Meine alte Schule ist gewachsen. Ein neuer Korridor wurde angebaut, in roten Ziegelsteinen mit bodentiefen Fenstern. Am Ende dieses neuen Ganges, von dem die Klassenzimmer abgehen, befinden sich die Toiletten. Eine für “MÄDCHEN” und eine für “JUNGEN”, wie große Lettern an den Türen verraten. Ich stehe genau dazwischen und sehe mein Spiegelbild von außen in der Glasfassade.
Genauso fühlte es sich an, als Homosexueller in Drensteinfurt aufzuwachsen, einer Kleinstadt nicht weit von Münster entfernt. Es gab nur diese zwei Optionen: Mädchen oder Jungen. Ich wusste nie, wo ich dazugehörte – ich verhielt mich anders als die anderen Jungs, spielte mit Barbies, trug Kleider und gestikulierte feminin. Aber dann waren da die “männlichen” Attribute, mein Penis, die kurzen blonden Haare, die Vorliebe für Hot Wheels. Auch bei den Mädchen gehörte ich nicht dazu. Die anderen Kinder ließen mich spüren, dass ich kein Teil ihres Fußballjungen-und-Pferdemädchen-Kosmos war, sondern ein Eindringling vom Planeten Homo. Sie riefen mir “Mädchen, Mädchen” oder “Schwuli” hinterher, bedrängten mich nach dem Unterricht. Jahrelang.
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Damals verstand ich noch gar nicht, was da passierte und wieso es passierte. Ich wusste nicht, wer ich war und wo ich hingehörte, also flüchtete ich. Mit 19 verließ ich das Dorf, zeigte dem Münsterland den Mittelfinger und ließ all die homophoben Dorftrottel hinter mir – dachte ich zumindest.
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Ich wollte in die Großstadt, wo niemand niemanden kennt, raus aus dem Dorf, wo jeder jeden kennt. In Drensteinfurt fühlte ich mich wie ein gebrandmarktes Tier, das riesengroß mit dem Wort “SCHWUCHTEL” gezeichnet worden war. In Berlin war das anders. Dort interessierte es niemanden, wer ich war und mit wem ich schlief. Ich erkundete die schwulen Clubs und ihre Darkrooms, tanzte mit Dragqueens, küsste Männer und verlor mich im Rausch des Berliner Nachtlebens. Trotzdem war da noch diese Scham in mir, mit der ich mich nie auseinandergesetzt hatte. Ein Stück Dorf, das ich überall mithin trug und das mir sagte: Mit dir stimmt etwas nicht.
Jedesmal, wenn ein Mann mich in der Öffentlichkeit berührte, zuckte ich zusammen. Wenn mir jemand sagte, dass er mich mochte, glaubte ich ihm nicht. Wenn mich mein Freund auf der Straße küsste, riss ich die Augen auf, um die Umgebung auf potenzielle Gefahren abzusuchen. Emotionale Intimität zu einem anderen Mann war so erst einmal nicht möglich.
Zehn Jahre ist es her, dass ich die meine Schule in Drensteinfurt verlassen habe. Betrunken bin ich damals ein letztes Mal über den Schulhof gelaufen, mit dem Abschlusszeugnis in der Hand, habe eine Sektflasche zerschmettert und mich mit diesem Knall verabschiedet.
Heute stehe ich wieder hier, an genau dieser Stelle, und alles ist noch so wie damals. Die kleine Treppe, an der wir in den Pausen abhingen. Die anderen Jungs schossen Bälle gegen die Wand gegenüber. Sie hatten nie Angst, von dem Ball getroffen zu werden, schmissen sich ihm sogar mutig entgegen. Ich hatte immer Angst: Angst vor dem Ball, Angst vor den anderen Kindern. Neben der Wand befindet sich eine Tür, ein Gang, eine Toilette. Dort versteckte ich mich in manchen Pausen, wenn die Angst zu groß wurde. Wenn ich wieder die Blicke auf mir spürte, andere Kinder tuscheln hörte oder jemand mir “Schwuchtel” hinterher rief. Ich war immer auf der Suche nach einem Ort, an dem ich mich sicher fühlen konnte.
