Kein Wasser aus der Leitung, kein Strom und keine Autos: Misty Griffin lebte als Kind und Jugendliche wie im 19. Jahrhundert, abgeschottet vom Rest der Gesellschaft. Sie war Mitglied der streng religiösen Gemeinschaft der Amischen alter Ordnung, einer besonders konservativ und entbehrungsreich lebenden Amischen-Gruppe. Nachdem sie mehrfach sexualisierte Gewalt erlebt und beobachtet hatte, gelang ihr mit 22 Jahren der Ausstieg. Heute ist Misty 37. Sie hat ein Buch über ihr Leben bei den Amischen geschrieben und macht nun eine Ausbildung als Pflegerin.
VICE hat mit Misty über ihr Leben bei den Amischen und ihre Flucht gesprochen – und darüber, wie es ist, vom 19. ins 21. Jahrhundert teleportiert zu werden.
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Trigger-Warnung: Dieser Text enthält Schilderungen von sexualisierter Gewalt.
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VICE: Wie bist du aufgewachsen?
Misty Griffin: Seit ich etwa sechs war, wurde ich von meiner Mutter und meinem Stiefvater als Amische erzogen. Meine Kindheit war geprägt von Misshandlungen. Sie isolierten meine Schwester und mich auf einer abgelegenen Ranch im Norden von Washington State, im äußersten Nordwesten der USA. Ich glaube, unser extrem religiöses Auftreten führte dazu, dass sich die Menschen von uns fernhielten, was meiner Mutter und meinem Stiefvater sehr Recht war.
Mit 19 versuchte ich, von der Ranch zu fliehen, aber meine Schwester und ich wurden zu einer strengen Amischen-Gemeinschaft gebracht und informell von zwei verschiedenen Familien adoptiert. Wir wurden getaufte Kirchenmitglieder. Meine Schwester und ich waren davon überzeugt, dass wir Amische sein mussten. Sonst würden wir in der Hölle landen. Als ich die Amische Jahre später verließ, musste ich meine Schwester zurücklassen. Sie wollte nicht gehen. Heute ist sie verheiratet und hat drei Kinder. Wir schreiben uns ein paar Mal pro Jahr. Zu meiner Mutter oder meinem Stiefvater habe ich keinen Kontakt.
Was hat dich dazu bewegt, die Amischen zu verlassen?
Zuerst lebte ich drei Jahre bei der Familie, die mich informell adoptiert hatte. Dann zog ich als Dienstmagd zum Bischof und seiner Familie. Der Bischof und seine Frau hatten sieben Kinder, alle unter zwölf. Kurz nach meinem Einzug begann der Bischof, sich sexuell an mir zu vergehen. Ich behielt es für mich. Wenn ich etwas gesagt hätte, hätte man mir die Mitschuld gegeben. Nach etwa sechs Monaten bekam ich allerdings den Verdacht, dass der Bischof auch seine zwölfjährige Tochter missbraucht. Ich hatte ihn eines Tages dabei erwischt, wie er hastig die Knöpfe ihres Kleides zumachte. Ich entschied mich, zur Polizei zu gehen.
Bei Amischen ist es gar nicht gern gesehen, wenn man zur Polizei geht. Sexualtäter werden oft nur für sechs Wochen ausgeschlossen und dann wieder in der Kirche aufgenommen. Ihre Kinder werden auch nicht aus ihren Häusern genommen. Ich konnte also nicht anders und musste ihn bei der Polizei melden. Dort sagten sie allerdings, dass ich nicht genug Beweise gegen ihn hätte. Einen Monat später ist er mit seiner Familie nach Kanada gezogen. Der Ermittler meinte zu mir, dass wir da nichts mehr machen können.
Ich verließ die Amischen und baute mir ein neues Leben auf.
Beschreibst du uns den Tag, an dem du die Amischen verlassen hast?
