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Seht ihr auf diesem Gemälde von 1937 auch einen Mann, der ein iPhone hält?

Ein Mann starrt konzentriert auf einen kleinen, rechteckigen Gegenstand, den er etwa auf Augenhöhe hält. Wir wissen nicht, wer der Mann ist oder was er da genau macht, aber er sieht schon ziemlich danach aus, als würde er mit seinem Smartphone gerade durch den Newsfeed scrollen.

Sein Gesichtsausdruck und seine Körperhaltung scheinen nur allzu vertraut. In keiner U-Bahn der Welt würde er noch Aufmerksamkeit erregen. Wäre da nicht die Tatsache, dass der Mann nur spärlich mit einem indianischen Lendenschurz bekleidet ist und in einem Gemälde sitzt, das im Jahr 1937 gemalt wurde. Es entstand also 70 Jahre vor der Erfindung des iPhones.

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Es handelt sich um Bild des italienischen Malers Umberto Romano, das heute im historischen Postamt von Springfield in Massachusetts hängt. Das Werk namens “Mr. Pynchon and the Settling of Springfield” orientiert sich sehr lose an tatsächlichen Ereignissen aus der Zeit vor dem amerikanischen Unabhängigkeitskrieg. Es zeigt ein Treffen zwischen englischen Siedlern und Mitgliedern der Pocumtuck und Nipmuck, zwei der größten Indianerstämme Neuenglands. Dieses Zusammentreffen fand in den 1630er Jahren in der Stadt Agawam im heutigen Massachusetts statt.

Ganz offensichtlich kann der Gegenstand, den der sitzende Mann so intensiv anstarrt, also kein iPhone sein. Doch worum handelt es sich dann? Ich wollte dem mysteriösen Gegenstand genauer nachgehen.

Zum ersten Mal wurde ich auf den Mann und seinen seltsamen Gegenstand durch den New Yorker Autor und Historiker Daniel Crown aufmerksam. Er veröffentlichte 2015 einen ausführlichen Artikel über William Pynchon in The Public Domain Review. Pynchon, im Bild ganz in pink gekleidet, war ein englischer Kolonist, der später die Stadt Springfield gründete. In Crowns Artikel wird das kleine Objekt zwar nur beiläufig in einer Bildunterschrift erwähnt, aber auch diese merkt an, dass es einem iPhone zum Verwechseln ähnlich sehe.

Da der italienische Maler Romano bereits 1982 starb und offenbar keine besonderen Anmerkungen zu dem sitzenden Mann gemacht hatte, begann ich meine Spurensuche direkt bei Crown. Der Historiker hält es durchaus für möglich, dass der amerikanische Ureinwohner auf dem Bild eine neue technische Errungenschaft in der Hand hält.

“Als Romano an dem Wandgemälde arbeitete, waren US-Amerikaner geradezu besessen von dem Mythos des ‘edlen Wilden’”, erklärt mir Crown. Er glaubt, dass Romano in seinem Bild darstellen wollte, wie moderne Technologie in einer neugierigen, aber technologisch völlig primitiven Gesellschaft eingeführt wurde. Den speziellen Gegenstand in der Hand des sitzenden Mannes hält Crown dabei für einen Spiegel.

Diese Vermutung passt zum Standpunkt des Mannes, denn er befindet inmitten verschiedener Keramikkrüge und anderer Handelsgüter. Daher ist es naheliegend, dass er keinen einheimischen Gegenstand in der Hand hält, sondern gerade eine Gabe der europäischen Siedler betrachtet. Tatsächlich wurden Spiegel zu dieser Zeit häufig als Geschenke ausgetauscht. Zu dieser Theorie passt auch, dass der Mann den Gegenstand etwa auf Augenhöhe hält.

