In der Weihnachtszeit verändert sich für fast alle Menschen in unseren Kulturkreisen etwas: Die einen ziehen einen fetten Weihnachtsbonus an Land, die anderen müssen im Weihnachtsgeschäft erheblichen Stress und eine ausgebrannte Kundschaft über sich ergehen lassen. Und wieder andere versuchen, einfach nur irgendwie durch die vierte Pandemiewelle zu kommen.
Wie aber wirkt sich das Weihnachtsgeschäft auf die Menschen in der Sex- und Erotikbranche aus? Um das herauszufinden, haben wir mit vier Personen gesprochen, die in unterschiedlichen Bereichen der Branche tätig sind oder waren.
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Sarah Jessica Blume, 51, Sexarbeiterin
VICE: Ist deine Tätigkeit in der Weihnachtszeit anders als sonst?
Sarah Jessica Blume: Menschen sind einsam. Da geht es gar nicht mal so sehr um die sexuelle Handlung, sondern um Gesellschaft. In der Weihnachtszeit sind alle Menschen bei ihren Liebsten, aber manche haben das aus den unterschiedlichsten Gründen nicht. Vor etwa sechs Jahren hat mich ein Herr um die 70 gefragt, ob ich nicht den Heiligabend mit ihm verbringen wolle. Ich bin dann um 23 Uhr – nach der Zeit mit meiner eigenen Familie – zu ihm gefahren. Der Mann hatte gerade seine Frau verloren und kein Interesse an irgendwelchen sexuellen Tätigkeiten. Er wollte einfach nur mit jemandem zusammen am Weihnachtsbaum Weihnachtslieder singen. Ich fand das total rührend und schön. Wir haben ein bisschen gekuschelt, aber es ist weiter nichts passiert. Ich habe am Ende da übernachtet und morgens mit ihm gefrühstückt. Und ich habe mich auch für diese Erfahrung bedankt. Das hat mir gezeigt, dass Sexarbeit so viel mehr ist als nur rumvögeln.
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Ich habe den Mann ein Jahr später nochmal gesehen, er hatte mich wieder für den Heiligabend gebucht. Danach ist er seiner Frau leider hinterhergegangen. In seinem Testament stand wohl, dass man mich benachrichtigen solle. Ich fand es süß, dass er sich an die guten Zeiten erinnert und mich bedacht hat. Ich habe dann etwas nachgeforscht und bin zu seinem Grab gefahren, um eine Blume darauf abzulegen.
Woran merkst du, dass Kundinnen und Kunden in dieser Zeit einsam sind?
Das Gespräch fängt anders an. Viele Kundinnen und Kunden kommen direkt zur Sache und fragen, ob ich bestimmte Services anbiete. Einsame Menschen wollen eher reden oder schreiben. Die sagen mir das, oder ich höre es an der Schüchternheit am Telefon. Der mittlerweile verstorbene Kunde hat das Gespräch direkt damit angefangen: “Ich möchte gar nicht stören und vielleicht ist das auch nichts für Sie, aber meine Frau ist gestorben”, sagte er. Da wusste ich: Das hat nichts mit Sex zu tun.
Bietest du an Weihnachten einen besonderen sexuellen Service an?
Jemand hat mich mal gebeten, ihm als Knecht Ruprecht “die Rute zu geben”. Das habe ich dann auch gemacht. Ich sollte auch mal als Weihnachtsfrau erscheinen und dem Kunden seinen größten Weihnachtswunsch erfüllen. Ich habe dann im Kostüm zwischen seinen Beinen gekniet und ihm einen geblasen. Ich finde das schön.
Nimmst du an den Weihnachtsfeiertagen einen anderen Preis?
Nein, ich will das nicht ausnutzen. Wenn ich mir als Selbstständige vorgenommen habe, über die Feiertage zu arbeiten, muss ich nicht extra Geld rausholen. Bei mir gilt immer der gleiche Preis. Der beginnt je nachdem bei 120 bis 150 Euro pro Stunde. Wenn es über Nacht wird, geht es natürlich ein bisschen runter, aber so genau möchte ich eigentlich nicht auf die Preise eingehen. Ich ziehe mich außerdem gerade aus der Branche zurück, ich mag nicht mehr. Durch die Pandemie wurde es zuletzt immer schwieriger. Weil ich hauptberuflich als IT-Administratorin arbeite, bin ich finanziell auch nicht auf die Sexarbeit angewiesen.
Wie findet es deine Familie, wenn du über die Feiertage arbeitest?
