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So fühlt sich ein Delirium Tremens und zigfacher Alkoholentzug an

Ein Selbstmord schien mir verlockend, um mich aus diesem Zustand zu befreien. Ich wollte mich vor einen Bus oder in den Fluss werfen.
Alle Fotos von John Patrice Marteens

Alkoholismus wird selten als das betrachtet, was er eigentlich ist: als Drogensucht. Für viele ist es ein Leichtes, ihr Trinkverhalten einzuschränken oder zu kontrollieren und oft braucht es keine medizinische oder therapeutische Unterstützung für den Entzug.

Ich hingegen gehöre zu den süchtigen Trinkern. Das heisst, ich bin abhängig wie ein Heroinsüchtiger, aber habe den Vor-/Nachteil, meine Droge immer und überall bequem und günstig einkaufen zu können. Und ich falle nicht mal auf, wenn ich meine Dosis kaufe.

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Der Anfang meiner Sucht

Mein Konsum nahm im Sommer 2008 ungesunde Ausmasse an und sollte mich für lange Zeit begleiten. Ich studierte gerade für die letzte Prüfung des Semesters: Geschichte der Fotografie I. An diesem Morgen fühlte ich mich mir selbst fremd: Ängste, Zittern, Herzklopfen—so konnte ich mich nicht auf das Studium konzentrieren. Da ich keinen anderen Ausweg wusste, entschied ich mich für ein natürliches Medikament: ein Bier.

So begann ich zu trinken. Meine morgendlichen Angstzustände verschwanden und die Prüfung habe ich mit einer guten Note bestanden. Dennoch war die Prüfung an sich ein Horror; Ängste, kalter Schweiss, Herzklopfen. Konnte es sein, dass es sich nicht nur um Prüfungsstress handelte? Aber ich verdrängte diesen leisen Warnschrei, schliesslich hatte ich das letzte Examen des Semesters bestanden; es war Sommer und mit meinen Freunden gab ich mich einer alkoholtrunkenen Partystimmung hin.

Den Sommer verbrachte ich am Meer bei meinen Eltern. Jeden Morgen litt ich an fürchterlichen Angstzuständen und so begann ich nach dem Aufstehen heimlich zu trinken. Zu meinem Glück/Unglück bemerkte das niemand. Ich schaffte es immer meine Fahne und meine Ausdünstungen mit dem Alkoholkonsum des Vorabends zu erklären. Den ganzen Sommer über bestand mein Frühstück aus flüssigem Brot, also einer Dose Bier.

Alle Fotos von John Patrice Marteens

Zu diesem Zeitpunkt war ich überzeugt, dass die morgendlichen Angstzustände von selbst verschwinden würden und tatsächlich hatte ich es nicht nötig, jeden Morgen zu trinken. Immer noch glaubte ich, dass ich an Angstzuständen und nicht an Alkoholabhängigkeit litt.

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Anfang Oktober, zum Semesterbeginn, reiste ich zurück in die Stadt. Hier war ich freier, hier konnte ich zu jeder Tageszeit trinken, ohne jemandem Rechenschaft über mein Verhalten ablegen zu müssen. Hier begann mein langer Alkoholrausch. Er dauerte in etwa zweieinhalb Jahre.

Körperliche Abhängigkeit geht einher mit dem Verlust jeglicher Selbstkontrolle: Zittern, Schweissausbrüche, Schwindelanfälle. Ich traute mich kaum aus dem Haus und wenn, nur um Alkohol zu besorgen.

Der Alkohol wurde meine Medizin und ich komme nicht umhin, die Ekstase zu preisen, die ich spürte, wenn nach dem ersten Schluck alle Ängste verschwanden und ich mich wie ein Wiedergeborener fühlte. So konnte ich die Vorlesungen besuchen, studieren und Prüfungen ablegen. Ich war nach Wikipedia-Definition ein „high-functioning alcoholic". Meine Sucht fiel eigentlich niemanden auf. Ich ging unter zwischen all den Studenten, die anfangs Woche noch brav die Vorlesungen besuchten, um sich dann ab Donnerstag in Partylaune zu versetzen und sich feuchtfröhlich ins Nachtleben stürzten. Jede Ausrede war gut für eine besonders lange Happy-Hour.

