Tim Cannon demonstriert unmittelbar nach dem Eingriff die Funktionen des Chips in seinem Unterarm. Foto von Peta Jenkin
Tim Cannon hält den menschlichen Körper für fundamental fehlerhaft und möchte gegen dessen Imperfektion mit Implantaten ankämpfen. Er hat sich nicht weniger zum Ziel gesetzt, als die Evolution mit den Methoden eines Garagenbastlers zu transformieren. Mit der Einpflanzung des ersten Chips, der Open-Source und nach Do-It-Yourself-Methode entwickelt wurde, hofft er, sich ein Stück mehr zum Cyborg umzubauen. Deshalb kam Tim Mitte Oktober nach Essen, zur größten Body-Modification-Zusammenkunft Europas, BMXnet.
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„Erfolreiches Skin-to-Skin Piercing“, „Magnetic Jewelery“, „Female Genitale Piercing“. Für den Ticketpreis von 400 Euro wird über vier Tage ein buntes Bouquet des Body Modding geboten. Und auch der partizipative Charakter soll nicht zu kurz kommen: Im Foyer des Konferenzbereichs suchen Schilder nach Freiwilligen für „Suspensions“—an der Haut von der Decke hängen—oder für Branding-Sessions. Journalisten sind dort allerdings nicht willkommen. Nachdem vor Jahren ein TV-Beitrag auftauchte, der in bester Boulevard-Manier sein Eltern-passt-auf-eure-Kinder-auf-Video mit Bildern der Veranstaltung unterlegte, haben die Veranstalter eine strenge No-Press-Maxime ausgegeben.
Um herauszufinden, wie die Body-Modification-Szene einen Bio-Hacker aufnehmen würde, habe ich Tim Cannon nach Essen begleitet. Da Tim im Vorfeld keinen Arzt überzeugen konnte, den Eingriff durchzuführen, ist er für seine sogenannte Körperverbesserung auf die Unterstützung der dort versammelten Fleischingenieur-Elite angewiesen:
„Sobald ich versucht habe, Ärzten zu erklären, was ich vorhabe, haben sie die Unterhaltung beendet. Die mantra-artige Antwort war, dass ich es nicht tun sollte.“ Das, was Tim vorhat, lässt sich allerdings nicht wirklich durch den hippokratischen Eid legitimieren. Er jedoch hält den menschlichen Körper für fehlerhaft und möchte darauf hinarbeiten für immer zu leben: „Ich möchte nicht in einer Hülle leben, deren Inneres mit jeder Sekunde, in der ich zu dir gerade spreche, weiter verrottet.“
Professor Dr. Cornelius Borck erinnert mich daran, dass Eingriffe immer auch als Körperverletzung zu bewerten sind: „Für jeden Arzt muss ein erkennbarer therapeutischer Grund vorhanden sein, damit er tätig wird. Ähnlich wie bei Schönheitsoperationen, muss immer ein Leidensdruck gegeben sein, der medizinisch durch ästhetische Maßnahmen gelindert würde. Medizinisches Wissen und Können ist immer auch gefährlich, und Eingriffe in die körperliche Integrität sind nicht harmlos“, erzählte mir der Medizinhistoriker. „Die Disability Studies, die seit einigen Jahren die Lebensumstände körperlich eingeschränkter Menschen untersuchen, zeigen, dass Normalität immer auch willkürlich ist.“
Der Prototyp des Circadia Chips und die von Steve Haworth entwickelte Silikon-Einkapselung. Fotos von
Lucas Dimoveo
Der Gedanke mit der imperfekten Menschheit leuchtet mir ein. Bei dem Teil mit dem „für immer leben“ bin ich mir nicht ganz sicher, ob ich das allgemeingültig für eine Option halte—schließlich gibt es immer wieder Personen bei denen ich eher eine beschleunigte Degeneration als eine verlängerte Lebensperspektive für gesamtgesellschaftlich vorteilhaft halte.
Tim jedenfalls hat einen unerschütterlichen Zukunftsglauben und hält mit großem Technikoptimismus die allgemeine Besserung der Gesellschaft für eine Aufgabe biologischer Ingenieure. Zusammen mit weiteren Bio-Hackern, Modifikations-Künstlern und Biologen hat Tim in Pittsburgh die Grindhouse Wetware gegründet. Der Zusammenschluss, der sowohl aus selbst gelernten Amateuren wie Experten besteht, verwandelt Keller und Garagen in Pittsburgh in Laboratorien zur Entwicklung der Mensch-Maschinen-Zukunft.
