Dieser Artikel beschreibt Bulimie aus Männersicht. Auf VICE wurde auch schon aus weiblicher Sicht über Bulimie geschrieben.
Zwischen 15 und 18 war ich bulimisch. Praktisch heisst das: Ich kenne sehr viele Toilettenschüsseln von sehr nah. Ich kenne die Schattierungen vom Kalk auf diesen Toilettenschüsseln; ich weiss, ob ihre Spülung stark genug ist, dass ich nur einmal spülen muss. Ich habe nach jedem Geschäft einen Fetzen Toilettenpapier in der Schüssel hinterlassen, um erkennbaren Speichel oder Essensreste zu verdecken und danach fühlten sich meine Zähne immer aufgeweicht an. Auch zehn Jahre danach gehe ich noch nicht gerne zum Zahnarzt, da ich mir einbilde, der könne an meinen Zähnen erkennen, wieviel ich früher mal gekotzt hatte.
Videos by VICE
Auch überkommt mich bis heute ein komisches Gefühl, wenn ich in meinem Elternhaus im Seeland aufs WC gehe und erinnere mich immer, wenn ich wieder an einem Ort zu Besuch bin, dessen Sanitäranlagen ich schon vollgekotzt habe. Ich war diesen Schüsseln einfach schon zu nah.
Konkret hiess Bulimie für mich, etwa jede dritte Mahlzeit wieder auszukotzen und am Wochenende etwa einen halben Tag lang Scheisse zu essen—Jelly Beans, Ananassaft, Mars, was grad da war—und sie im Halbstundentakt wieder auszukotzen. Das Kotzen fühlte sich gut an. Es war eine „I don’t give a shit”-Handlung. Ich konnte etwas zerstören—und hatte gleichzeitig ein schlechtes Gewissen.
Der Welt gegenüber und der Gesellschaft gegenüber. Der Welt gegenüber, weil ich Essen verschwendete und der Gesellschaft gegenüber, weil ich wusste, dass mein Verhalten krankhaft ist. Natürlich ging es mir darum, nicht dick(er) zu werden. Ich hatte wirklich Angst davor. Angst, die die anderen in meiner Fussballumkleide nicht verstanden hätten. Aber dünner werden wollte ich auch nicht.
Ich war nie so dünn, dass sich jemand Sorgen um mich gemacht hätte. Ich hatte einfach panische Angst, Paranoia vor dem Fettwerden, da ich nicht irgendwann so aussehen wollte, wie die Leute auf RTL 2. Und dann kam die Lust am Kotzen hinzu, die Freude daran rücksichtslos essen zu können. Bulimie ist schlimmer als jede Jojo-Diät. Eigentlich geht es ums Abnehmen, aber dann fangen die Fressattacken an. Das Bewusstsein, dass man alles wieder auskotzen kann. Das Bewusstsein, dass hochgewürgtes Gemüse schlechter schmeckt als hochgewürgtes Caramel, macht die Ernährung ungesünder.
Und manchmal musste ich vor dem Fussball schnell ein halbes Brot in mich reinfressen, da mir seit Mittag schwindlig war. Nachdem ich das Mittagessen rausgekotzt habe, war mir in der Schule schwindlig und ich hätte das Training nicht durchgehalten ohne das halbe Brot.
Für eine Weile habe ich geglaubt, dass ich das Kotzen stufenweise runterfahren kann. Die Fressattacken bekam ich so unter Kontrolle, aber trotzdem wusste ich bei jedem grossen Essen, bei jedem Döner und jedem Fondue, wie ich die Kalorien loswerden konnte. Wenn es mir schlechter ging, wenn ich eine Krise hatte, kamen auch die Fressattacken wieder zurück und ich kotzte wieder fast täglich.
Kurz nach meinem 18. Geburtstag lernte ich jemanden kennen und verliebte mich. Die Verliebtheit bewahrte mich vor Krisen, in denen das Kotzen ein Ventil für meinen Frust war. Zum ersten Mal seit Jahren hatte ich ein, zwei Monate lang alle Mahlzeiten für mich behalten, aber dann wurde ich rückfällig.
Nach mehreren Wochen, in denen ich wieder gekotzt hatte, sagte ich es meiner damaligen Freundin. Sie war erst schockiert und überrascht, aber das Gespräch brachte die Scheinwelt, in die ich mich zurückgezogen hatte, zum Einsturz. Unter Leuten war ich umgänglich, lustig und energiegeladen, das Kotzen war mein privates Problem. Ein Problem, mit dem ich alleine fertig werden wollte. Nach dem Gespräch mit meiner damaligen Freundin war das nicht mehr so. Das hat sehr geholfen, obwohl ich noch weitere Male gekotzt habe, gab mir das Wissen, dass jemand anderes davon weiss, die Kraft mit meinen Mustern zu brechen.
Wenn Kollegen erzählt hatten, dass eine aus unserer Klasse „kotzen geht”, war ich peinlich berührt. Aber habe nie irgendwas gesagt und war froh, dass ich nie in den Verdacht geriet. Als Junge bist du über jeden Verdacht erhaben. Darüber war ich damals froh, aber heute wäre ich froh, wenn ich damals unter demselben Generalverdacht gestanden hätte: Partnerinnen wären von sich aus draufgekommen, weshalb mein Atem nach Kotze stinkt. Freunde oder Familie hätten sich gefragt, weshalb ich die Toilettenspüle immer zwei Mal bedient habe. Mir wäre früher geholfen worden. Ich habe keine Ahnung, wie viele Männer bulimisch sind, selbst kenne ich niemanden. Ich weiss nicht, wie verbreitet es ist, aber ich wünsche es keiner Frau und keinem Mann.
–
Titelbild: caspercrafts; Deviantart; CC BY 3.0