Mein erster Entzug

Am Anfang meines dritten und letzten Jahres an der Uni machten sich die Nebenwirkungen meiner speziellen Frühstücksdiät bemerkbar. Mir wurde eine schwere Fettleber diagnostiziert und die Weisung erteilt, sofort mit dem Trinken aufzuhören. Damals ignorierte ich, was auf mich zukommen würde: der berühmt berüchtigte „cold Turkey"—kalter Entzug. Wenn schon eine körperliche Abhängigkeit besteht, ist das ein gefährliches Unterfangen. Eigentlich müsste dies in einer Klinik unter ärztlicher Aufsicht und massivem Einsatz von Beruhigungsmitteln stattfinden. Der Entzugsprozess kann zu Herzrhythmusstörungen, epileptischen Anfällen, Schlaf-, Appetitlosigkeit und Halluzinationen führen.

Mein erster Entzug war nicht allzu schlimm: drei Tage wenig Schlaf und Essen, mit leichten Halluzinationen. Danach ging es mir blendend. Keine Ängste mehr, ich musste nicht mehr trinken, um zu schlafen oder zu studieren. Für eine Weile war ich wieder ein normaler Mensch.

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Nach einem Bierchen im Freundeskreis fühlte ich mich am Morgen ein wenig verkatert, weshalb ich dachte, ich hätte den Alkohol im Griff und könnte wieder mit dem Trinken beginnen. Diese Illusion währte nicht lange und in weniger als einem Monat befand ich mich wieder in meinem Alkohol-Gefängnis.

Mein zweiter Entzug, der Horrortrip

Mitte März des Jahres 2011 wollte ich zum zweiten Mal mit dem Trinken aufhören. Also bereitete ich mich auf drei Tage Entzug vor. Ich wusste, was mich erwartet und kaufte mir Baldriantabletten. Die ersten zwei schlaflose Nächte gingen vorüber. Dieses Mal waren meine Angstzustände massiv, auch waren die Halluzinationen dermassen ausgeprägt, dass ich nicht im Dunkeln verweilen konnte, denn schreckliche sich verändernde Bestien krochen aus allen Ecken und Wänden. Deshalb musste ich zwei Tage in einem hell erleuchteten Raum verbringen, um den Halluzinationen zu entfliehen.

Am dritten Tag begab ich mich ins Spital. Da wurde ich zuerst mal mit einer Dosis Valium ruhiggestellt, danach folgte eine Untersuchung von Kopf bis Fuss. Ich erinnere mich, an einen unsichtbaren Gnom, der mich da auf Schritt und Tritt verfolgte. Ich sah seine Fussabdrücke. Während der Untersuchung fragte ich die Ärztin, ob die lachenden Gesichter in der Beleuchtung installiert sind. Ich war überzeugt, auf der Kinderabteilung zu sein und hielt die Gesichter für Clowns.

Nach den ersten Tests wurde ich auf einer Tragbahre in den Korridor abgeschoben. Hinter mir war ein Typ geparkt, der die ganze Zeit „Ich sterbe, ich sterbe!" schrie. Diese Schreie lösten in mir einen paranoiden Zustand aus und ich beschloss das Spital zu verlassen. Der Chefarzt empfahl mir einige Medikamente und ich kehrte zurück in die Wohnung meiner Freundin (Erst im Nachhinein, nach meinem ersten unterstützten Entzug, erfuhr ich, dass man mich damals hätte in die Psychiatrie einweisen müssen.).

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Zuhause eskalierte meine Lage. Zwei widerspenstige Neuronen sprachen zu mir in Genueser Dialekt: „Wir sind die einzigen Überlebenden, wir kontrollieren ab jetzt deinen Geist und deinen Schliessmuskel." Hierbei muss ich anfügen: Das Leitmotiv meines Delirium Tremens waren Exkremente, Kacke.

Die zwei Neuronen besetzten alles: Sobald ich die Kleider, die auf dem Boden lagen, anschaute wurden sie zu den lebendigen Neuronen. Schloss ich die Augen, sah ich zwei Würfel, der eine rot, der andere blau. Schaute ich die Wand an, begannen sich die Risse zu wandeln und mit mir zu sprechen.

Es war schrecklich und ich wurde diese Stimmen nicht mehr los. Meine Reise in den Wahnsinn liess mir keinen Bezug zur Realität. Meine Freundin schlief und in meinem Wahn meinte ich, dass sie Schluss gemacht hatte. So verliess ich ihre Wohnung. Der Rückweg zu meiner Wohnung war so absurd wie entsetzlich. Ich beschloss Nebenwege zu nutzen, um den Menschen auszuweichen. Die beiden Neuronen zwangen mich, jeden zufällig vorbeikommenden Passanten mit Obszönitäten anzuschreien.