In den Ringfinger implantierte Magnete, die als sechster Sinn dienen, sind Standard für Grinder, die nicht nur biologische Forschung für eine Angelegenheit für jedermann halten, sondern ihren eigenen Körper praxisbezogen als Experimentierfeld für ihre Entwicklungen verwenden. Tim erzählt mir, wie er sich sofort ein Magnetimplantat hat einpflanzen lassen, nur wenige Wochen nachdem er es bei Lepht Anonym gesehen hatte.
Als absolute Koryphäe der Grinder-Szene propagiert Lepht Anonym „Körperkybernetik für alle“, und bevorzugt dabei als geschlechtsloses Es angesprochen zu werden und nicht mit einem spezifischen Gender assoziiert zu sein. Lepht leidet angeblich seit einigen Monaten unter einer Borderline-Persönlichkeitsstörung, und hat nun eine Debatte in der Szene entfacht, ob die radikalen, an sich selbst ohne Training durchgeführten Eingriffe, eine Mitschuld an der psychologischen Instabilität tragen—oder ob Cyborgism selbst die Lösung und eben nicht die Ursache der Probleme ist.
Unabhängig von solchen personalisierenden Debatten, kann Lepht Anonym als eine anwendungsorientierte Nachfolgerin jener Konzepte gelten, mit denen sich Donna Haraway 1985 die Zukunft ausmalte: „Im späten 20. Jahrhundert, in unserer Zeit, einer mythischen Zeit, haben wir uns alle in Chimären, theoretisierte und fabrizierte Hybride aus Maschine und Organismus verwandelt, kurz, wir sind Cyborgs. […] Die Inkarnation der Cyborgs vollzieht sich außerhalb der Heilsgeschichte.“ In ihrem Cyborg Manifesto malte sie sich 1985 ein Mensch-Maschine-Wesen aus und plädierte dafür „die Verwirrung dieser Grenzen zu genießen und Verantwortung bei ihrer Konstruktion zu übernehmen“. Unabhängig davon, wer welche Theorie teilt: Lepht ist eine respektierte Figur der Szene. So fertigt sich Tim momentan die von Lepht getragene Modifikation eines im Handrücken eingepflanzten Kompasses an, der automatisch aufleuchtet, sobald die Nadel Richtung Norden zeigt.
Nach dem Fingermagneten hat Tim sich auch einen RFID-Chip in die Hautfalte zwischen Daumen und Zeigefinger einpflanzen lassen. Seine funktionale Begründung lautet, „damit ich meinen Schlüssel nicht mehr vergessen kann, und der Chip die Türen für mich öffnet“.
Die Bio-Hacker von Grindehouse Wetware in ihrer Keller Werkstatt in Pittsburgh
Die neueste Entwicklung aus dem Hause Grindhouse Wetware, dessen Prototyp sich Tim nun in Essen hat einpflanzen lassen, ist der Circadia 1.0. Ein subkutaner Chip, der die Körpertemperatur misst und per Bluetooth überträgt, dessen drei LED-Leuchten angesteuert werden können, um Tims Unterarm-Tattoo von unten zu beleuchten und dessen Batterie per Induktionsladung kabellos aufgeladen werden kann.
Der Funktionsumfang klingt jetzt erst mal nicht so faszinierend—als müsste man sich für ein blinkendes Fieberthermometer dem Eingriff von einem nichtzertifizierten Arzt aussetzen. Außerdem gibt es doch längst komfortable „Wearables“, und auch die Jünger der Quantified-Self-Bewegung sind mit diversen Apps und ihrem Projekt der Selbstvermessung und Erfassung aller Aspekte ihres Lebens als Daten auch schon viel weiter. Das Nike+ Fuelband beispielsweise wird bequem am Handgelenk getragen, schneidet all deine physikalischen Aktivitäten wie Schrittfrequenz und -anzahl pro Tag mit und entwickelt für dich angepasste Trainingspläne und Leistungsüberwachung im Vergleich zum Rest der angemeldeten Community.
Aber Bio-Hackern geht es um mehr als einzelne Features, es geht ihnen darum, die vollständige Funktionalisierung des Körpers selbstbestimmt und unabhängig durchzuführen. Sie wollen ihre physische Existenz zu einem optimierten Objekt als Teil des Internets der Dinge machen und dabei einen geschützten und nichtzentralistischen Umgang mit Informationen in diesem Datenuniversum erreichen. Daher das große Misstrauen gegenüber der etablierten Wissenschaft und den großen Unternehmen, und der Ansatz von Untergrund-Forschung mit echter Hacker-Ethik, Open-Source-Methode und vernetzter, nichthierarchischer globaler Arbeitsteilung.