Ich lebe alleine und habe niemanden, auf den ich großartig aufpassen muss. Meine Kinder wohnen bei der Ex-Frau, meine Geschwister sind in der ganzen Welt verstreut. Ich werde die nächsten Tage mit meiner Mutter telefonieren und vielleicht am zweiten Weihnachtsfeiertag mit ihr essen gehen oder bei ihr sein. Von daher fällt das gar nicht auf, wenn ich danach noch arbeiten gehe. Ich habe aber die Regel, dass ich in den Tagen maximal zwei Termine annehme.
Jolee Love, 32, Porno- und Webcamdarstellerin
VICE: Wie sieht dein Job in der Weihnachtszeit aus?
Jolee Love: Ich ändere meine Arbeit im Dezember komplett: Ich nehme keine Pornodrehs außerhalb Berlins mehr an und konzentriere mich zu 90 Prozent auf die Webcam. Der Dezember ist in der Webcam der mit Abstand stärkste Monat. Ich habe dann ungefähr doppelt so viele User wie in einem anderen starken Monat im Jahr. Es sind dann auch trotz der Feiertage mehr Frauen online, die Shows anbieten.
Arbeitest du auch an den Feiertagen selbst?
Ich bin an Heiligabend online und versuche es auch an den Weihnachtsfeiertagen. Ich verbringe deswegen aber nicht weniger Zeit mit meiner Familie. Meine Shows lege ich so, dass es mit den Feiern zeitlich passt, und sage ihnen auch nicht, dass ich danach noch arbeiten werde. Mein Partner unterstützt mich und ist sehr stolz auf meinen Job, ihm macht das nichts aus. Wenn er jetzt allerdings sagen würde, wir gehen über Weihnachten etwas essen, dann ginge das natürlich vor.
Wie sind die User an den Weihnachtstagen?
Die meisten Männer in meiner Webcam sind entweder dann online, wenn ihre Frauen und Kinder im Bett sind, oder weil sie wirklich alleine sind. Man merkt das daran, dass sie jemanden suchen, der zuhört und da ist. Gerade an Weihnachten sind diese Leute sehr lange online. Weihnachten ist Familienzeit, und Leute, die keine haben, suchen diese Aufmerksamkeit zum Teil bei mir.
Ich sehe das als Teil der Dienstleistung. Wenn ein User sich besonders fühlen möchte oder etwas Aufmerksamkeit von mir will und ich damit einverstanden bin, dann kann ich ihm das geben. Aber ich liebe diese Menschen nicht und werde auch keine Gefühle zu ihnen aufbauen. Deswegen würde ich außerhalb der Shows auch keine Treffen oder Kontakt mit ihnen haben. Das mache ich generell nicht.
Hast du schon mal ein Weihnachtsgeschenk von einem User bekommen?
Es gibt einige Männer, die sich daran erfreuen, mir eine Freude zu machen. Manche schenken mir Unterwäsche, Kostüme oder Schuhe, die sie vor der Cam sehen wollen. Andere kaufen mir etwas von meiner Amazon-Wishlist. Einer hat mir mal eine Ultraschall-Zahnbürste für etwa 300 Euro gekauft. Aber das schönste sind die Geschenke, in die User Zeit investieren. Manche schneiden Videos aus ihren Lieblingsszenen von mir zusammen oder schicken mir in einem Umschlag ausgedruckte Fotos von mir. Daran sehe ich, wie sehr sie mich und meine Arbeit schätzen und dass sie mich nicht nur als Objekt sehen. Das ist für mich das schönste Geschenk.
Denkst du dir zu Weihnachten ein spezielles Angebot aus?
Ich verkleide mich gerne oder schlüpfe in andere Rollen, und an Weihnachten nutze ich das aus. An den Adventssonntagen platziere ich ein bisschen Weihnachtsdeko im Hintergrund und ziehe mir ein weihnachtliches Outfit an. Ich biete im Dezember auch mehr Videos an als das ganze Jahr über, weil sie sich besser verkaufen und ich eine Art Adventskalender damit machen kann. Ich lade zwar nicht jeden Tag einen neuen Clip hoch, das schaffe ich nicht, aber zwei bis drei in der Woche. In einem normalen Monat schaffe ich vielleicht zwei.
Ich habe aber auch schon Weihnachtspornos gedreht. Besonders an den ersten erinnere ich mich gern zurück: Da habe ich bei einer deutschen Produktion mitgemacht, mit Größen der deutschen Branche – zum Beispiel Conny Dachs. Das war auch das erste Mal, dass ich mit so vielen Leuten am Set war. Wir waren vier Frauen und zwei Männer. Wir haben dann eine Weihnachtsgeschichte gespielt: Der Chef lädt seine Mitarbeiter zu einer besonderen Party ein. Das war total aufregend.
