Regretting Parenthood heißt übersetzt “Reue über die Elternschaft” und ist dieses Jahr einer der sozial wichtigsten Hashtags des Internets. Ausgelöst wurde die Diskussion von der Soziologin Orna Donath, die eine qualitative Studie über Mütter vorstellte, die ihre Mutterschaft bereuen. Bis dahin war es offenbar ein Tabu, öffentlich zu sagen, dass man ohne seine Kinder im Leben besser dran wäre—trotz der Liebe zum Nachwuchs.
Vor allem auf Twitter wurde unter #RegrettingMotherhood heftig diskutiert, ob man als Elternteil Reue empfinden darf. Helikopter-Eltern stritten sich mit gelassenen Müttern und Vätern, Hobby-Pädagogen mit kinderlosen Erwachsenen. Das Faszinierende an dieser Studie war—aus soziologischer Sicht—aber nicht mal die Studie selbst, sondern vielmehr die Reaktionen darauf. Wer dabei gar nicht zu Wort kam, waren, wie so oft, die betroffenen Kinder von bereuenden Eltern.
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Zusätzlich brachte die Diskussion aber auch viele Einblicke in die Fehler unseres Systems. Vermutlich würden weit weniger Eltern ihre Elternschaft bereuen, wenn sie genug Betreuungsplätze, Karrieremöglichkeiten und ökonomische Mittel hätten. “Die Reue bei Eltern besteht meist aufgrund von Überforderung und einem subjektiv empfundenen Verzicht”, sagt mir die Psychologin und Sexualtherapeutin Daniela Renn. “Bekanntermaßen scheinen Eltern die Elternschaft nach Auszug des Nachwuchses nicht mehr so zu bereuen.”
Aber auch vor dem Hashtag gab es bereits Eltern, die ihren Kindern offen sagten, dass sie es bereuen, Eltern geworden zu sein. In manchen Fällen ist es ein lapidarer Witz nebenbei, in anderen Fällen ist es ein hysterisches Streitgespräch. Manche Eltern sagen es nur ein Mal, andere immer wieder.
Vicky ist jetzt 29 und blickt auf eine Kindheit zurück, die von Bedauern geprägt ist: “Unsere Mutter hat uns sehr oft gesagt, dass ihr Leben ohne uns viel schöner und einfacher wäre. Was sie bloß verbrochen habe, um uns Kinder bekommen zu haben. Dass sie uns nicht mehr aushalte und sich umbringen will.”
Sie erinnert sich daran, wie überfordert ihre Mutter war und wegen Kleinigkeiten—wie einer Unterschrift für die Schule—an die Decke ging. Sie berichtet auch von Schlägen, wenn ihre Mutter besonders verzweifelt war, was nicht selten vorkam. Als ich sie nach einer bleibenden Erinnerung frage, erzählt sie mir, wie sie im Volksschulalter mal ein Armband für ihre Mutter geknüpft hat. Ihre Mutter lehnte es ab, weil ihr die Farben nicht gefielen. Daraufhin knüpfte sie zwei neue Armbänder. Auch die wurden abgelehnt.
Leonie* ist 28 und das zweite von drei Kindern. Während ihre große Schwester ein Wunschkind war, wollte ihre Mama sie abtreiben—und erzählte das auch in der Öffentlichkeit immer wieder. Ihr Vater habe die Abtreibung verhindert, da er eher ein Familienmensch sei, wie sie sagt. Für Leonie hat das ständige Bereuen ihrer Mutter in aller Öffentlichkeit nichts mit Ehrlichkeit zu tun—stattdessen war es für sie immer ein Anzeichen dafür, dass ihre Mutter ein Ventil und einen Sündenbock brauchte.
Ein Vorfall, der Leonie noch heute beschäftigt, hat mit dem Besuch einer schwangeren Tierärztin bei ihrer Mutter zu tun: “Ich stand an der rechten Seite meiner Mutter, vor uns die Tierärztin, die auf der Seite des metallenen Behandlungstisches stand, als meine Mutter den Kopf schüttelte und sagte: ‘Wenn ich es heute noch einmal entscheiden müsste, ich würde nie Kinder kriegen.’ Die Tierärztin schaute mich traurig an. Damals dachte ich, sie hätte gerade zum ersten Mal begriffen, dass sie den größten Fehler ihres Lebens begangen hatte. Heute glaube ich, dass sie großes Mitleid mir gegenüber empfand.”
