Fotos: Joe Zadeh
6. November 2016. Wijnstraat, Rotterdam. 16.12 Uhr.
Ich sitze in einem Bus voller Journalisten und „Influencer” in einer Seitenstraße Rotterdams und es pisst ohne Pause. Es sind keine Regentropfen sondern regelrechte Nägel, die auf das Dach prasseln. Bevor wir uns auf den Weg in Richtung Roter Teppich machen, ruft der Fahrer nacheinander die Medien auf, für die wir arbeiten, um zu schauen, ob alle an Bord sind. Die Daily Mail ist an Bord, die Sun ebenfalls und auch die Daily Sport. Ich bin in guter Gesellschaft. Lad Bible sind auch hier. Und Glamour Russland, Blooper Spanien, Cool FM Afrika. Es ist sogar eine wichtig aussehende Frau mit Kamera anwesend, die in einem YouPorn-T-Shirt den Gang auf und ab geht. Trotzdem setzt sich der Bus noch nicht in Bewegung, denn eine Person fehlt noch. Bibis Beauty Palace. „Bibis Beauty Palace? Hat jemand Bibi’s Beauty Palace gesehen?” Stille.
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Warum bin ich hier? Ich bin nicht sicher. Jemand hat mich gefragt und ich habe ja gesagt. Es klang nach einer guten Gelegenheit. Die MTV Europe Music Awards bieten die Art von kolossaler amerikanischer Absurdität, die den europäischen Verleihungen fehlt (riesige Budgets, massive Pyrotechnik, große Namen) und tun so, als ginge es um europäische Popmusik. Tatsächlich geht es allerdings darum, US-Exporte einem breiten europäischen TV-Publikum näher zu bringen (im Jahr 2014 waren die Zuschauerzahlen auf Rekordniveau). Das Line-up umfasste Martin Garrix, Shawn Mendes, The Weeknd, Kings of Leon, One Republic, Zara Larsson, Green Day, Afrojack, DNCE (was nicht „Dunce” ausgesprochen wird, wie ich bald erfahren sollte) und Bebe Rexha—außerdem waren Idris Elba, Jaden Smith, Jourdan Dunn, Charli XCX, Tinie Tempah und Gaz von Geordie Shore zu Gast. So nah sollte ich dem Herz der Mainstream-Popkultur wohl nie wieder kommen—außer in meinen Träumen, in denen ich Ellen DeGeneres’ Hosenstylist bin.
16.45 Uhr
Der Bus setzt sich in Richtung Ahoy Rotterdam in Bewegung, die Reise ist kurz aber bewegt. Wenn Journalisten widerwillig zusammengepfercht werden, werden sie meistens etwas hämisch und zynisch, wenn es um die Sache geht, über die sie berichten sollen. Außerdem werden groteske Gerüchte und Geschichten ausgetauscht, über die nie berichtet werden würde. Mir wird zum Beispiel erzählt, wie Robbie Williams in Bonos Haus Pilze geschmissen hat. Anscheinend fand Bono Robbie starrend im Flur. Angeblich sagte Robbie: „Das ist das schönste Gemälde, das ich je gesehen habe!”. Und angeblich antwortete Bono: „Das ist ein Fenster.”
17.21 Uhr
Wir erreichen etwas, das wie ein Roter Teppich aussieht. Ich nahm immer an—vielleicht etwas naiv—dass Rote Teppiche tatsächlich den Zweck hätten, von einem Ort zum anderen zu gelangen und dazu dienen, den Eingang der Veranstaltung zu erreichen. Falls du das auch glaubst, liegst du falsch. Denn dieser Rote Teppich führt nicht zu der Halle, in der heute die MTV EMAs stattfinden. Nein, er wurde in einem großen Nebengebäude 800 Meter entfernt davon ausgerollt. Es ist ein von Menschenhand geschaffener Gang ins Nichts. Den Teppich selbst will ich hier eigentlich gar nicht weiter kommentieren. Nur so viel: Es war eher eine riesige rote Decke. An einem Ende werden Prominente abgeladen, die den roten Weg an 700 schreienden, wild Snapchats aufnehmenden Fans vorbeilaufen sowie an 100 Journalisten, die mit ihren Diktiergeräten wedeln. Dann verschwinden sie durch die Hintertür, steigen wieder in ein Auto und werden zur richtigen Halle gefahren.
Mir wird ein Stehplatz zugewiesen—darauf steht „Noisy”. Mir fällt sofort auf, dass es kein Bier gibt, worüber ich in den nächsten drei Stunden noch oft nachdenken werde.
18.10 Uhr
Bis zur eigentlichen Show dauert es noch zwei Stunden und 50 Minuten. Da mir der Killerinstinkt eines echten Journalisten fehlt, werde ich schnell von der Daily Sport und einem großen Mann mit Stativ von meinem zugewiesenen Platz an der Absperrung verdrängt. Ich suche nach einem neuen Platz zum Stehen… der einzige freie Platz ist der von Bibi’s Beauty Palace. Wo bist du Bibi? Egal, ich nehme ihn. Ich werde Bibi. Danke Bibi.
