Als Kind sei ich eine schlechte Esserin gewesen, erzählt mir meine Oma heute noch gern. Außerdem hätte ich ständig geweint, ohne ersichtlichen Grund. Und da meine Großeltern, die meine Ersatzeltern waren, Angst hatten, dass ich krank oder zu mager sein oder mich sonst wie nicht der Norm entsprechend entwickeln könnte, wurde versucht, mir das Essen mehr oder weniger mit Zwang einzuflößen.
Da konnte es schon mal eine Stunde lang dauern, mir eine Portion Gemüsesuppe oder Hirseauflauf mit Erdbeersoße (mich würgt es jetzt noch beim Gedanken daran) Löffel für Löffel in den Mund zu schieben. Ich glaube, ich hatte damals einfach wenig Appetit oder besseres zu tun als zu essen.
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Später, während dieser schrecklichen Teenagerjahre, begann ich mich von meinen Eltern und Großeltern abzugrenzen. Wie jeder halbwegs normale Mensch weiß, funktioniert das nicht so einfach wie man es sich vorstellt.
Man möchte cool sein, viele Freunde haben und beliebt sein, gut aussehen. Da das alles nicht so klappte, begann ich mich mit Essen zu trösten. Nach einer gewissen Zeit und einigen Kilos mehr bemerkten das auch die Menschen in meiner Umgebung. Kommentare wie: „Gut schaust aus…” mit ironischem Unterton waren noch nett gemeint. Am schmerzhaftesten waren solche Bemerkungen von Leuten, von denen ich mir Anerkennung wünschte: meiner Mutter, meinen Großeltern, meinen Freundinnen.
An meine Premiere als Essgestörte kann ich mich noch gut erinnern. Eines Tages, nachdem ich einige ordentliche Portionen Schokolade und was weiß ich noch alles in mich hinein gestopft hatte, beschloss ich, so nicht mehr weiter zu machen. Ich wollte schließlich einem bestimmten Ideal entsprechen und so aussehen, wie mich die Leute um mich herum sehen wollen.
Nur wie sollte ich das anstellen? Mein Gewicht wurde schließlich nicht auf die Größe eines Models sondern nur auf 1,60 Meter verteilt. Da kam mir eine geniale Idee: das Essen musste wieder aus meinem Körper. Jetzt. Sofort. Also steckte ich mir über der Kloschüssel Zeige- und Mittelfinger in den Mund und stocherte dort solange herum, bis der gesamte Inhalt meines Magens im Klo landete. Nachdem das erledigt war, fühlte ich mich schwach, aber gut.
Die folgenden Monate liefen essenstechnisch so ab: Ich aß entweder gar nichts und wenn doch, dann sah ich zu, dass das Essen so schnell wie möglich wieder aus mir heraus kam. Zu dem Zeitpunkt dachte ich noch, dass ich die Bulimie unter Kontrolle hätte und ich jederzeit damit aufhören könnte, wenn ich nur wollte. Erste „Fortschritte” wurden von meiner Mutter bald bemerkt. Das spornte mich an, weiter zu machen.
Es kam jedoch ein Problem dazu. Ich hatte auch manchmal wirklich Hunger und ich wollte eigentlich mit diesem Scheiß aufhören, da mir sehr wohl bewusst war, dass dieses Verhalten krank ist. Mein Körper hatte sich allerdings daran gewöhnt, dass er immer nur sehr kurz Zeit hatte, Essen zu verdauen. Daher nahm ich sofort zu, wenn ich normal aß. Ein Teufelskreis, denn zuzunehmen wollte ich um jeden Preis vermeiden.
Dass ich wirklich ein ernsthaftes Problem hatte, kapierte ich erst nach einem einschneidenden Erlebnis während ich auf Saison in einem Hotel in Obertauern war. Bei der Arbeit im Restaurant war ich ständig von Essen umgeben, hatte durch den Stress aber nie Zeit, normale Mahlzeiten zu mir zu nehmen.
