Foto: Christoph Schattleitner, VICE Media
Dieser Text wurde von einer VICE-Leserin im Rahmen unserer #NichtMehrWegschauen-Aktion verfasst. Schreib uns, wenn auch du eine Geschichte zu erzählen hast.
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Die folgende Geschichte ist sicher kein Einzelfall. In den vergangenen Jahren kam es regelmäßig vor, dass ich sexuell belästigt, mies angesprochen oder wie ein zum Kauf stehendes Objekt offensiv gemustert wurde. Es wurde Alltag. Aber die erste Belästigung, die ich erfahren habe, war auch die übelste und prägendste von allen. Nach 15 Jahren des Verdrängens will ich die Geschichte heute zum ersten Mal erzählen.
Ich war 13 oder 14 Jahre jung—ein wohl behütetes Teenie-Mädchen auf dem Weg zum Erwachsenwerden. Mir war beigebracht worden, selbstbewusst zu sein, und ich hatte keinen Grund, es nicht zu sein. Ich war auf dem Heimweg von der Schule. Nein, es war nicht mitten in der Nacht; es war nicht einmal dunkel. Es war mittags, hell, die Sonne schien ein wenig. Von meiner Schule waren es damals sechs Stationen mit der Straßenbahn nach Hause. Ich stieg ein und setzte mich auf einen der Zweier-Plätze—jene, bei denen man sich gegenüber sitzt und nicht nebeneinander
Ein Mann nahm gegenüber Platz. Einer vom Typ unsympathischer Opa: Mitte 60 oder Anfang 70, Halbglatze, blauer Rollkragenpulli und blaues Sakko. Sehr genau weiß ich noch, dass ich mich fragte, ob er einen Fußball verschluckt hatte, weil sein Bierbauch so massiv war. Ich saß da und starrte aus dem Fenster. Als er mich ansprach, sah ich, wie er seinen Penis aus der Hose geholt hatte und dieses kleine schrumpelige Ding mit seinen kleinen wurstigen Fingern rieb. Er sagte noch etwas—was genau, weiß ich nicht mehr. Es war wohl etwas wie “Schau dir das genau an!”.
Ich habe Ekel in seiner reinsten Form gefühlt.
Ich weiß nicht mehr, was ich in diesem Moment dachte. Ich war perplex, vor den Kopf gestoßen und verstand nicht, was passierte. Ich habe Ekel in seiner reinsten Form gefühlt. Ich stand auf und stieg bei der nächsten Haltestelle aus. Er rief mir noch irgendetwas hinterher. Ich drehte mich nicht um und ging den Rest des Weges zu Fuß nach Hause. Meinen Eltern erzählte ich nichts davon.
Flucht war für mich die einzig realistische Option. Ich hätte nicht gewusst, wie ich anders reagieren sollte. Ich kannte diese Situation nicht. Es war mir neu, dass ein Mensch so etwas tun kann. Ich fand es eklig und war geschockt. Wut und Frustration lösten Ekel und Schock aber schnell ab. Welches Recht besaß dieser Mann, einem Mädchen so herabwürdigend gegenüberzutreten? Warum habe ich nicht anders reagiert? Warum habe ich nichts gesagt? Warum haben andere Fahrgäste nicht reagiert? Irgendjemand muss das doch gesehen haben, oder?
Manche dieser Fragen beschäftigen mich heute noch. Ich denke, dass meine Reaktion nicht anders ausfallen hätte müssen. Ich denke, dass Frauen generell und ich besonders in diesem Alter gar nicht in eine derartige Situation kommen dürfen. Ich weiß noch, wie ich mir selbst Vorwürfe gemacht habe. Ich fragte mich, was ich falsch gemacht hatte und warum ausgerechnet mir das passierte. Das falsche Schuldeingeständnis und der Schock führten dazu, dass ich es niemandem erzählte. Ich packte den Vorfall in eine gedankliche, emotionale Schublade und nahm mir vor, sie nicht mehr zu öffnen.
Ich würde meiner Tochter zu verstehen geben, dass es nicht ihre Schuld und sie nicht machtlos ist. Und ich würde ihr danken, dass sie darüber spricht.
Mittlerweile weiß ich, dass ich keine Schuld habe. Im Gegenteil. Vorwürfe mache ich heute den Umstehenden, die nicht reagiert haben. Ich denke nicht, dass das keiner bemerkt hat. Der Kerl hat ja nicht geflüstert. Die Hilfe von Passanten und anderen Fahrgästen hätte mir in diesem Moment sehr geholfen und das Erlebnis auch danach einfacher zu verkraften gemacht. So eine Situation ist nämlich nicht nur aufgrund der Handlung selbst unangenehm. Wenn ich heute daran denke, wird mir manchmal immer noch schlecht. Aber nicht, weil die Handlung eklig oder grausig war, sondern weil ich machtlos war.
