Skateboarding ist kein Sport, es ist ein Lebensgefühl. Wie das Surfen—aus dem es sich in den 60er Jahren entwickelt hatte—entstand es als Sport für Nonkonformisten. Menschen schraubten Rollen unter Bretter und stürzten sich damit Straßen hinab, weil ihnen Tage voll Sonne und Fahrtwind im Haar mehr Glück bedeuteten, als auf Arbeit Stechuhren zu füttern.
Schön klingt er, der Skate-Mythos und das an ihn gekoppelte Freiheitsgefühl, und ganz von ungefähr kommt das nicht. Skateboarding bedeutet auch: Du und das Brett und kein Trainer, der dir sagt, in welchem Winkel du den Ball in den Korb werfen musst oder wie viele Runden du noch um den Platz laufen sollst. Skateboarding ist eine Kunstform, eine Art, das Brett auf deine ganz eigene Weise tanzen zu lassen, Skateboarding war lange Zeit auch (und ist es in besonderen Fällen vielleicht immer noch) ein Akt gegen den Mainstream. Skaten ist die Okkupation des öffentlichen Raums, ist Lautstärke, ist das Kräftemessen mit Polizei und Securitys, weil der Marmor vor Rathäusern und Banken einfach nur schön glänzen und nicht befahren werden soll.
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Skateboarding ist Gesellschaftskritik …
…, ist Jung gegen Alt, ist Provokation, wodurch Selbstzerstörung zur Haltung wird. Alkohol und Drogen unterstreichen die Pose, der Körper im Anschlag oder wie das Skate-Label Foundation es sagen würde: That’s life!
Und Skateboarding ist noch mehr: Es ist Röhre und Lederjacke, es ist Hoody und Baggy-Pant, es ist Mode; es ist Rock’n’Roll, Hip-Hop, Metal—Skateboarding ist Musik, Skateboarding ist Kunst, es ist eine Jugendkultur, die andere Kulturphänomene in sich vereint, und darum ist es verwunderlich, dass Skateboarding eines bisher nicht ist: lesbisch und schwul.
Freddie Mercury, David Bowie, Yves Saint Laurent, Andy Warhol, Alexander McQueen, … die Liste muss nicht fortgeführt werden—Kunst, Musik und Mode hatten schon längst ihre homosexuelle Erweckung, warum Skateboarding nicht? Ja, es gibt sie, vereinzelte Skateboarder, die ihre Homosexualität öffentlich gemacht haben—in Deutschland Jan Wittke zum Beispiel—, aber weder entsprechen die wenigen Einzelfälle der tatsächlichen Menge an homosexuellen Fahrern, noch ist unter ihnen ein Name, der zu den bekannten Größen zählt.
Bis jetzt. Vor wenigen Tagen outete sich Brian Anderson als erster Skater von Weltformat offiziell als schwul. Der von Nike gesponserte New Yorker holte 1999 beim Münster Monster Mastership den Weltmeistertitel und wurde noch im gleichen Jahr vom Thrasher Magazine zum “Skater of the Year” gekürt. Mit seiner Art und seinem dynamischen Fahrstil gilt er vielen jüngeren Skatern als Vorbild.
Heute ist er 40 Jahre alt; es hat lange gebraucht, bis er sich outete. Warum? Weil Skateboarding schon lange auch eine Industrie ist. Wie Teile davon funktionieren, erklärt Michael Brooke, Chefredakteur des kanadischen Skate-Magazins Concrete Wave in einem Interview mit dem Huck Magazin: “Da sind sehr viele Leute auf der geschäftlichen Seite des Skateboardings, die keinen offen schwulen Skater sponsern würden, weil sie nicht anecken wollen.” Wer sich outet, läuft Gefahr, seine Karriere aufs Spiel zu setzen, so wie einst Tim Von Werne, Fahrer für die von Tony Hawk gegründete Firma Birdhouse. Als Werne in einem Interview offen über seine Sexualität sprach und die Geschäftsführer von Birdhouse einen Vorabdruck des Interviews lasen, sperrten sie die Publikation.
Die Angst der Firmen, ihre Schuhe oder Bretter mit dem Namen der von ihnen gesponserten Profis nicht mehr verkaufen zu können, weil sie als “schwule Ware” gebrandmarkt wären, wird an die Fahrer weitergegeben. Michael Brooke bringt es auf den Punkt: “Der typische Skater ist zwischen 10 und 20 Jahre alt, wobei die große Masse bei den 14- bis 16-Jährigen liegt. Und genau diese Kids treiben das Skategeschäft voran; sie kaufen all die Skate-Artikel und laufen zu den Profis mit der Bitte um Autogramme. Und ich glaube, dass dies ein sehr empfindliches Alter im Bezug auf ihre eigene Männlichkeit ist.”
Klar, wenn hier von “Skateboarding” die Rede ist, dann ist dies eine abstrakte Wortblase. In Wirklichkeit ist Skateboarding der konkrete Mensch, es ist der Profi, der von seinen verkauften Brettern leben muss, und es ist der 14-jährige Junge in einer Kleinstadt, der bei all der grassierenden Homophobie ein Rückgrat aus Stahl braucht, um das Brett eines homosexuellen Profi-Skaters zu fahren. Traurig ist, dass hier Homosexualität zum Stigma wird und das in einem Bereich, der im Ruf steht, tolerant und aufgeschlossen zu sein. In einer perfekten Welt hätte Homosexualität denselben Einfluss auf die Verkaufszahlen von Skate-Artikeln wie die Frage, ob die Profimodelle von Schuhen und Brettern einem Fahrer gehören, der Links- oder Rechtshänder ist. Aber wir leben in keiner perfekten Welt.