Obwohl Leonie anders als Vicky nicht von Gewalt berichtet, hatte sie in der Jugend starke Schuldgefühle, eine chronische Gastritis und eine massive Angst, dass sie ihre eigenen Kinder auch eines Tages bereuen könnte. Heute denkt sie reflektiert darüber nach und hat genau wie Vicky keinen Kontakt mehr zu ihrer Mutter: “Ich hatte nie den Eindruck, dass es ihr darum ging, mir als ihrer vertrauten Tochter ihre Sorgen zu erzählen. Ich glaube auch nicht, dass man Kinder und Teenager als Seelsorger benutzen sollte.”
Die Psychologin Renn appelliert an den Verstand der Eltern: “Entwicklungspsychologisch gesehen sollte man auf gar keinen Fall das Kind vor dem zehnten Lebensjahr mit möglicher Reue konfrontieren beziehungsweise das Kind diese spüren lassen. Kinder tendieren dazu, das Gesagte auf sich zu beziehen und sich verantwortlich für das Unwohlsein der Eltern zu fühlen.”
In der späteren Pubertät hat meine Mutter mir im Streit oft an den Kopf geworfen, dass ich eben kein Wunschkind war.
Ihr Vorschlag ist es, dass sich Eltern mit sich selbst beschäftigen und im eigenen Umfeld reflektieren. Falls das Bedürfnis bestehen bleiben sollte, dem Kind mitzuteilen, dass die Elternschaft bedauert wird, sollte man das im Erwachsenenalter machen. Das Kind selbst ist in den wenigsten Fällen ursächlich für die Reue—schuld sind eher die Umstände, die mit dem Kind einhergehen.
Max ist jetzt 29 und ebenfalls kein Wunschkind. Allerdings scheinen seine Eltern alles richtig gemacht zu haben: Er arbeitet im Betrieb seines Papas mit und verbindet absolut keine negativen Gefühle mit der Offenbarung, dass seine Eltern eigentlich kinderlos bleiben wollten.
Er war 21, als er seinem Papa mit Arbeiten am Haus geholfen hat und das Gespräch beim Thema Familiengründung und Kinder gelandet ist. “Da hat er mir ganz offen erzählt, dass sie beide nie Kinder gewollt hatten. Als es dann soweit war, kam eine Abtreibung oder Adoption aber nicht infrage und sie haben sich beide immer mehr und mehr gefreut, Eltern zu werden.”
Obwohl sich Max damals kurz verunsichert gefühlt hatte, freut er sich insgesamt über die Ehrlichkeit seines Vaters. Auch die 23-jährige Sophie* ist dankbar, dass ihre Eltern ihr gesagt haben, dass sie kein geplantes Kind war. “Irgendwann mit 13 habe ich gefragt, wie es zur Hochzeit gekommen ist. Da war ich schon ungeplant unterwegs. In der späteren Pubertät hat meine Mutter mir im Streit oft an den Kopf geworfen, dass ich eben kein Wunschkind war und ihr Leben jetzt ohne mich besser wäre. Aber da ich mich trotzdem sehr geliebt gefühlt habe und verwöhnt worden bin, wusste ich, dass es nur im Affekt dahingesagt war.”
Die Reue der Eltern von Sophie und Max war keine, die ihre Eltern-Kind-Beziehung bestimmt hat—wohl auch, weil das negative Gefühl nicht das einzige war, worum es in ihrer Beziehung ging. Auch Sophie würde ihren Kindern auf Nachfrage ehrlich sagen, ob sie gewollt waren oder nicht. Und schätzt die offene Art ihrer Mutter.
Über dem steht die Frage, weshalb das Bedürfnis besteht seinem eigenen Kind zu erzählen, dass man die Elternschaft bereut. Daniela Renn rät zu einer gewissen Selbstreflexion. Die ist gesunden Elternteilen auch möglich. Vickys Mutter hat oder hatte wahrscheinlich gesundheitliche Probleme. Da hilft natürlich kein Shaming—nur eine Behandlung. Und da Kinder so etwas gar nicht als ein medizinisches Problem sehen können, sollten wir Erwachsene hinter die Fassade blicken, wenn uns ein befreundetes Elternteil von ihrer Reue erzählt. Oft ist es nur ein kurzes Dampf ablassen bei Freunden. In seltenen Fällen braucht das Elternteil medizinische Hilfe. Und das Kind in weiterer Folge auch.
* Namen von der Redaktion geändert
Fredi hat Twitter: @Schla_wienerin