18.48 Uhr
Fans, Geschrei, Fans, Geschrei. Keine Geschrei der Freude, sondern müde, schmerzhafte Schreie. Das Geschrei von jemandem, der tagelang gefoltert wurde und mittlerweile recht gelangweilt davon ist. Schreie, die durchgängig und eintönig sind und so klingen, wie ich mir einen schlimmen Tinnitus-Anfall vorstelle. Für die TV-Kameras, die zeitweise mitfilmen, entlockt eine Stimme aus den Lautsprechern den Anwesenden noch mehr Schreie, sodass es beinahe schon an Manipulation grenzt. „Wer freut sich auf MARTIN GARRIX?” Markerschütternde Schreie. Dann läuft 30 Sekunden lang ein Song von Jack & Jack (zwei Kinderstars, die anscheinend HipHop machen, aber eher aussehen wie zwei ausrangierte Figuren aus Hey Arnold) und das Geschrei wird so überwältigend, dass es nicht länger ein Ich und Sie gibt, nicht länger vier Wände um mich herum und einen Boden unter den Füßen—nur Schreie. Eine riesige und nicht enden wollende Kammer des Schmerzes und der Bewunderung.
19.00 Uhr
Ich sehe mir das Publikum etwas näher an. Der europäische Mainstream-Pop-Fan ist eine interessante Art von Musikfan. Ungefähr 85 Prozent sind weiblich, die meisten scheinen zwischen 16 und 17 Jahren alt zu sein und alle sind so gekleidet, als würden sie mit ihren Eltern nett essen gehen. Sie haben auch etwas Hogwarts-mäßiges an sich; irgendwie sauber, poliert, unschuldig und ausgesprochen enthusiastisch. Auf extrem verstörende Art. Ein Mädchen mit Halsband hält ein Schild voller batteriebetriebener bunter Lichter hoch, auf dem steht: „Danke Justin, dass du du selbst bist”. Ein junger Kerl mit kurzen dunklen Haaren sieht aus, als wäre er vom Wahnsinn besessen, wenn die Prominenten vorbei kommen; er schreit sie an, sie sollen Snapchat-Content mit ihm machen, doch sobald das Foto geschossen ist, verliert er jegliches Interesse und seine Aufmerksamkeit richtet sich darauf, den Content mit passender Bildunterschrift und veranschaulichender Verzierung hochzuladen. Ein Teil von mir respektiert ihn für so einen gnadenlosen An- und Aus-Knopf. Ein Teil von mir fühlt sich schlecht, ein Kind zu kritisieren.
19.12 Uhr
„Ich kann nicht glauben, wie viele Mechanismen hier im Spiel sind”, sage ich zu einem Fotografen in meiner Nähe. „Das Gekünstelte; wie die Produzenten telepathisch kontrollieren, wie sich das Publikum verhält, wenn die Kameras laufen; die Art, wie Prominente vorgeführt und herumgereicht werden; dass Rote Teppiche nirgends hinführen. Es ist so künstlich, aber auch so beeindruckend! Mich beeindruckt dieses Spektakel. Ich bin beeindruckt.” Der Fotograf wirft mir einen kurzen Blick zu, stellt seine Linse ein, schießt ein Foto von jemandem von Greenday und sagt „Schätze ja” und geht dann weg. Der Regen prasselt heftig auf das Dach. Ich kann hören, wie Ryan Tedder von OneRepublic einer Gruppe Journalisten sagt, dass er Honey G von X-Factor recht gerne mag.
20.57 Uhr
Feuerwerk. Tänzer. Eröffnungswitze. Applaus. Dynamische Lichter. Mehr Applaus. Bier, endlich Bier. Ich sitze in der großen Halle und die Veranstaltung ist in vollem Gange. Die ersten 15 Minuten sind wahrscheinlich die intensivsten 15 Minuten meines ganzen Lebens. Und ich war bereits in zwei Autounfälle verwickelt (einen mit einem Lastwagen auf der A1 und einen, als ich in Gateshead nach einem Hühnerladen suchte). Die Moderatorin Bebe Rexha steht oben auf einem Thron, 20 Meter in der Höhe—und als wolle sie uns auf die nachfolgende Pyrotechnik-Orgie einstimmen, pisst ihr Thron Funken.
Bruno Mars und seine Gang aus tanzenden Kumpels machen einen auf dicke Hose, wie eine sehr Hollywood-mäßige Gang aus Highschool-Rebellen, und sie spielen diesen Song, der klingt wie „King Kunta”. Dann stehen auf einmal Joe Jonas und seine Band DNCE auf einer schwebenden Bühne und taumeln unsicher über einer ganzen Generation niederländischer Teenager. Wirklich überall geht Feuerwerk los. Etwas davon scheint direkt ins Publikum zu feuern. Ist das gefährlich? Ich sehe, wie ein junger Fan auf einer Luftmatratze in Form eines Pizzastücks crowdsurft; ein Feuerwerkskörper geht neben ihm los, er fällt vom Pizzastück und verschwindet in einem Meer aus Körpern. Lieber Leser, ich habe das Kind nicht wieder auftauchen sehen. Die EMAs sind scheißgefährlich.