Johanna*, 25, Ex-Prostituierte
*Vor etwa einem Jahr ist Johanna aus der Prostitution ausgestiegen, sie möchte nicht als Ex-Sexarbeiterin bezeichnet werden. Johanna heißt eigentlich anders, hat aber Angst, dass jemand aus ihrem alten Umfeld sie hier erkennt.
VICE: Du bist aus der Prostitution ausgestiegen, wie kam es dazu?Johanna:Ich bin mit 19 in die Branche reingekommen. Nach meinem Abi musste ich gleich in die Psychiatrie, ich konnte zu der Zeit nicht arbeiten oder studieren. Gleichzeitig wollte ich aus meinem missbräuchlichen Zuhause raus. Eine Freundin hat vorgeschlagen, dass ich mich auf einer Sugar Daddy-Seite anmelde, das habe ich dann drei Jahre lang gemacht. Danach kamen Auto-Dates: Ich habe eine Online-Anzeige geschaltet, die Freier am Auto getroffen und bin mit ihnen in den Wald gefahren. Über diese Anzeige haben mich auch meine Zuhälter gefunden. Ab da habe ich hauptsächlich in Hotels und in der Psychiatrie gewohnt. Die Arbeit mit den Zuhältern war beschissen, aber es war schwer, da rauszukommen.
Eines Abends bin ich in eine andere Stadt abgehauen und habe alle Kontakte gelöscht. Die Zuhälter haben mir erst gedroht, mich dann aber in Ruhe gelassen. Danach habe ich mich in einer Escort-Agentur angemeldet und hatte im Monat ungefähr vier Freier. Für mich stand da schon fest, dass ich unbedingt raus muss, aber ich war mitten im Umzug und habe Geld gebraucht. Vor etwa einem Jahr habe ich mir Hilfe gesucht, eine Betreuung und einen Behindertenausweis bekommen und das Finanzielle einigermaßen geregelt. Seitdem war ich nicht mehr anschaffen.
Wie hast du als Prostituierte Weihnachten verbracht?
Wir haben uns im Dezember für eine oder zwei Wochen in einem Budget-Hotel eingemietet. Damals waren wir eine Gruppe von Frauen: Vier von uns waren immer dabei, eine war die Freundin des Zuhälters, die andere hatte Schulden bei ihnen. Dann kamen viele Frauen im Wechsel, meistens aus Rumänien, eine kam aus Italien. Die Zuhälter haben immer wieder neue Frauen gebracht. Jede hatte ein eigenes Zimmer und hat dort die Freier empfangen. Zwischendurch haben wir Frauen uns getroffen und geredet, bisschen getrunken und zusammen in einem Bett geschlafen. Wir haben Weihnachten eigentlich nie gefeiert, nicht alle von uns waren christlich oder überhaupt gläubig. Für uns war das ein Tag wie jeder andere. Wir haben generell versucht, jeden Abend mit etwas Schönem zu beenden: Wir saßen zusammen, haben gekuschelt und uns Serien auf dem Handy angeschaut oder sind in eine Shisha-Bar gegangen. Manchmal habe ich mein Handy ausgemacht, damit mich kein Freier mehr kontaktieren kann.
Ist Prostitution in der Weihnachtszeit anders?
Man hat ab dem 1. Dezember gemerkt, dass die Freier ihren Weihnachtsbonus bekommen haben, es kamen mehr als sonst. Während der Feiertage selbst war es ruhiger, da waren die meisten bei ihren Familien. Die, die kamen, haben sich über ihre Familie ausgekotzt und gesagt, dass es Stress mit der Frau oder der Schwiegermutter gab. Ich habe so getan, als würde es mich interessieren, aber innerlich gedacht: “Du Wichser, und jetzt kommst du her und betrügst deine Frau.”
Hast du schon mal ein Weihnachtsgeschenk von einem Freier bekommen?
Ganz selten haben welche Geschenke gebracht. Ich hatte einen Stammfreier, der wohl irgendwann gemerkt hat, dass ich immer Alkohol und Kippen da hatte. Dann hat er mir Alkohol und Kippen geschenkt. Das fand ich super: Wenigstens etwas, dass ich gebrauchen konnte. Die anderen haben eher Dessous gebracht – aber vor allem, weil sie wollten, dass ich sie für sie trage. Oder Pralinen.
Hast du in der Zeit mehr Geld verdient?
