Es war eine grausame Tat. Die 14-jährige Keira aus Berlin hatte sich am Mittwoch vergangener Woche mit ihrem Mörder verabredet. In ihrer Wohnung angekommen stach der 20 Mal auf das Mädchen ein, sie starb. So eine Tat klären Gerichtsmediziner auf, Forensiker und Beamte der Mordkommission. Doch es gibt eine Partei, die es offenbar nicht für nötig erachtet, deren Ergebnisse abzuwarten. Politiker der AfD wussten nämlich wieder einmal genau, was passiert war. Dahinter steckt Methode.
Weil die Polizei zunächst keine Infos über die Herkunft des Tatverdächtigen veröffentlicht hatte, aber bereits bekannt war, dass Keira mit einem Messer ermordet wurde, traten AfDler wilde Spekulationen los. Daniel Freiherr von Lützow, Landesvorstand in Brandenburg, veröffentlichte eine eigene Grafik und versah die mit “#Remigration”. Auf der stand in missverständlichem Deutsch: “Täglich werden Kinder von uns mit Messer getötet!“
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Maximilian Krah, Parteimitglied und ein bei der AfD sehr beliebter Vortragsredner, schrieb von der “versifften Pressestelle” der Berliner Polizei, die Informationen über den Täter zurückhalte. Gunnar Lindemann, Abgeordneter im Berliner Abgeordnetenhaus, mutmaßte auf Twitter, der Berliner Innensenator Geisel (SPD) hätte die Weitergabe von Informationen “verboten”. “Soll hier wieder etwas schön geredet werden?”, fragte Lindemann.
Ronny Kumpf, Landesvorstand in Sachsen-Anhalt, schrieb auf Twitter von einer möglichen “KiKa-Lovestory ohne Happy End” und suggerierte so, dass es sich bei dem Täter um einen Geflüchteten handeln könnte.
Ohne Tatverdacht keine Herkunft eines Tatverdächtigen
Am Montag machte die Berliner Polizei dann öffentlich, wer Keiras mutmaßlicher Mörder ist: Ein 15-Jähriger hat die Tat gestanden. Er war auf dieselbe Schule wie sein Opfer gegangen. Und er trägt einen Namen, der eher nach Darmstadt als nach Damaskus klingt: Edgar H.
VICE hat Gunnar Lindemann gefragt, ob er seine Tweets bereut. Der Berliner Abgeordnete antwortete schriftlich: “Nein.” Die Spekulationen hätten nicht er und seine Parteikollegen entfacht, sondern die Berliner Polizei mit ihrer “Nichtinformation der Bürger”. Dass die Polizei nach eigener Aussage zu diesem Zeitpunkt noch “keinen konkreten Tatverdacht” hatte, erwähnt er nicht. Und ohne Tatverdächtigen gibt es auch keine Herkunft eines solchen.
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Aber warum ist die Herkunft überhaupt wichtig?
Der Deutsche Presserat gibt mit einem eigenen Pressekodex vor, wie Medien angemessen über Straftaten berichten sollen. Um zu vermeiden, dass ganze Gruppen aufgrund von Berichten über einzelne Verdächtige und Täter aus dieser Gruppe diskriminiert werden, soll die ethnische oder religiöse Zugehörigkeit der Verdächtigen bzw. Täter “in der Regel” nicht genannt werden. Es sei denn, es bestehe ein “begründetes öffentliches Interesse”.
Es drängt sich der Eindruck auf, dass die AfD genau diese öffentliche Interesse bei ausgesuchten Messerattacken krampfhaft herbeischreiben will.
Die “Messerepidemie” der AfD und die vermeintlichen Täter
Am Montag, dem Tag, an dem die Polizei Edgar H.s Identität bekannt machte, veröffentlicht die AfD eine Grafik auf Twitter: “Messerepidemie grassiert!“, heißt es dort. Blut läuft eine weiße Wand herunter, davor hat die Partei die Überschriften zu elf “Messerattacken” aus der vergangenen Woche zusammengetragen – verübt von “Türken, Kurden, Tschetschenen, Afghanen, Eritreern, Gambiern und Syrern”. Allein, das stimmt so nicht.
