Vielleicht gab es ihn irgendwo, den im Großdeutschen Reich lebenden Menschen, der nichts von den Naziverbrechen wusste. In Einödsbach zum Beispiel, auf 1113 Metern Höhe, im südlichsten Winkel, fern ab der Zivilisation. Vielleicht drangen dort nicht mal die Gerüchte über den Blitzkrieg oder die Verbrennung von Millionen Juden hindurch.
“Nichts haben wir gewusst, es ist alles schön verschwiegen worden, und das hat funktioniert”, sagt eine Frau. Sie kommt nicht aus Einödsbach. Sie hat im Herzen der Propagandazentrale als Sekretärin von Joseph Goebbels gearbeitet und kannte dessen Ehefrau Magda gut genug, um von ihr Anzüge geschenkt zu bekommen. Dass diese Frau also nichts von der Naziagenda wusste, klingt völlig absurd und könnte doch wahr sein.
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Brunhilde Pomsel ist 105 Jahre alt, sie hat für Hitlers Propagandaminister von 1942 bis zum Ende gearbeitet. In wenigen Wochen wird der Dokumentarfilm Ein deutsches Leben über die noch Lebende in den amerikanischen Kinos erscheinen.
Im Zuge der Premiere erklärt Pomsel gegenüber dem Guardian: “Wenn ich den Film schaue, ist es wichtig für mich, das Bildnis im Spiegel zu erkennen, mittels dessen ich verstehen kann, was ich alles falsch gemacht habe. Aber wirklich, ich habe nichts anderes getan, als im Büro von Goebbels Schreibmaschine zu tippen.”
Leider zerschlägt dieses “Aber” den Spiegel, in dem die ehemalige Sekretärin ihr Bildnis zu entdecken versucht. In dem “Aber” konzentriert sich ihre Sehnsucht nach Unschuld. Es macht Reue unmöglich. Auch deshalb, weil Pomsel fälschlicherweise Unschuld mit Unwissenheit gleichsetzt. Ebenso hatte es Hitlers Sekretärin Traudl Junge getan, nur noch viel krasser, als sie sich aus der Verantwortung gegenüber den Opfern des Holocausts herauszureden versuchte: “Ich habe mich damit zufriedengegeben, dass ich persönlich keine Schuld hatte und auch davon nichts gewusst habe—von diesem Ausmaß habe ich nicht gewusst.”
In diesem Zusammenhang bemerkt der Historiker und Redakteur Sven Kellerhoff in der Welt ganz richtig, dass wenn auch die Sekretärinnen nichts von den Verbrechen gewusst haben sollten, dann nur deshalb, weil sie nichts wissen wollten und nicht, weil sie nichts wissen konnten. Feigheit simuliert hier Unschuld. Und vielleicht ist genau dies die tatsächliche “Banalität des Bösen“, von der Hannah Arendt vor gut 50 Jahren sprach. Ursprünglich verwendete sie diese Bezeichnung für die Gräueltaten von Adolf Eichmann. Der SS-Obersturmbannführer war eine zentrale Figur bei der Deportation und Vernichtung von Juden gewesen.
Eichmann wurde verurteilt, mitverantwortlich an der Ermordung von schätzungsweise sechs Millionen Menschen gewesen zu sein, wobei er selbst stets beteuerte, nur seine Pflicht erfüllt und Befehlen gehorcht zu haben. Arendt beobachtete den Prozess gegen ihn in Jerusalem und beschrieb den Nazi als einen völlig “normalen Menschen”. Die Philosophin versuchte, die Mittelmäßigkeit dieses Mannes mit seinen schockierenden Taten in Übereinstimmung zu bringen und fand die Erklärung in Eichmanns Weigerung, eine selbstdenkende Person sein zu wollen: Erst das Unvermögen, zu denken, ermöglicht es dem ganz gewöhnlichen Menschen, Taten von abscheulichem Ausmaß zu begehen.
So viel zu Arendt, doch wie passt die Sekretärin Pomsel hier rein? Und inwiefern ist sie überhaupt relevant für uns heute? Arendt erntete für ihre Beschreibung von Eichmann durchaus Kritik—viele hielten es für unangebracht, das Böse im Obersturmbannführer als “banal” zu bezeichnen, weil seine Taten alles, nur nicht banal waren. Und vielleicht passt diese Bezeichnung viel besser auf Pomsel, wo doch in ihrem Falle kaum von “Taten” die Rede sein kann.
Eichmann wusste um die Tragweite seiner Taten Bescheid, die ihm aber egal waren, weil er die Verantwortung auf die nächsthöhere Instanz weiterverlegte, wogegen Pomsels einzige Tat im bewussten Nichtstun bestand. Sie versuchte sich vom Wissen um die potenziellen Naziverbrechen so weit wie möglich auf Abstand zu halten: Die Entscheidung wider die Erkenntnis und Verantwortung als eine Light-Version der Banalität des Bösen. Die gute Frau hat doch nur in irgendwelche Tasten getippt. Genauso wie wir einfach nur Game of Thrones oder bunte Instagram-Profile anschauen wollen—lasst uns doch bitte mit euren Anschlägen vor unseren Haustüren in Ruhe, nicht wahr?
Die 105-jährige Reichs-Sekretärin sollte uns interessieren, weil in der Feigheit dieser ganz gewöhnlichen Person das ausgereift ist, was auch bei uns munter gedeiht: Ignoranz und Passivität. Es war dieses Duo, das etwa den Briten einen dämlich verdutzten Gesichtsausdruck bescherte, nachdem ihnen die Konsequenzen des Brexit wirklich bewusst wurden; es ist dieses Duo, das die Leute in den USA daran hindert, einen politischen Amoklauf eines toupierten Halbirren zu stoppen, und es ist diese ignorante Passivität, die mich so indifferent gegenüber so vielem sein lässt.
Klar, es gibt sie, die Flüchtlinge, und sie tun mir auch leid, genau wie der Hass der AfD, nur habe ich den einen weder wirklich geholfen, noch den anderen etwas entgegengesetzt. Ich lebe ganz gut damit, beide sich selbst zu überlassen, obwohl ich mich dafür genauso gut schämen könnte, ja vielleicht sogar müsste. Ich lebe auch ganz gut mit meinen Hemden und Hosen, vermutlich gemacht aus Kinderarbeit, ich lebe ganz gut mit Massentierhaltung, Chauvinismus im Alltag, dreckiger Luft, ach die Liste ist lang und hat einen Bart wie der Weihnachtsmann.
Doch genau deshalb sollte Brunhilde Pomsel uns interessieren, weil sie auf eine der ganz großen Gefahren aufmerksam macht: nämlich uns selbst, also den gewöhnlichen Mann und die gewöhnliche Frau, Normalos eben, und die Macht, die von uns ausgeht, wenn nichts von uns ausgeht. “Die Menschen, die heutzutage sagen, sie wären den Nazis gegenübergetreten—ich glaube, dass sie das ernst meinen, doch glauben Sie mir, die meisten von ihnen hätten es nicht getan.” Diese Worte Pomsels können als Warnung und eine Ergänzung zu Bukowskis Gedicht The Genius Of The Crowd gelesen werden:
beware the average man, the average woman
beware their love, their love is average
seeks average
Ich habe stets versucht, mich vor den Anderen zu hüten, dabei ist es der gewöhnliche Mensch in mir selbst, in dem genug träge Absurdität ruht, um dem Verrat und der Gewalt von ganzen Armeen den Weg zu bereiten. And the best at war finally are those who preach peace. Geben wir acht, auf das bisschen Pomsel in uns.
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