Wir leben in einer Welt, in der Skateboarding auch eine Männerdomäne ist. Erst 1998 nahm Toy Machine (für die übrigens auch Brian Anderson damals fuhr) mit Elissa Steamer die erste Frau als Profi-Skaterin unter Vertrag; ein Jahr später hatte sie im Video Welcome to Hell ihren ersten eigenständigen Part—ein Stück Zeitgeschichte.
Skateboarding ist Wettkampf, ist die Faszination am Höher, Schneller, Weiter. Es ist die Frage, wer der Härteste ist, wer sich das längste Rail und die meisten Stufen hinabstürzen kann. In einer Welt, wo Leistung mit einem Männlichkeitsideal Hand in Hand geht und das Wort “Schwuchtel” als Synonym für Schwächling in die Alltagssprache Einzug gehalten hat, ist es nicht leicht, sich zu seiner Homosexualität zu bekennen.
Deshalb ist es so großartig, dass ausgerechnet Brian Anderson sich geoutet hat. Er, der wie kaum ein anderer für Kraft, Dynamik und “explosive Power” im Skateboarding steht; kaum jemand zerrockt das Terrain härter als der 1,90-Meter-Hüne, ein Berg von einem Mann, von Kopf bis Fuß tätowiert, Hände wie Bratpfannen, eine Ausnahmeerscheinung und das Idealbild für jeden verpickelten Skater, der hofft, im zunehmenden Alter mit seinem Brustkorb über die Maße einer Butterbrotdose hinauszuwachsen. Und nun das: Das Paradebeispiel heteronormativer Maskulinität ist schwul?!
Ed Tempelton, Gründer von Toy Machine, bringt den Konflikt in den Köpfen der Kids auf den Punkt, wenn er sagt: “In dem Moment, wo Brian jetzt sagt ‘Ich bin schwul, kommt damit klar!’, sitzen all die Kids zu Hause und fragen sich: ‘Moment mal, mein Lieblingsskater ist schwul?’ Sie sind gezwungen zu entscheiden: Was bedeutet mir das?” Anderson steht hier ganz in der Tradition des Philosophen Kierkegaard, weil auch er seine Anhängerschaft “ins Wahre hineingetäuscht” hat. Und die Wahrheit ist nun mal, dass es den Kids nichts bedeuten sollte, weil die Skills eines Skateboarders nicht davon abhängen, ob er Männer oder Frauen liebt, genauso wenig wie Andersons Outing ihn nun weniger “Mann” werden lässt. Homosexualität, Männlichkeit und Athletik sind unabhängig voneinander zu denken, es bilden sich hier keine Gegensatzpaare, das eine schließt das andere nicht aus.
Vielleicht ist es deshalb auch gar nicht so schlecht, dass Anderson mit seinem Outing so lange gewartet hat, denn so kann ihm niemand die erzielten Leistungen mit dem Argument absprechen, er habe Titel und Sponsorenverträge nur deshalb eingefahren, weil er schwul sei—der “Schwulenbonus” als vermeintliche Rechtfertigung für Erfolg wird unmöglich.
Denn wie sehr man die Skate-Industrie als ein Übel verteufeln will, große Teile davon sind sehr wohl aufgeschlossen und wären stolz darauf, homosexuelle Fahrer in ihren Teams sponsern zu dürfen. Ed Tempelton und Toy Machine sind so ein Beispiel. Seit mehreren Jahren schon tut sich was in der Szene—es gibt immer mehr Frauen mit Profiverträgen und Homosexualität ist nicht mehr das große Tabu—ganz im Gegenteil:
Die Zeit ist reif. Wann, wenn nicht jetzt, wo, wenn nicht im Skateboarding, entsteht langsam ein Umfeld, in dem homosexuelle Athleten den Schritt in die Öffentlichkeit wagen könnten? Aber das sagt sich natürlich so leicht. Einen Grund, warum es trotzdem nur sehr langsam geschieht, spricht Anderson selbst an: “I consider myself a skateboarder first, gay second.” Wer auf einem Top-Level wie Anderson fährt, möchte seine Leistungen um ihrer selbst willen geachtet wissen und nicht, weil sie die Leistungen einer schwulen oder lesbischen Person sind. Der Weltmeister Anderson verdient es, einfach nur “Skater” und nicht der “schwule Skater” genannt zu werden—wir denken ja auch nicht an den “heterosexuellen Fußballer”, wenn wir über Bastian Schweinsteiger reden. Dass Homosexualität als Prädikat zu vereinnahmend sein kann, ist aber ein generelles Problem, daran krankt nicht nur die Skate-Welt.
Auf der einen Seite ist Skateboarding ein Jugendphänomen, dessen Bedeutung gerade deswegen so groß ist, weil es mehr als Sport ist. Es geht eben auch um Mode, Musik und Kunst. Genau das macht seine Schlagkraft aus. Wird gleichgeschlechtliche Liebe hier zur Selbstverständlichkeit, wirkt diese Haltung auch in die anderen Kulturfelder hinein—und auf der anderen Seite ist Skateboarding einfach nur ein Brett mit vier Rollen. Ob Hund, Hetero, Trans* oder Homo: Darauf stellen darf sich jeder und jede Form der Andersartigkeit sollte als Bereicherung und nicht als Gefahr betrachtet werden. Mit Brian Anderson macht Skateboarding einen großen Schritt in Richtung dieser Freiheit.
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