Anna Rosenwasser: “Um die Situation von LGBTI steht es beschissen”

Stand IDAHOT in Zürich vor dem Lochergut

Das Filmli dauert nicht lang und die Videoqualität ist miserabel. Man sieht ein Gebäude in einer Fussgängerzone, davor einen Informationsstand der Studierendenvereinigung “Achtung Liebe”. Vier Gestalten, einige mit übergezogener Kapuze, überqueren die Strasse und laufen direkt auf den Stand zu. Erst räumen sie ab, was auf dem Tisch liegt, dann reissen sie das regenbogenfarbene Dekomaterial ab und verschwinden. Zurück lassen sie einen verwüsteten Stand und erschrockene Freiwillige.

Der Angriff dauert nur wenige Sekunden, aber er zieht seine Runden. Bald wissen alle Zürcher davon, vor allem die Queers. Denn der Angriff geschah aus Hass gegen lesbische, schwule, bisexuelle, intergeschlechtliche und trans Personen (LGBTI). Ich bin das B. B für bisexuell. B für bestürzt. B für “brauchen wir wirklich solche Angriffe, damit die Schweiz checkt, wie queerfeindlich sie eigentlich ist?”.

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Was ist passiert? Anlass war der Internationale Tag gegen Homo-, Bi-, Inter- und Trans-Feindlichkeit, IDAHOBIT. Das hat nichts mit Hobbits zu tun. Der Tag erinnert jedes Jahr am 17. Mai daran, was noch alles getan werden muss, damit queere Menschen sicher leben können. Denn am 17. Mai 1990 befand die Weltgesundheitsorganisation, die WHO, dass Homosexualität keine Krankheit ist. Das ist erst 29 Jahre her. Homosexuelle, die vor dem 17. Mai 1990 geboren wurden, galten also zumindest eine zeitlang offiziell krank. Daran erinnern queere Organisationen jedes Jahr mit Texten, Videos, Aktionen – oder eben Ständen.

Ich bin Jahrgang 1990. Es ist eine seltsame Vorstellung, dass meine Identität, mein Lieben und Begehren, für eine kurze Zeit in meinem Leben international als krank angesehen wurde. Ich stehe mitunter auf Frauen und das macht mich sehr glücklich. Gleichzeitig habe ich mich schon längst an die Ansicht gewöhnt, dass Leute mein Queersein falsch finden könnten. Weil Männer gern “Geil, Lesben!” rufen, wenn sie ein Frauenpaar in der Öffentlichkeit sehen. Weil Leute im Bus meine Freundin und mich gern mit bösen Blicken bestrafen, dafür, dass wir zwei ineinander verliebte Frauen sind. Weil mir vor zwei Wochen ein christlicher Publizist vor laufender Kamera gesagt hat, mein Fehlverhalten müsse korrigiert werden. Er hat dabei gelächelt. Nein, für uns LGBTI ist es nicht erst seit letztem Freitag Alltag, dass Leute uns als falsch markieren. Deshalb brauchen wir den IDAHOBIT, um der Welt zu zeigen, dass wir richtig sind.


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Der Angriff in Zürich war also fast etwas ironisch. Aktivistinnen und Aktivisten fordern eine gerechte Welt für Queers und eine Handvoll Fremder beweist, dass diese Gerechtigkeit noch nicht erreicht wurde.

“Achtung Liebe” heisst die Studierendengruppe, die angegriffen wurde. Das sind übrigens nicht alles Queers, sondern Studierende ganz unterschiedlicher Geschlechtsidentitäten und sexueller Orientierungen, die sich der Sexualpädagogik verschrieben haben. Sie setzen sich für eine moderne und inklusive Aufklärung an Schulen ein, wo Lesbisch- und Schwulsein im Unterricht nach wie vor ein Tabu ist – ganz zu schweigen von bisexuellen, asexuellen, intergeschlechtlichen oder trans Identitäten. Sind Bisexuelle die, die immer Dreier haben? Ist Inter nicht ein Fussballklub?