Ich habe mich von niemandem verabschiedet und bin früh morgens gegangen. Ein nicht-amisches Paar hat mich nach Seattle gefahren. Wenn du die Amischen verlässt, verabschiedet sich in der Regel niemand. Dir werden dann einfach noch mehr Vorträge darüber gehalten, dass du in der Hölle landest. Aber ich sah, wie der Bischof und seine Frau durch das Fenster zuschauten. Niemand versucht, dich körperlich am Gehen zu hindern, aber dir hilft auch niemand. Du gehst mit leeren Händen.
Ich habe dann in der Nähe von Seattle gelebt. Die ältere Schwester meines Stiefvaters nahm mich auf und gab mir einen Job in ihrem Möbelladen. Sie war ganz anders als ihr Bruder, eine liebe und großzügige Frau. Sie half mir dabei, mich in der modernen Gesellschaft zurechtzufinden.
Wie ging es mit dem gewalttätigen Bischof und seiner Familie weiter?
An mir nagten immer noch Schuldgefühle, weil ich den Kindern des Bischofs nicht geholfen hatte. Nach sieben Jahren habe ich dann endlich angefangen, meine Memoiren zu schreiben, um auf sexualisierte Gewalt und Kindesmisshandlungen in strengreligiösen Gemeinschaften aufmerksam zu machen. Zwei Jahre nach der Veröffentlichung kehrte der Bischof in die USA zurück und seine älteste Tochter zeigte ihn wegen Kindesmissbrauchs an, um ihre kleinste Schwester zu retten. Der Ermittler, der den Fall bearbeitete, las zufälligerweise zu der Zeit auch mein Buch und brachte mich mit den Kindern in Kontakt. Der Bischof wurde wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt.
Was hat dich davon abgehalten, die Amischen noch früher zu verlassen?
Die Vorstellung, dass ich dann in der Hölle landen würde. Die Amischen glauben fest daran, dass du in der Hölle landest, wenn du nach deiner Taufe aus der Gemeinschaft aussteigst. Wenn du dein ganzes Leben an etwas geglaubt hast, kannst du das nicht einfach in ein paar Tagen abschütteln. Obwohl es sich richtig anfühlte, gab es Augenblicke, in denen ich Angst hatte und alles infrage stellte.
Die größte physische Herausforderung war, dass ich nicht wusste, wie man in der Außenwelt überlebt oder sich verhält. Ich wusste nicht, wie man an Arbeit kommt. Ich hatte die Schule nur bis zur dritten Klasse besucht. Es war, als wäre ich aus dem 19. ins 21. Jahrhundert teleportiert worden. Ich habe versucht, mir nichts anmerken zu lassen, aber in Wahrheit hatte ich eine Riesenangst.
Was hat dich an der Außenwelt am meisten umgehauen?
Fast alles an der Außenwelt fühlte sich sonderbar an. Ich musste zum Beispiel lernen, Deodorant zu benutzen. Ich fand es sehr komisch, mir etwas unter die Arme zu pinseln. Ich hatte das vorher schon mal gesehen, aber nie verstanden, was es war. Ich fand es auch anstrengend, mir jeden Tag Kleidung rauszusuchen. In strengen Amischen-Gemeinschaften hast du nur zwei Arbeitskleider und ein paar Kirchenkleider in verschiedenen Farben.
Alles war laut und unheimlich. Die elektrischen Lichter taten meinen Augen weh. Ich hatte am Anfang sogar Angst vor dem Fön, weil er so viel Krach gemacht hat. Etwa sechs Monate lang war ich komplett überfordert.
Eine der besten Sachen war, dass ich mich nicht ständig beobachtet fühlte. Bei den Amischen hatten die anderen immer nur darauf gewartet, dass ich einen Fehler mache, damit sie dem Pfarrer davon erzählen konnten. In der Außenwelt waren alle freundlich: Sie ermutigten mich, meinen Talenten nachzugehen und einfach ich selbst zu sein. Bei den Amischen wirst du nur zur Konformität gedrängt.
Ich hatte auch großen Spaß, Restaurants zu besuchen und unterschiedliches Essen zu probieren. Die wahrscheinlich tollste Sache an der Außenwelt war aber das fließende Wasser, heiß und kalt. Das begeistert mich manchmal immer noch. Ich muss nicht länger Wasser auf einem Ofen erhitzen.