Damals wusste ich nicht, dass das etwas Alltägliches ist. Ich dachte, ich wäre die einzige, der so etwas passiert. Ich war noch nicht in dem Alter, in dem man sich für Gesellschaftsdebatten interessiert. Ich las damals wohl auch noch keine Zeitung. Ich war unbeschwert. Wieso sollte ich mir darüber Gedanken machen? Und obwohl mein Elternhaus immer ein offenes war und ich sehr viel Vertrauen zu meinen Eltern habe, wollte ich es nicht erzählen. Vielleicht weil ich mich nicht verwundbar machen wollte? Vielleicht weil es mir peinlich war? Oder weil ich mir ganz einfach nicht eingestehen wollte, wie machtlos ich war? Genau weiß ich das ehrlich gesagt nicht mehr.
Was wäre passiert, wenn ich es erzählt hätte? Rein rechtlich gar nichts, außer vielleicht eine Anzeige gegen Unbekannt. Eventuell wären meine Eltern daraufhin sorgenvoller gewesen? Ich weiß es nicht. Ich stelle mir vor, wie ich reagieren würde, wenn mir meine—theoretische, zukünftige—Tochter so etwas erzählen würde. Ich wäre wahrscheinlich rasend vor Wut. Ich würde nicht verstehen, wie jemand die Integrität eines Jugendlichen derart verletzen kann. Ich würde ihm seinen Schniedel sonstwohin lang ziehen. Ich würde meiner Tochter zu verstehen geben, dass es nicht ihre Schuld und sie nicht machtlos ist. Und ich würde ihr danken, dass sie darüber spricht.
Ich sagte ihm, er soll sich seinen “Begleiter” in den Hintern stecken und sich verpissen. Ich war zum ersten Mal seit langem nicht mehr machtlos.
Ehrlich, Leute, sprecht darüber! Ich weiß, es nicht einfach—ich selbst bin bis vor Kurzem diesen Situationen auch aus dem Weg gegangen. Aber seit ich den ersten Entwurf dieses Textes geschrieben habe und mich intensiv mit dem Thema und vor allem mit meinen Erfahrungen auseinandergesetzt habe, gehe ich offener mit solchen Situationen um.
Vor ein paar Tagen hat mich auf dem Weg zur Haltestelle ein Typ angesprochen. Ich wusste gar nicht, dass er mich meinte, da er telefonierte. Aber sein “Hey Bebe, do you want a companion?” war zu eindeutig für ein Telefonat. Normalerweise hätte ich das ignoriert und wäre schnell weitergegangen; eben raus aus der Situation. Aber nicht dieses Mal. Ich wollte diesen Kerl nicht meine vermeintliche Machtlosigkeit ausnutzen lassen. Nein. Ich drehte mich um und sagte ihm, er soll sich seinen “Begleiter” in den Hintern stecken und sich verpissen. Ich war zum ersten Mal seit langem nicht mehr machtlos.
Das Verdrängen bringt rückblickend wenig. Ich hoffte damals, ich müsste mich nie mehr daran erinnern, aber dieses Ereignis hat sich eingebrannt, als hätte mein Gehirn den Schrumpelpenis in HD fotografiert.
Bis heute denke ich oft darüber nach, was ich wirklich hätte tun können. Ich hätte ihn lauthals auslachen und so die Machtverhältnisse verschieben können. Denn eigentlich war es er, der sich verwundbar machte und dem es zumindest peinlich sein hätte müssen, seinen Schrumpelpenis in aller Öffentlichkeit auszupacken. Aber als Teenie muss ich das nicht wissen. Als Teenie muss ich mich sicher fühlen können, was ich in dem Moment nicht war. Ich bin heute 30 Jahre alt und habe nicht das Gefühl, als Frau in der Öffentlichkeit stets sicher zu sein. Und ich weiß von Freundinnen, dass viele ähnlich denken.
Kollege Benji Agostini hat darüber geschrieben, wie schwer es ist, über sexuelle Belästigung unter Freunden zu sprechen.
Ich will nicht mehr wegschauen. Ich will nicht dabei zusehen, wie andere Mädchen und Frauen solche Erlebnisse als alltäglich einstufen müssen. Ich will nicht erfahren, dass meine kleine Schwester damit umzugehen lernen muss. Ich will sie sicher wissen. Ich will nicht über Herrenwitze diskutieren müssen, wenn ein Klaps auf den Po ganz klar eine Überschreitung einer Grenze darstellt. Gleichheit ist mehr als ein gegenderter Text und ich wünsche mir, dass die Leute das kapieren. Ich will nicht die Straße wechseln müssen, weil mir eine grölende Gruppe Jungs entgegenkommt. Ich will, dass Frauen nicht zu Objekten oder Mäuschen gemacht werden, denen gezeigt werden muss, wer die Macht hat. Ich will, dass Alltagssexismus ernst genommen wird.