Regenbogenfarbiger Marmorkuchen steht auf dem IDAHOBIT-Tisch in Zürich. “Liebe ist für alle da”, heisst es auf einem Aufkleber, der aufliegt. Eine Freiwillige hält ein “Free Hugs”-Schild. Neben Bern und Basel wurde auch in Zürich ein Stand betrieben, am Lochergut, einer Art hippem Schmelztiegel linker Quartiere. Freiwillige hiesiger queerer Studierendengruppen “L-Punkt” und “z&h” waren ebenfalls vertreten am Stand, dessen Inhalt so abrupt runtergerissen wurden. Weniger als eine halbe Stunde nach dem ersten Angriff in Zürich, das Material war gerade erst wieder geordnet worden, dann eine zweite Attacke am selben Stand: Ein Mann schlug die Sachen erneut auf den Boden und packte einen Freiwilligen von “Achtung Liebe” am Shirt.

IDAHOBIT Stand Lochergut Zürich
Vor den Attacken auf den Stand zVg von Achtung Liebe

Es wurde niemand körperlich verletzt. Die Täter wurden von der Polizei gefasst, die Freiwilligen von Passanten und Passantinnen unterstützt. Aber was genau heisst das alles? Wie steht es um die Situation von uns queeren Menschen, wenn fünf Männer sich mitten an einem Nachmittag sicher genug fühlen, einen Regenbogen-Stand anzugreifen?

Um unsere Situation steht es beschissen. Schweizerinnen und Schweizer halten sich gern für sehr, sehr modern. Aber wir sind nicht modern – wir sind nur reich. Vor einer Woche erschien eine Rangliste, die mass, wie LGBTI-freundlich die Gesetze europäischer Länder eigentlich sind. Auf dem ersten Platz landete Malta. Danach kommen Belgien und Luxemburg. Auf dem letzten Platz liegt Aserbaidschan. Insgesamt kommen 49 in der Liste vor und die Schweiz ist auf Platz 27. 27! Das ist die schlechtere Hälfte! Das ist schlechter als viele der Länder, die in rassistischen Kommentarspalten als homofeindlich abgetan werden. Albanien, Bosnien und Kroatien, die von selbsternannten Eidgenossen gern als Herd aller Rückständigkeit dargestellt werden, sind LGBTI-freundlicher als die Schweiz. Kroatien ist 11 Ränge besser als wir. Die Queerfreundlichkeit der Schweiz ist im Jahr 2019 miserabel, und diese Zürcher Angriffe am IDAHOBIT sind Teil davon.

Wenn diese Männer gefasst werden – und das wurden sie –, dann wird das Verbrechen in unserem System zwar registriert. Das Problem ist aber: Die Polizei kann den Angriff nicht als LGBTI-feindlich, nichtmal als homophob, erfassen. Denn anders als in vielen anderen Ländern geht das nicht in der Schweiz. Es gibt keine Statistik, die Hassverbrechen aufgrund der sexuellen Orientierung oder Geschlechtsidentität erfasst. Keine offiziellen Zahlen, die uns Bescheid geben könnten, wie häufig Angriffe wie der am vergangenen Freitag sind. Und Polizist*innen werden auch nicht geschult darin, was LGBTI eigentlich bedeutet. Viele von ihnen wissen nicht, was “queer” oder “trans” ist. Wird einem ja nirgends beigebracht. Worauf wiederum Gruppierungen wie “Achtung Liebe” aufmerksam machen wollen.

Wenn wir keine Statistik haben, die uns sagt, wie oft LGBTIs angegriffen werden, eben weil sie lesbisch, trans oder anderweitig queer sind, dann fehlt uns ein Instrument, um Erwachsenen beizubringen, wo eigentlich das Problem liegt. Denn: Die Schweiz ist doch modern! Homos haben doch hier keine Probleme mehr! Ihr habt ja eure Paraden! – Könnt ihr denn beweisen, dass es euch nicht genauso gut geht wie den Normalen? Nein? Seht ihr.

Viele heterosexuelle cis (also nicht trans) Verbündete haben das kurze Video geteilt. Auch sie sind nicht einverstanden mit Homo- und Transfeindlichkeit und geschockt von diesem Angriff. Aber die meisten LGBTIs sind an die Anfeindungen aggressiver junger Männer leider gewöhnt. Wir leben im Jahr 2019 und Schweizer Männerpaare trauen sich selten öffentlich Händchen zu halten. Es ist 2019 und intergeschlechtliche Personen werden zu “korrigierenden” Operationen gezwungen. Es ist 2019 und Lesben existieren zwar in Pornos, aber nicht im Schulunterricht. Es ist 2019 und fünf Männer fühlen sich sicher genug, einen Regenbogenstand anzugreifen.

Es ist Zeit, dass wir das ändern.

Hier gehts zur Petition zur Solidarität für die angegriffenen Standbetreiber*innen.

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