Wie viel wusstest du über die Außenwelt, bevor du die Amischen verlassen hast?
Fast nichts. In vielerlei Hinsicht wusste ich sogar weniger als viele andere junge Amischen, weil meine Mutter und mein Stiefvater mich von der Außenwelt abgeschirmt hatten. Meine Schwester und ich durften keine Freunde haben oder die Schule besuchen. Meinen einzigen Kontakt zur Außenwelt hatte ich, wenn ich Sachen für die Ranch besorgt oder etwas verkauft habe. Viel bekam ich nicht mit. Die Abschottung begann, als ich sechs Jahre alt war. Ich hatte kaum Erinnerung an das, was davor war.
Was hat man dir über die Außenwelt erzählt?
Dass sie sehr gefährlich sei. Dass alle dich nur ausnutzen und benutzen wollen.
Vermisst du etwas am Leben mit den Amischen?
Ich fand es immer schön, wenn die Kinder um mich herum rannten, versuchten, mir zu helfen oder einfach für eine Umarmung auf meinen Schoß kletterten. Ich habe sie alle geliebt und fühlte mich sehr einsam und traurig, als ich nicht mehr von ihren lieben, pausbäckigen Gesichtern angegrinst wurde. Und wie bei jeder geschlossenen Gruppe und Kirchengemeinschaft gab es dieses Zugehörigkeitsgefühl. Ich war Teil einer großen Familie gewesen. Als ich ging, wusste ich nicht mehr so wirklich, wer ich eigentlich bin.
Mir fehlte auch die gewohnte Arbeit – Gewohnheiten tun einem gut. Ich liebte es, im Garten zu arbeiten, zu kochen und zu backen. Am liebsten habe ich aber an Quilts gearbeitet, Steppdecken, die eine Amische in ihrem Laden verkauft hat. Ich war eine der besten Quilterinnen, weil ich schnell war und meine Stiche klein und gleichförmig. Als ich in die Außenwelt kam, wurde mir bewusst, dass ich ganz andere Fähigkeiten erlernen muss. Niemand konnte eine Quilterin oder Nudelmacherin gebrauchen.
Wieso verlassen nicht noch viel mehr Amische die Gemeinschaft?
Keine junge Frau in meiner Gemeinschaft hat je darüber gesprochen zu gehen. Es sind hauptsächlich junge, unverheiratete Männer, die die Gemeinschaft verlassen. Viele kehren allerdings nach einigen Jahren zurück. In strengen Amisch-Kirchen wie meiner müssen sich junge Frauen an höheren Verhaltensstandards messen lassen als junge Männer.
Bei uns mussten sich die Teenager auch mit 17 taufen lassen. Im gleichen Alter fangen sie auch mit dem Dating an und zu Jugendveranstaltungen zu gehen. Wenn sie den Kirchenregeln nicht gehorchen, können sie ausgeschlossen werden und dürfen nicht daten oder an Jugendtreffen teilnehmen. Das sind natürlich wichtige Sachen für Teenager, also vermeidet man es in der Regel.
Einige Teenagerinnen haben sich aber gefragt, wie sie wohl mit Make-up aussehen würden. Das war dann aber auch das Extremste in meiner Gemeinde.
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Beratung und Unterstützung bei sexualisierte Gewalt finden Betroffene, Angehörige, Fachkräfte und alle Menschen, die sich Sorgen um ein Kind machen, beim Hilfetelefon Sexueller Missbrauch, Tel. 0800 22 55 530 (kostenfrei und anonym) und auf dem Hilfeportal www.hilfeportal-missbrauch.de. Hilfe bieten auch die bundesweiten Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe.
Wer in der Schweiz sexualisierte Gewalt erlebt hat, findet bei der Frauenberatung Links zu Beratungsstellen. Betroffene Männer erhalten Hilfe im Männerhaus. In Österreich wird ein 24-Stunden-Hilfenotruf unter 01 71 719 angeboten.