht immer nur Kirche, Markt, Museum und abends mit anderen Backpackern besoffen vor Bars rumgrölen, sondern “Locals” kennenlernen, die Stadt aus ihrer Sicht erkunden und warum nicht auch gleich ihren Schwanz.

Gleich an den ersten beiden Tagen in Bogotá schlief ich mit vier Typen. Drei kamen tagsüber in ihren Vorlesungspausen zu mir (praktischerweise war mein Hostel direkt neben einem Uni-Campus). Aber ich gebe zu: Jenseits der Erkundung von lateinamerikanischen Körpern war da nicht viel mit Sightseeing. Schon nach zwei Tagen musste ich konstatieren, dass das mit der kulturellen Entdeckungsreise vielleicht doch ein Euphemismus für wildes Rumvögeln im Ausland war.


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Den Vierten traf ich abends im wohl größten Gay-Club Südamerikas, dem Theatron. Ich finde, das geht als Sehenswürdigkeit durch. Bis zu 5.000 Leute tanzen dort auf 13 Floors – ein Paradies. Mein deutscher Begleiter und ich waren einen Kopf größer als alle um uns herum. Zwar wedelten auf einem Laufsteg muskulöse Tänzer mit ihren dicken Schwänzen, aber wir, obwohl schlicht mit Jeans und T-Shirt bekleidet, bekamen ähnlich viel Aufmerksamkeit. Irgendwann tanzte ich mit David, angehendes Model, der so gut wie kein Englisch sprach. Also gingen wir schnell zum Rummachen über. Während David mich sanft gegen die Säule in der Mitte der Tanzfläche drückte und meinen Hals bearbeitete, richteten sich die Blicke auf uns – irgendwas zwischen Neid und Anerkennung, denn so einen Weißen abzubekommen, das lernte ich in den nächsten Wochen, gilt schon als was. Gemeinsam mit David bestieg ich bald ein Uber und dann ihn.

In den Städten lief es meistens so. Im ecuadorianischen Guayaquil schlief ich an nur einem Tag gleich mit drei Typen. OK, ein Dreier war auch dabei, was es organisatorisch natürlich erleichtert hat, da ich mehrere Männer auf einmal abfrühstücken konnte.

Wenn es hingegen in die Berge und zu Regenwäldern ging, übernachtete ich in billigen Schlafsälen mit schnarchenden Engländern und deren stinkenden Wanderschuhen. Hier war sexuell nicht viel zu holen, aber ich musste die touristischen Abstecher unternehmen, um meinen Omas nach der Reise wenigstens eine kleine Fotopräsentation von Wasserfällen und Inka-Ruinen bieten zu können.

Von meinen 21 Sexualpartnern war nur eine Handvoll geoutet

Und doch bekam ich sogar in den kleinen touristischen Orten Dutzende Nachrichten. Ich hatte einen klaren Vorteil: Ich war oft der einzige, der in den Apps offen sein Gesicht zeigte. Südamerika war ein Sex-Paradies für mich, weil ich offen schwul lebe. Von meinen 21 Sexualpartnern war nur eine Handvoll geoutet, der Rest lebte im Verborgenen. Logisch, dass ich leichtes Spiel hatte. Ich war eine Ausnahme, weil meine Dates schon vor dem Treffen sehen konnten, was sie kriegen.

Touristen zu daten schützt vor einem Outing, sagte mir zum Beispiel Edison. Ich hatte ihn gerade in seinem Zimmer in Peru gevögelt, als sein Vater überraschend von der Arbeit heim kam. Edison erklärte ihm, ich sei Austauschstudent und würde ihm beim Englischlernen helfen. Und es funktionierte.

Touristen zu daten schützt vor einem Outing, sagte mir Edison. Von meinen 21 Sexualpartnern war nur eine Handvoll geoutet, der Rest lebte im Verborgenen.