Klingt vielleicht nach der Vision von jemandem, der einige William-Gibson-Bücher zu viel gelesen hat. Andererseits: Es gibt in der Szene schon länger Gerüchte, dass IBM und andere wichtige Computerunternehmen an einem implantierbaren Chip, vergleichbar dem Circadia, arbeiten. Egal ob es auf das gute alte Cyberpunk-Kampfszenario von der dystopischen IT-Industrie vs. dem enthusiastisch-ethischen Hacker hinausläuft: Bisher sind die Möglichkeiten der Chips noch beschränkt. Tim stört das nicht, er hat ganz andere Träume von einer technisch-harmonisierten Welt.
„Ich finde unsere Umgebung sollte genauer und unmittelbarer darauf hören, was in unserem Körper vorgeht“, erzählte mir Tim. „Wenn ich also einen stressigen Tag habe, wird der Circadia mit meinem Haus kommunizieren und automatisch eine entspannende Atmosphäre vorbereiten und mir für den Feierabend vielleicht schon einmal die Badewanne einlassen.“
Der implantierte Chip lädt auf. Fotos von Lucas Dimoveo
Nun gut, und der Weg in diese schöne neue Welt soll nun eben über den Umweg der „Flesh Engineers“ der Body Modification Community führen. Nachdem noch einige Hindernisse überwunden wurden, wie z. B. das sublegale Erwerben eines Testverfahrens für implantierte Batterien—wegen strenger Patentierung und Nutzungsrechte war die Technik nur zu bekommen, nachdem sie vom digitalen Lastwagen der Gesundheitsindustrie herunterfiel—stand der weltweit ersten Implantation dieser Art nichts mehr im Wege.
Außer vielleicht Verständnisschwierigkeiten zwischen Bio-Hackern und der Body-Modification-Szene, die durchaus auch eher konservativ-serviceorientierte Seminare ausrichtete wie: „Entzündungen und Komplikationen“ oder „Das Internet effizient nutzen“. Faszinierenderweise sind Ratgeber in einer Community, in der sich ein Großteil der Praktiken an die Ideen des Neo-Primitivismus anlehnt, tatsächlich nichts Ungewöhnliches. Der weitverbreitete „Modern Primitivism“ geht hier vor allem von dem Buch Fakir Musafars aus, welches seine Anhänger in den 1990er Jahren darin bestärkte, jahrhundertealte Körper-Praktiken von Stammeskulturen als eigene primitiv-individualistische Ästhetik in unsere Gegenwart zu übertragen: zum Beispiel Praktiken wie die Skarifizierung, also ästhetisierte Hautabschürfungen und -markierungen.
Wie ein techno-optimistischer Bio-Hacker hierher passte, würde sich also noch zeigen müssen. Als ein motivierender Ansager durch den Raucherbereich schritt und dazu aufforderte, den „Anekdoten aus dem Leben eines Bodypiercers“ bei der Lesung aus seinem Buch Piercing is not a Crime zu lauschen, ging zumindest bei mir endgültig der Ambivalenz-Alarm los. Während der Siegeszug der Arschgeweihe doch schon in Best-Off 90’s Revueshows ironisiert wird, meint man hier immer noch gegen die eigene Diskriminierung kämpfen zu müssen. Ich versuchte, mich vorerst mit der Erkenntnis zu vertrösten, dass Widersprüche und eine gewisse moralische Dialektik in unserer Gesellschaft doch wirklich überall anzutreffen sind.
Steve Haworth, jahrelanger Stammgast auf der BMXnet und unangefochtener Superstar hier, erklärte mir zur Rhetorik des selbst eingeredeten Exils, dass „die Leute hier es gewohnt sind, als Freak Show abgestempelt zu werden. Auf dieser Zusammenkunft wollen sie nun endlich einmal sie selbst sein“. Nun gut. Steve jedenfalls ist ein Pionier der Szene. Er betreibt seit über 20 Jahren sein eigenes Studio in Phoenix, inklusive angeschlossener Hinterzimmerproduktion für abseitig-ästhetische Implantation und spezielle operative Instrumente.