So wurde das Essen während meiner freien Zeit zum Stressabbau genutzt. Meistens ging ich während eines freien Tages in den Ort einkaufen. Einkaufen hieß: Süßigkeiten, fettiges Zeug—so genannte „verbotene Lebensmittel” im Essgestörtenjargon—zu kaufen. Alles, was mir gefiel, legte ich in den Einkaufswagen. Die Rechnung konnte schon mal 50 bis 70 Euro ausmachen, Wintersaisonpreise eben.
Wieder in meinem Zimmer in der Mitarbeiterunterkunft angekommen ging dann eigentlich auch sofort das große Fressen los. Um mich von meinem erbärmlichen Treiben abzulenken, wurde während dessen ferngesehen. Sobald die volle Magenkapazität erreicht war, schleppte ich mich aufs Klo. Es folgte das übliche Prozedere. Schluss war immer erst dann, wenn mein Magen dieses gewisse Geräusch machte, bei dem ich das Gefühl hatte, er würde sich nach außen stülpen.
Den absoluten Tiefpunkt meiner Karriere als Ess-Brech-Süchtige erreichte ich, als ich bereits weggeworfenes Essen wieder aus der Mülltonne herausholte, nur damit ich es kurz anverdauen und wieder ins Klo würgen konnte.
Meistens wurde mir schwarz vor Augen und mir kam vor, mein Herz zwischen meinen Ohren schlagen zu hören. Danach schwor ich mir jedes Mal es „nie wieder” zu tun und mich ab morgen zu benehmen wie jeder andere normale Mensch. Dazu kam es aber nie. Wenn ich es einmal schaffte, normal zu essen, dann reichte ein Bissen zu viel, um die Kontrolle zu verlieren. Ein Fressanfall war vorprogrammiert und das bedeutete, so viel in mich reinzustopfen, wie reinpasste. Diese ganze Qual des Erbrechens sollte sich schließlich auch lohnen. Das wiederum führte zu dem Umstand, dass ich mich nach jedem außer Kontrolle geratenen Essen bzw. Essanfall wie die größte Versagerin vorkam. Schließlich hatte ich mir vorher selbst versprochen, endlich damit aufzuhören.
Zu dieser Zeit passierten die Essanfälle zwischen 3 und 7 Mal am Tag. Ich konnte kein Buch mehr lesen und keinen Film mehr anschauen, ohne mir parallel Gedanken darüber zu machen, wie ich bis zum Wochenende noch schnell 3 Kilos abnehmen könnte. Ich bekam keine Periode mehr und wunderte mich über Zahnschmerzen. Den absoluten Tiefpunkt meiner Karriere als Ess-Brech-Süchtige erreichte ich jedoch, als ich bereits weggeworfenes Essen wieder aus der Mülltonne herausholte, nur damit ich es kurz anverdauen und wieder ins Klo würgen konnte. Danach fühlte ich mich wie der letzte Dreck. Mich ekelte vor mir selbst. An diesem Tag wurde mir bewusst, dass ich Hilfe brauchte.
Als ich endlich den Mut aufbrachte und meiner Mutter alles erzählte, war ich total erleichtert. Im Sommer darauf begann ich eine Verhaltenstherapie, in der ich wieder lernte, normal mit Essen umzugehen—es zu schmecken und zu spüren, wie es sich im Mund anfühlt. Heute kann ich mein Essen wieder genießen. Ganz abschütteln werde ich dieses Thema vermutlich aber nie können. Aber jetzt weiß ich zumindest, dass 5 Kilos mehr oder weniger auf der Waage nichts mit meiner Zufriedenheit im Leben zu tun haben. Ich bin immer wieder mal beim Psychologen und beim Psychiater. Und dem Pharmakonzern, der mein Medikament erfunden hat, möchte ich an dieser Stelle sagen: Danke.
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Titelfoto: Jaci Berkopec | Flickr | CC BY 2.0