Ausserdem zwangen mich die beiden Neuronen, die Hundescheisse, die ich unterwegs fand, zu essen. Das Neuron, welches meinen Schliessmuskel kontrollierte, liess mich dauernd in die Hose scheissen. Ein Selbstmord schien mir verlockend, um mich aus diesem Zustand zu befreien. Ich wollte mich vor einen Bus oder in den Fluss werfen. In meiner WG angekommen, schloss ich mich ins Bad.

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Drinnen untersuchte ich mich: Ich hatte nicht in die Hosen geschissen und fand nirgends Spuren von Scheisse. Dann nahmen die Halluzinationen wieder überhand. Irgendwie habe ich es geschafft, eine Hilfeschrei-SMS an eine Freundin zu senden. Als sie eintraf, wollte ich ihr dann aber die Tür nicht öffnen.

Die zwei Neuronen zeigten mir meine Zukunft, in der ich—obwohl dann trocken—von ihnen kommandiert und gezwungen wurde, meinen Unterhalt als Sexsklave im Park zu bestreiten. Ich war überzeugt, dass ich verrückt und ohne Freundin war. Das Bad füllte sich unaufhörlich mit Exkrementen, die unter dem Zwang der Neuronen essen musste. Ich sah weisse Kaninchen, die mit den Neuronen ein Seilziehen veranstalteten. Wenn die Kaninchen verloren, wurden sie ertränkt und ich fühlte mich wie sie: am Absaufen im See des Wahnsinns. Ich hatte auch Offenbarungen von meinem leiblichen Vater. Die Neuronen erklärten mir, er sei schon lange tot und auch ich sollte vor 35 sterben. Zu meinem Glück schaffte es die Freundin, ins Bad zu gelangen und meine Halluzinationen nahmen ab. Ich erzählte ihr von den Neuronen, darauf beschloss sie, mich zu sich nach Hause zu nehmen.

Bei der Freundin zu Hause beruhigte ich mich und schon bald traf auch meine Freundin ein. Als sie mir bestätigte, dass wir noch ein Paar sind, war ich überglücklich und konnte ihr erzählen, was ich durchgemacht hatte. Es gelang mir auch, ein wenig zu essen und zu schlafen.

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Entzug und Sucht

Ich beschloss, mich in Therapie zu begeben. Ich bekam 40 ml GHB täglich und so verbrachte ich meine Zeit bis im Sommer 2012 abwechselnd mit Alkohol und Therapie. Das GHB kam einer vorübergehenden Haftentlassung gleich, da es die Entzugserscheinungen abschwächte und von drei bis vier auf nur einen Tag reduzierte. Für zwei Monate lebte ich trocken, um dann alles mit einem neuen Absturz zu zerstören. Ich begann auch, GHB mit Alkohol zu mixen.

Ich verbrachte den ganzen Sommer bei meinen Eltern. Unter ihrer Aufsicht blieb ich nüchtern. Im Herbst zog ich meiner Freundin nach Berlin nach. Natürlich bin ich dort wieder in die Falle des Alkohols getappt. Zu diesem Zeitpunkt arbeitete ich in einer Jugendherberge und wenn ich auf Entzug war, liess ich mich krankschreiben. Ich bereitete mich auf meinen letzten „cold turkey" vor, indem ich mich mit Vitamintabletten und Beruhigungspillen eindeckte. Auch kaufte ich reichlich Äpfel und Orangen, die einzigen Nahrungsmittel, die ich während eines Entzugs zu mir nehmen kann.

Zusätzlich besorgte ich mir zwei Flaschen Bier, um hin und wieder einen Schluck zu trinken, denn kleine Mengen an Ethanol lindern die Entzugsfolgen.

Meine Freundin fuhr 20 Stunden mit dem Camper aus ihrem Urlaub nach Berlin, um mir beizustehen, denn sie kannte die Risiken. Ich bin so froh, dass meine Freundin Anna in den Jahren meines Deliriums immer an mich geglaubt hat.

Im März 2013 hatte ich das letzte Mal getrunken. Nach drei Tagen Entzug fühlte ich mich endlich „geheilt".

Auch jetzt noch geschieht es hin und wieder, dass ich nach Hause komme und an ein Glas goldfarbenes gekühltes Bier denke … dann an das nächste, an das Besäufnis, den Kater, die Depression, die Unfähigkeit zu arbeiten, eingeschlossen in einem Raum voller leerer Bierdosen. Nein, dafür bin ich mir zu schade. Ich habe Besseres zu tun.