Die Zuhälter haben uns generell vor allen Feiertagen ins Hotel geschickt. Aber am Ende des Jahres geht es schon ab dem 1. Dezember rund. In dem Monat habe ich ein Drittel mehr eingenommen als sonst. An einem guten Tag kamen 200 Euro zusammen. Davon mussten wir das Hotel selber zahlen, das waren 70 Euro pro Nacht. Von all unseren Einnahmen mussten wir den Zuhältern die Hälfte geben. Wenn mal nicht genug reinkam, haben sie es vorgestreckt. Ich hatte schon mal 400 oder 500 Euro Schulden bei ihnen. Wenn ich gar kein Geld hatte, habe ich mich wieder in der Psychiatrie eingewiesen. Dort gab es immerhin garantiert Essen und ein Bett.
Paul Gee, 35, Stripper
VICE: Ist dein Job in der Weihnachtszeit anders als sonst?
Paul Gee: Ich bin in der Zeit fast immer in meinem Weihnachtsmann-Kostüm gebucht, die Leute bestellen das explizit. Die Anzahl an Junggesellinnenabschieden geht zum Jahresende rapide zurück, der Anteil an Firmenevents und Weihnachtsfeiern geht hoch. Es gibt eine große Supermarktkette, deren Filialen immer Stripper und Stripperinnen zu ihren Weihnachtsfeiern buchen. Jedes Jahr rufen mindestens zwei oder drei Filialen in meiner Agentur an. Da kommt es auch öfter vor, dass ein Duo gebucht wird – also ein Stripper und eine Stripperin –, damit alle Geschlechter angesprochen werden. Das passiert über den Rest des Jahres nicht so oft.
Wie ist das Publikum bei Firmen-Weihnachtsfeiern?
Ich glaube, die Firmen, die das buchen, haben generell eine lockere Unternehmenskultur, aber der Arbeitskontext wird schon vergessen. Neben der Supermarktkette buchen mich in der Zeit vor allem Pflegedienste oder Friseure, weil da viele Frauen arbeiten. Meist ist es die Chefin, die das als Überraschung für alle bucht, und dann freuen sich viele total über die tolle Chefin. Es ist auf Firmenevents sehr angenehm.
Normalerweise habe ich bei jedem Auftritt einen Stuhl, da setze ich die Hauptperson drauf. Bei den Weihnachtsfeiern kann ich wechseln, weil es nicht die eine Junggesellin oder das eine Geburtstagskind gibt. Aber ich wähle generell keine Personen aus, die zu betrunken sind, zu offensiv sind oder schon mit verschränkten Armen im Publikum stehen. Das wäre nicht gut für die Show, weil ich in der Performance viel mit ihr interagiere: Ich tanze um sie herum, hebe sie hoch und wirbele sie herum, lege sie auf den Boden auf ein Tuch. Manchmal performe ich mit Wasser oder Konfetti. Da funktioniert eine passive Kooperation am besten.
Kannst du dich an eine Weihnachtsfeier besonders erinnern?
Ein großer Elektronikmarkt hat zur Weihnachtsfeier eine ganze Gruppe Stripper gebucht, direkt im Laden. Die hatten ein ganzes Unterhaltungsprogramm, das war cool.
Machst du in der Weihnachtszeit mehr Umsatz?
Umsatzmäßig ist die beste Zeit im Sommer, weil die Junggesellinnenabschiede da krachen. Die Saison ist etwa von Frühling bis zum August. Im Herbst wird es dann ein bisschen schlechter und am Ende gibt es nochmal zusätzliche Jobs durch die Weihnachtsfeiern. Das ist aber nicht so viel wie bei den Junggesellinnenabschieden. Wie viel genau ich in einem Monat verdiene, will ich nicht sagen. Aber im Sommer mache ich als Stripper doppelt soviel Umsatz wie im Dezember. Wegen der Corona-Pandemie war das Weihnachtsgeschäft in diesem und im letzten Jahr außerdem fast nicht existent.
Arbeitest du auch an den Feiertagen?
Ich arbeite sehr gerne, und ich habe auch eine Agentur, die deutschlandweit vermittelt. An Heiligabend und am ersten Weihnachtsfeiertag gibt es öfter Anfragen von Leuten, die keinen Bock haben, Weihnachten zu feiern und im Freundeskreis einen Stripper buchen. Am 25. und 26. organisieren manche Clubs in Berlin Partys und buchen dafür einen Weihnachtsmann und eine Weihnachtsfrau am Eingang. Die sind dann sexy angezogen und verteilen Süßigkeiten.
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