Miguel, 19, war ebenfalls nicht geoutet, als er mir auf der Tribüne des Fußballplatzes eines kleinen Touri-Ortes einen blies. Am nächsten Tag gingen wir zu ihm. Wir wollten nicht nur schnellen Sex, wir wollten auch nachts zusammenliegen, kuscheln. Für ihn kam das einem Coming-out gleich. Ich war der erste Typ, den er jemals mit nach Hause genommen hatte. Erst machten wir im Eingangsbereich seines Hauses rum, der zugleich Ess- und Wohnzimmer war. Von den Zimmern seiner sieben bereits schlafenden Verwandten war der Raum nur mit Vorhängen getrennt. Dann legten wir uns oben auf sein Doppelstockbett, Miguels Bruder unter uns. Am nächsten Morgen grüßte ich seine Oma und seine Schwestern und ging an ihnen vorbei auf die Straße. Ich war raus aus dem Haus, Miguel raus aus seinem Versteckspiel. Stolz schrieb er mir später, seine Oma habe mich sympathisch gefunden.

Empowerment klingt hochtrabend, aber als Ungeouteter jemanden zu treffen, der von seinem offenen Leben in einem eher liberalen Land berichten kann, gibt vielen Männern hier enorm viel Kraft. Man darf das nicht überbewerten. Latinos vögeln ist nicht gleich Entwicklungshilfe. Aber mit dem Schlagwort Sextourismus wird man diesem Aspekt eben auch nicht gerecht.

Ist es schon Sextourismus, wenn ich für alles außer dem Sex bezahlen muss?

Problematisch ist schon eher, was mit Camilo ablief. Im peruanischen Piura zahlte ich Abendessen, Hostel-Zimmer, Frühstück und sein Taxi zur Uni. Es erschien mir selbstverständlich, weil wir uns gut verstanden und er mit gerade mal 18 Jahren knapp bei Kasse war. Alles in allem waren es vielleicht 20 Euro, die ich für ihn ausgegeben hatte. Er hat nicht mit mir geschlafen, weil er Geld verdienen wollte, schließlich bekam er ja nichts in Cash. Aber es war eben unausgesprochene Bedingung, dass ich für alles zahlen musste – er hätte es sich schlicht nicht leisten können. Ist das schon Sextourismus?

Die Nacht mit Camilo war kein Einzelfall. Etliche meiner Dates dachten, ich als Weißer hätte doch Geld um für das Abendessen oder das Taxi zu bezahlen. Wenn ich die Typen traf und sie nett fand, hatte ich damit auch kein Problem. Zu Hause lade ich meine Freunde genauso zum Essen ein oder bestelle einem heißen Typen im Club ein Bier. Das ist so etwas wie eine Investition in die zwischenmenschliche Beziehung, und nicht eine Anzahlung für den späteren Blowjob. Auf Grindr schrieben mir einige Typen jedoch schon von vornherein, sie würden nur kommen, wenn ich fürs Taxi aufkomme. Das fühlte sich dann doch wie Prostitution an. Ich lehnte solche Treffen ab. Für Hetero-Männer ist es bei den ersten Dates oft normal, die Frau zu allerlei Dingen einzuladen. Das zeugt jedoch meistens von einem konservativen Weltbild, einem Machtgefälle. Für mich jedenfalls fühlte es sich merkwürdig an.

Ich will kein weißer Dom sein

Für Sex bezahlen, damit verbinde ich auch, über den Sex zu bestimmen. Und so empfand ich es fast schon als unangenehm, wenn meine Sexpartner besonders unterwürfig waren und mich dadurch in die Rolle eines dominanten Daddys brachten. Der homosexuelle Akt an sich ist zwar so etwas wie eine Befreiung von gesellschaftlichen Normen, aber komische Hierarchien kann es dennoch geben. Wo die Frau als natürlich oder konstruiert Unterlegene entfällt, ist nun eben der Südamerikaner der zu begattende und zu unterwerfende Partner, der dem Weißen sexuell zu dienen hat – und von ihm dafür das Abendessen bezahlt bekommt. Ich wollte das nicht. Aber der Kolonialismus schien sich fest in die sexuellen Fantasien meiner lateinamerikanischen Sexpartner eingebrannt zu haben. Plötzlich steckte ich in einer Rolle, in die ich nie rein wollte. Ich war der Weiße, von dem man gerne hart rangenommen wird, dessen Schwanz man unterwürfig in den Mund nimmt. Ich hätte den Sex einfach nur genießen können. Aber dieser Kontext ging mir einfach nicht aus dem Kopf.