“Bei diesem Bild stimmen so viele Dinge nicht, dass man gar nicht weiß, wo man anfangen soll”

Als Europäer im 17. Jahrhundert die ersten reflektierenden Gegenstände zu den amerikanischen Ureinwohnern brachten, “nahmen viele Stämme die Spiegel in ihre Stammeskultur auf”, schrieb die Experten für indigene Kunst, Fashion und Design, Dr. Jessica R. Metcalfe, 2011 in einem Blogpost. In ihrem Post bezieht sich Metcalfe, die selbst dem Turtle Mountain Chippewa-Stamm angehört, auf ein Buch von Edwin L. Wade über Stammeskunst. 1986 hielt Wade in The Arts of the Native American fest, auf welche unterschiedlichen Arten und Weisen amerikanische Ureinwohner und englische Siedler Spiegel nutzten:

Für die amerikanischen Ureinwohner waren Spiegel ein Symbol für Wohlstand und Ansehen. Sie brachten die Spiegel für gewöhnlich an Stäben oder anderen zeremoniellen Gegenständen an. Für sie war vor allem wichtig, dass die Spiegel Licht reflektieren konnten, nicht ihre Eigenschaft, Bilder zu spiegeln.

Trotzdem könnte Moranos Bild den Moment einfangen, in dem ein Stammesbewohner sich gerade zum ersten Mal von der fremden Technologie verzaubern lässt.

Doch Crown hat noch eine zweite Theorie: Es könnte sich hier auch um einen anderen westlichen Einfluss handeln. So könnte der Mann eine religiöse Schrift im Taschenformat in der Hand halten. “Vielleicht eines der Evangelien oder Psalme”, meint er. “Diese Ausgaben gab es zu dieser Zeit und sie hatten in etwa die gleiche rechteckige Form.”

Dr. Margaret Bruchac, Professorin für Anthropologie an der University of Pennsylvania, hat sogar eine dritte Theorie. Sie hält es für wahrscheinlich, dass es sich bei dem Objekt um eine Eisenklinge handelt, deren Spitze in der Handfläche des Mannes liegt.


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Allerdings betont Bruchac auch, dass es zahlreiche historische Ungenauigkeiten in dem Gemälde gibt. “Bei diesem Bild stimmen so viele Dinge nicht, dass man gar nicht weiß, wo man anfangen soll”, meint sie. “Ganz offensichtlich hatte der Künstler die meisten seiner Kunstobjekte noch nie gesehen.”

Obwohl Messer und Eisenklingen im 17. Jahrhundert beliebte Handelsgüter waren, waren sie normalerweise mit einem Loch ausgestattet, um sie an einer Axt oder einem Tomahawk zu befestigen. Dieses Loch fehlt jedoch auf dem Gemälde. Auch die Box, in der der Mann sitzt und die laut Bruchac wohl ein Kanu oder eine Transportkiste darstellen soll, “ähnelt keiner historischen Holzkiste und keinem Boot von einem der Indianerstämme aus dieser Zeit”.

Die Frau mit der Babytrage auf dem Rücken am unteren Bildrand müsste laut Bruchac eigentlich Kleidung tragen und auch der pinkfarbene Anzug von William Pynchon entspricht nicht dem historischen Vorbild. Ganz davon abgesehen, dass im Hintergrund eine Hexe auf einem Besen durchs Bild reitet.

“Das Gemälde ist ein Beispiel für ein romantisiertes Genre. Es sagt sehr viel über moderne US-amerikanische Fantasien und Fiktionen aus, in denen es um die Dominanz der Weißen über die indianischen Ureinwohner geht”, meint Bruchac. “Gleichzeitig enthält das Bild jedoch kaum brauchbare Informationen über die Ureinwohner selbst.”

Trotzdem kommt auch Bruchac nicht umhin, die seltsame Parallele zu moderner Technologie im Bild zu bemerken: “Sowohl in der Art, wie der Mann es hält, als auch der Aufmerksamkeit, die er dem Gegenstand schenkt, hat das Objekt eine fast schon unheimliche Ähnlichkeit mit einem Smartphone.”

Worum es sich bei dem Gegenstand tatsächlich handelt, werden wir wohl nie mit Sicherheit sagen können. Er könnte Klinge, Bibeltext oder Spiegel sein. Oder doch ein iPhone in der Hand eines Zeitreisenden? Vielleicht ist das Faszinierendste an dem Gemälde, das wir in einem Gegenstand immer genau das sehen, was wir in ihm sehen wollen.