Eine der Überschriften, die die AfD in ihrer Grafik zeigt, lautet “17-Jähriger wird bei Messerattacke lebensgefährlich verletzt”. Ein Sprecher der Polizeiinspektion Oldenburg bestätigte VICE, was die AfD auch im Fahndungsaufruf der Polizei hätte nachlesen können: Die Beamten suchen einen weißen, “deutschsprechenden” Europäer.
Auf der AfD-Grafik findet sich auch die Überschrift “Messer-Attacke auf eine 93-Jährige in Pflegeheim”. Das Fahndungsvideo, das die Mordkommission Hamburg in dem Fall veröffentlicht hat, zeigt eine weiße, mutmaßlich deutsche Frau. Die AfD hat sogar einen Screenshot des Artikels verwendet, in dem das Video zu sehen ist.
Ein Sprecher der Polizei Düsseldorf sagte VICE, dass beide Tatverdächtige beim von der AfD ebenfalls zitierten Messerraub in Oberkassel nicht in die AfD-Beschreibung passen.
Was die AfD verschweigt
Insgesamt stimmt nicht einmal die Hälfte der von der AfD zusammengetragenen Fälle mit der von der Partei verwendeten Bildüberschrift überein, wie VICE bei der Überprüfung aller elf Taten herausgefunden hat. 430 Twitter-Nutzer sind dennoch der Bitte der Partei nachgekommen und haben ihre “Messerepidemie”-Grafik geretweetet. Dabei hat die Partei sogar Attacken unterschlagen.
Am Dienstag vergangener Woche stach eine Person in Berlin ihre beiden Eltern nieder, der Vater starb, in der Nacht zum Montag dieser Woche musste ein Polizist auf eine Person in Berlin schießen, die zuvor Beamte mit einem Messer attackiert haben soll. Bei den Angreifern handelt es sich um einen Deutsch-Polen und eine Schwedin.
Und in Detmold muss sich dieser Tage Thomas T. vor Gericht verantworten. Der Deutsche hat im September 2017 eine 24-jährige Mutter und ihren Sohn erstochen, nachdem er versucht hatte, die Frau zu vergewaltigen. Vor 13 Jahren hatte eine andere Frau eine ähnliche Attacke von T. nur knapp überlebt.
Auf die Fälle angesprochen, in denen die europäische Herkunft der Verdächtigen schnell klar war, antwortet der Berliner AfD-Abgeordneter Lindemann VICE, er könne “leider nicht jedes Verbrechen kommentieren”.
Was die AfD-Spekulationen bewirken
Juristische Konsequenzen muss Lindemann für seine Spekulationen nicht fürchten, anders als Lutz Bachmann. Der Pegida-Initiator, der des Öfteren mit Teilen der AfD kooperiert, hatte einen falschen Jugendlichen als Tatverdächtigen im Fall Keira präsentiert und als “Bestie vom Kaukasus” tituliert. Er verlinkte sogar das Facebook-Profils des Mannes, den er für einen “tschetschenischen Moslem und Ex-Flüchtling” hielt. Jetzt ermittelt die Polizei gegen Bachmann – wegen übler Nachrede, falscher Verdächtigung und Volksverhetzung.
Von VICE gefragt, ob er mit seinen Tweets auch zu dieser Eskalation durch Bachmann beigetragen habe, schreibt Gunnar Lindemann: “Ich kommentiere grundsätzlich keine Äußerungen Dritter.”
Ob mit Spekulationen einzelner Parteivertreter oder mit fehlerhaften Grafiken auf ihrem Partei-Account: Die AfD verzerrt die Debatte um Messer-Gewalt in Deutschland. Allein in Berlin gibt es jedes Jahr Tausende Zwischenfälle mit Messern. In vielen Fällen zücken die Täter – egal welcher Nation – dann Waffen, die jeder ohne staatliche Kontrolle in der Küchenabteilung kaufen kann: Küchenmesser. Statt über dieses Problem zu sprechen, will die AfD, dass Menschen bei Worten wie “Messer-Angriff” oder “niedergestochen” sofort an Muslime und Migranten denken – ohne dass klar ist, wer überhaupt den Angriff verübt hat, und warum. An jene Menschen also, deren Religionsfreiheit die Partei einschränken oder die sie direkt aus dem Land haben will.
Oder wie die AfD selbst in ihrem “Messerepidemie”-Tweet schreibt: “Das ist alles nur noch Wahnsinn!”
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