Mein Leben lang wechselte ich Haarfarben, Kleidungsstile, Freunde und Männer – doch nie war ich glücklich oder zufrieden. Es ist sehr schwer, man selbst zu sein, wenn man nicht weiß, wie das geht oder wer das eigentlich ist. Ich war immer noch das ängstliche Kind, das sich verstecken wollte. Ich hatte nur die Schultoilette gegen eine oberflächliche Maske ausgetauscht: exzentrische Kleidung, Partys, Alkohol, oberflächliche Freundschaften und Affären. Ich wollte nie wieder verletzt werden und stellte sicher, dass die Person, die ich präsentierte, nicht allzu viel mit meinem tatsächlichen Selbst zu tun hatte. Ich flüchtete in die Clubs, um mich nicht mit mir auseinandersetzen zu müssen. Dadurch erlangte ich ein Gefühl der Kontrolle. Ich wollte mich nie wieder wie der hilflose, schwule Junge auf dem Dorf fühlen. Ich lernte aber auch: Hinter vermeintlicher Freiheit versteckt sich eine noch größere Leere, wenn man diese nicht zu füllen vermag.
Ein paar Schritte weiter über den Schulhof setze ich mich hin. An den Platz, wo jeden Morgen mein erster Schwarm saß. Groß, blond, sportlich. Typischer Fußballjunge. Hieß für mich: unerreichbar. Ich ließ dennoch ein paar Freunde davon wissen, die es dann anderen erzählten, wodurch ich schnell zum Stadtgespräch wurde. Die Beleidigungen wurden immer lauter, das Lachen auch. All das ließ mich noch mehr an mir selbst zweifeln: Was war falsch mit mir, dass ich es verdient hatte, so behandelt zu werden?
Mein erster Schwarm zur Schulzeit war unerreichbar, mein erster Freund im Studium war es auch. Er stand weder zu unserer Beziehung noch zu sich selbst. Die Beziehung endete nach wenigen Monaten und ich stellte mir wieder dieselbe Frage: Was war falsch mit mir, dass mich niemand wollte? Mein ganzes Leben lang wünschte ich mir nur, akzeptiert zu werden. Um jeden Preis. Ich fragte mich nie, was ich wirklich wollte oder was gut für mich war. Ich konnte nicht allein sein, denn dann hätte ich mich meinen Ängsten und all den Stimmen aus der Schulzeit stellen müssen. Diese wurden in der Stille so laut, dass ich sie lieber in den Berliner Clubs übertönte. Doch irgendwann war das Weglaufen keine Lösung mehr.
Lange Zeit hatte ich keine schwulen Freunde. Ich mochte Schwule nicht, weil ich in Drensteinfurt gelernt hatte, Schwule nicht zu mögen. Mir waren homosexuelle Männer immer etwas peinlich und unangenehm. Ich litt an dem, was Psychologen “internalisierte Homonegativität” nennen. Als ich das erkannte, natürlich nach dem Ende einer Beziehung, ging mir ein Licht auf: Ich projizierte meine Einstellung zu mir selbst auf andere. Denn ich mochte mich selbst nicht.
Von da an fing ich an, mich wirklich für andere homosexuelle Männer zu interessieren. Ich suchte nach Gemeinsamkeiten, nicht mehr nach Unterschieden. Ich ging zu schwulen Veranstaltungen, in schwule Sportvereine und las Bücher über Scham und Identitätskrisen. Dadurch lernte ich, mit mir selbst in Kontakt zu treten. Ich suchte mir queere Vorbilder, den französischen Schriftsteller Édouard Louis oder den deutschen Sänger Bill Kaulitz.
“Freiheit ist das, was du mit dem tust, was dir angetan wurde”, sagte der Philosoph Jean-Paul Sartre. Und so holte auch ich mir meine Freiheit zurück: Vor vier Monaten trat ich das erste Mal als Dragqueen auf. Ich trug High Heels, ein kurzes, nuttiges Kleid und eine riesige Perücke. Ein Befreiungsschlag. Ich machte das, was ich mir jahrelang selbst verbot, weil ich es so gelernt hatte. Ich setzte mich über diese Grenzen hinweg und tat, was ich wirklich tun wollte: Ich selbst sein. Dabei dachte ich auch an meine Schulzeit und wie stolz ich war, nun endlich ein wahres Gefühl von Freiheit zu erfahren.
“MÄDCHEN” und “JUNGEN”. Heute bin ich dankbar, nicht mehr zwischen diesen zwei Schildern zu stehen, die mich so lange an mir selbst haben zweifeln lassen. Ich bin ein schwuler Mann, der seine feminine Seite als Dragqueen auf der Bühne auslebt und seine maskuline Seite beim Boxen rauslässt. Das Schlüsselwort heißt Ambivalenz – als Kind und Jugendlicher wusste ich das nicht. Ich brauche vor allem mich selbst, um zu wissen, was richtig und was gut ist. Das ist die Sicherheit, nach der ich mich so lange gesehnt habe.
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