21.10 Uhr
Die Verwirrung nimmt noch zu, als der Schweizer neben mir eine große Dose Tomaten auspackt und mir eine anbietet. Schöne Mischung eigentlich: rote, grüne und einige dieser tollen gelben. Ich nehme eine Tomate. Als ich mich wieder der Bühne zudrehe, hat sich wieder alles verändert. Jetzt spielt Martin Garrix Bass zu einem seiner Songs, auf diese ja-ich-spiele-nur-Bass-aber-ich-habe-den-ganzen-Song-geschrieben-es-ist-nur-nicht-sonderlich-einfach-ihn-live-richtig-umzusetzen-also-fick-dich-Art, irgendwie Mark-Ronson-mäßig.
22.21 Uhr
Du kannst über Popmusik sagen, was du willst, aber die Leute wissen, wie man eine Party schmeißt. Jeder einzelne Auftritt heute Abend hat irgendein verrücktes, obszönes und unglaubliches Gimmick. Zara Larsson macht eine einwandfreie Nummer mit zehn Tänzerinnen; Lukas Graham hat ein ganzes Orchester; The Weeknd kommt aus einer riesigen Kuppel; OneRepublic lassen ungefähr 2.000 Liter Wasser über sich schütten, während sie auftreten; Bebe Rexha singt erst ein Ständchen für ein drei Meter großes haariges Monster mit riesigen melancholischen Augen und bespringt es dann und Afrojacks ganzer Auftritt fühlt sich an wie der größte Zumba-Kurs der Welt. Ein Zyniker würde vielleicht Parallelen zu Biebers Auftritt bei den AMAs letztes Jahr sehen sowie zu Kanyes schwebender Bühne, trotzdem lässt das alles die Brit-Awards aussehen wie eine Weihnachtsfeier von Aldi. Ich fange an zu denken, dass die MTV EMAs das Großartigste sind, bei dem ich je zu Gast war.
23.10 Uhr
Rockmusik spielt bei den Auftritten eine überraschend große Rolle. Die Kings of Leon spielen, ebenso Green Day (zwei Mal), beide klingen jedoch ausgesprochen dünn. Es ist nicht so, als würden Green Day keine energische Performance abliefern. Wir haben jedoch zwei Stunden damit verbracht, Popkünstlern dabei zuzusehen, wie sie Musik machen, die nicht nur im Refrain eine Hook hat, sondern auch in den ersten sechs Sekunden, dem Pre-Chorus, der Bridge und dem Outro. Selbst durch den dichten Nebel des Zynismus hindurch sagt irgendetwas tief in mir drin: „Ja, ich mag das hier sehr, diese Popmusik”. Wenn auf all das also Green Day oder Kings of Leon folgen, die richtige Instrumente spielen und traditionelle Songstrukturen haben, dann ist das, naja, langweilig. So als würdest du bei McDonalds einen Salat bestellen.
23.41 Uhr
Schnell wird klar, dass die Preise selbst bei den MTV EMAs keine besonders große Rolle spielen. Die Produzenten der Show wissen das und schaffen es, zehn davon in einer Videomontage abzuhaken, ohne Pomp oder Zeremonie. Je länger die Show dauert, desto mehr scheint die unausgesprochene Regel zu gelten, dass so wenig wie möglich aus der echten Welt in diese vier Wände dringen soll. Niemand widmet einen Preis etwas, das auch nur im Entferntesten mit einem guten Zweck, Demut oder Politik zu tun hat. Niemand erwähnt die Tatsache, dass die Welt sich innerhalb der nächsten 24 Stunden durch die US-Wahlen verändern könnte. Irgendwann versucht Billie Joe Armstrong über die Wahlen zu reden, aber er murmelt nur etwas wie: „Es gibt übrigens eine Wahl”. Niemand interessiert sich dafür. Sie wollen einfach, dass er mit „American Idiot” weitermacht. Er befolgt es. Dann schießen Unmengen an Feuerwerk in eine Millionen Richtungen und es ist vorbei. Es ist alles vorbei. Das Ende ist gekommen.
00.58 Uhr
Hier reißen die Notizen in meinem iPhone ab und meine Gedanken auch. Tut mir leid, dass ich nicht mehr von der Aftershow-Party berichten kann. Ich habe das Gefühl, dass ich euch als Journalist womöglich nicht gut versorge. Ich kann allerdings folgendes sagen: Das Ganze fand in einem Club namens Paradise City statt, ein super Club. Es gab darin einen Friseur, ein temporäres Tattoo-Studio, einen Hotdog-Stand und einen kleinen Darkroom mit der Aufschrift „XXX”. Ich glaube, Afrojack hat aufgelegt, und ich erinnere mich daran, einen von den Kings of Leon gesehen zu haben, wie er Kartoffelspalten an einem Holztisch isst. Ich habe auch noch Erinnerungen daran, wie Jayden Smith zu TLC ausgerastet ist. Danach erinnere ich mich nur noch daran, dass ich mit einem „Influencer” aus Österreich Wodka-Shots gesoffen habe. Mir wurde gesagt, dass ich mich später vollgekotzt habe. Danke fürs Lesen.