Plötzlich steckte ich in einer Rolle, in die ich nie rein wollte. Ich war der Weiße, von dem man gerne hart rangenommen wird, dessen Schwanz man unterwürfig in den Mund nimmt.

Befreiend war es, wenn es andersherum lief und ein Latino-Schwanz in meinen weißen Arsch eindrang. Klar, auch das lässt sich politisieren, als postkoloniale Rache am Weißen. Wenn es schon kriegerisch und kulturell nicht geklappt hat, den Feldzug des Weißen zu stoppen, so soll er nun wenigstens ergeben Schwänze lutschen.

Aber vielleicht war es auch einfach nur Sex. In Sex steckt immer auch die Lust jemanden zu dominieren, oder zu unterwerfen. In erster Linie spielerisch, nicht politisch.

In Deutschland stellt man sich einen Mercedes vors Haus, in Lateinamerika vögelt man einen Weißen

Auf jeden Fall ist mein Weißsein ständig Thema. Andrés nennt mich liebevoll “mi blanquito”, mein weißer Boy. Juan Esteban filmt mich, als ich mit ihm am Busterminal in der Ticketschlange warte – ein Weißer für seine Instagram-Story, das kommt gut. Und Felipe kann es kaum erwarten, zum Auslandsstudium nach Buenos Aires zu gehen – er liebt Weiße wie mich und Argentinier sind für ihn im Gegensatz zu Ecuadorianern eben weiß.

Auf einmal kam ich mir wie eine Trophäe vor. In Deutschland stellt man sich einen Mercedes vors Haus, in Lateinamerika vögelt man einen Weißen. Das Absurde ist: Weiße Europäer wie ich nutzen das aus. Und am nächsten Tag sind wir über alle Berge. Natürlich, viele wollen wie ich einfach nur Spaß haben. Aber während sich so mancher Südamerikaner vielleicht erhofft, durch eine Liaison zu einem weißen Europäer dem konservativen Heimatland und seiner ärmlichen Lebenssituation zu entkommen, steckt mein Schwanz längst schon wieder in einem anderen drin.

Also doch nur Sextourismus? Nein. Ich habe kein Bargeld gezahlt und niemandem ein Auto gekauft, damit er mir einen bläst. Dennoch habe ich nicht im luftleeren Raum gevögelt. Hunderte Jahre Kolonialismus und Orientierung am Westen haben ihre Spuren hinterlassen, die den eigentlich so reinen Akt zwischenmenschlichen Begehrens besudeln. Man kommt nicht daran vorbei, darüber nachzudenken, wenn man kein Arschloch sein will.

Zurück in Deutschland werde ich mit der Realität konfrontiert. Ich bin kein Sex-Gott mehr, kein Exot, niemand fickt mich wegen meiner Hautfarbe. Meine Eroberungen aus Südamerika schreiben mir noch tage- und wochenlang, dass sie mich vermissen. Such dir lieber einen anderen Latino, wir Weißen sind auch nur Arschlöcher, denke ich und atme auf, als ich auch in Deutschland auf Grindr Südamerikaner entdecke. Gleich am ersten Wochenende zurück in der Heimat schlafe ich mit einem Kolumbianer. Das weckt schöne Erinnerungen an mein sexuelles Südamerika-Abenteuer. Zum Glück haben wir in Deutschland so etwas wie Vielfalt.

Ich elender Sextourist.

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