Steve ist es auch, der den Eingriff bei Tim durchführen wird: Mit einer gesunden Mischung aus beängstigend-ruhigem Mittfünfziger und kleinem Kind, welches den Körper als Spielplatz versteht und dank 20-jähriger Erfahrung scheint er eine offensichtliche Wahl zu sein. Außerdem hat er mit Grindhouse Wetware zusammen eine spezielle Silikonhülle für den Circadia Chip entwickelt. Er versicherte mir, die Risiken und Schmerzen eines Eingriffs ohne Betäubung locker im Griff zu haben. „Wir haben eine Menge hervorragende Dinge, die wir mit Eis anstellen können.“
Ich konnte Tim in seinem Hotelzimmer, mitten im hochgeheimen Konferenzbereich, besuchen. Tims Zimmergenosse stellte sich mir als Magneto vor. Ohne es genauer zu erfragen, wusste ich einfach, dass der freundliche 64-jährige Berliner wohl keine Stelle seines Körpers unmodifiziert gelassen hat. Die EyeBall-Tattoos verblassten angesichts der Modifikation seiner Ohren mit verlängerten Ohrläppchen. Auch für Body Modificationists ist es eher ungewöhnlich, die Nippel von dort, wo die meisten Menschen sie haben, zur Steigerung der Empfindlichkeit auf die Haut an den Ohren zu verpflanzen.
Zwei Wochen nach der Implantation hat sich der Chip bereits in den Unterarm von Tim abgesenkt und integriert sich ohne Probleme in seinen Körper. Foto von Lucas Dimoveo
Gerade als Tim mir die Bluetooth-Ladefunktion des Chips demonstrieren wollte, rief Steves Assistentin per Skype an. Laut dem engen Konferenzzeitplan von Steve müsste der Eingriff genau jetzt durchgeführt werden, und so verabschiedete ich mich von Tim, der seine Hyperaktivität nun doch zum ersten Mal eindeutig gegen so etwas wie Nervosität getauscht hatte.
Zu der Implantation des Chips ließ Steve nur wenige langjährige Vertraute hinzukommen. Aber als ich Tim 20 Minuten nach dem Eingriff wiedertraf, wirkte er genauso redselig wie zuvor—nur dass er dabei einen Hügel im linken Arm hatte. Er erzählte mir von allen Details, die zu fragen, mir nie eingefallen wäre: „Steve und die anderen Helfer meinten während des Eingriffs, ich könnte ruhig anfangen zu bluten; dann ließe sich der Chip nämlich leichter unter die Haut schieben, aber irgendwie konnte ich das noch nicht ausreichend kontrollieren. Aber es hat ja trotzdem geklappt, ohne allzu große Schmerzen.“
Später nannte er mir den einzigen Unterschied, den er bisher wahrnahm: „Mein linker Arm ist kälter; ist wohl schon die Roboterkälte.“ Schnell gesellten sich immer mehr Besucher der Konferenz zu uns und vergaßen jegliche Skepsis gegenüber Technologie—spätestens, als Tim ihnen die Beleuchtung seines Tattoos vorführte.
Auch wenn die krude Naht in Tims Unterarm alles andere als harmlos auf mich wirkte, machte er sich die größten Sorgen vor der Zollkontrolle, bevor er schnell wieder auf seine übergeordneten Visionen zu sprechen kam: von Bio-Hackern wesentlich günstiger entwickelte Herzen, die Demokratisierung von Implantaten und die radikale Auflösung dessen, was die Gesellschaft als biotechnologisch normal erlaubt.
Als ich mit Tim nach seiner Rückkehr in die USA noch einmal sprach, bestätigte er, dass sowohl die Sorge um die Nähte in seinem Unterarm als auch die Angst vor dem Zoll unbegründet gewesen war. Während der Chip sich langsam in Tim’s Unterarm absenkt und die Heilung ohne Infektion verläuft, geht der Circadia nun bald in die erste Serienproduktion: In wenigen Monaten soll er für knapp 380 Euro durch die Netzwerke der Piercing- und Tattoo-Szene vertrieben werden, und für weitere 150 bis 200 Euro dort auch eingebaut werden können.
Wenn es nach Tim und seinem Kampf für die technologische Selbstaufrüstung geht, stehen ihm bald viele Mini-Cyborgs zur Seite, um die Grenzen der etablierten Definition von Menschlichkeit überwinden: „Die Gesundheitsindustrie und der medizinische Mainstream haben irgendwo eine willkürliche Marke von 100 Prozent gesetzt, und dahin wollen sie deinen Körper bringen. Bloß nicht darüber hinaus. Sie wollen verhindern, dass wir Menschen unsere Grenzen selbst bestimmen und überwinden können. Wie krank ist das denn bitte?“
Unsere Dokumentation Tim Cannon: DIY-Cyborg läuft auf MOTHERBOARD.VICE.com.