So ist es sechs Nächte lang in den Strassen von Zürich

Ich war mal eine Nacht lang draussen in Santa Cruz, Bolivien, dort schlafen in jedem Hauseingang Menschen, oft Kinder. Auch in Lille, Frankreich, habe ich schon Füsse aus jedem Hauseingang baumeln sehen. In Buenos Aires richten sich ganze Familien in temporären Bretterbuden direkt auf dem Casa Rosada ein. So sieht die Welt aus. In Zürich ist das anders.

Auf dem Weg zum Escher-Wyss-Platz habe ich zwei Jacken passiert, piekfeine Winterjacken. Und dieselben Jacken habe ich zwei Tage vorher schon an derselben Stelle hängen sehen. Natürlich war nicht mehr Winter, aber die Nächte sind immer noch kalt. Die Jacken hielten Sonne und Regen stand, waren mal nass und sind dann wieder getrocknet. Vielleicht haben sie zwei Exil-Besucher verloren, als sie morgens um 4:00 Uhr aus dem Club stolperten. Jemand hat sie dann vielleicht aufgehängt, damit sie die Besitzer wieder finden.

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Mein Brett. Foto von Benjamin von Wyl

Das ist Zürich: Im Kreis 5 hängen Kleidungsstücke an Zäunen, wie an anderen Orten nur Plastiksäcke in den Baumkronen. Und in diesem Zürich habe ich sechs Nächte auf einem Brett neben der Limmat verbracht.

Das hat auch nur wenig mit Obdachlosigkeit zu tun, denn einerseits besuchen mich Leute, die ich mag und andererseits kann ich mir alles kaufen, was ich mir sonst so kaufen kann (vor allem Döner). Trotzdem ist es eine Erfahrung, eine Woche lang weder Zelt, noch Matte, noch Dach zu haben. Insbesondere, wenn es eine saumässig verregnete Woche ist.

Nacht 1

Als ich ankomme, ignoriere ich meine Bedenken, dass mein Brett etwas hoch postiert ist—das Gitter zur Limmat ist nur zirka 10 Zentimeter höher—und verstaue meine Sachen darunter. Dann regnet es. Es schüttet, es sprudelt.

Zum Glück habe ich keinen Anwesenheitszwang beim Brett und einen bequemen Unterstand daneben. Aber trotzdem sind diverse Sortimente Socken, Shirts und Bücher feucht. Der Schaden hält sich in Grenzen; die Motivation aber auch. Für die nächsten paar Stunden bin ich dann beschäftigt, denn ich leb auf dem Brett hinter einer temporären Bühne des Theater Neumarkts, also bin ich mit Bier und Performances in der zweiten Tageshälfte versorgt. Irgendwann sind dann alle weg. Aber es kommt kein Down, kein „Warum habe ich hier nur zugesagt?”-Moment. Nüchterner Pragmatismus macht sich breit: Zähneputzen, Hosen ausziehen, Thermohosen anziehen, Trainerhosen drüberziehen. Ein T-Shirt, ein Pulli, noch ein Pulli, noch ein Pulli, noch ein Pulli … Hier kommen dann logistische Herausforderungen dazu: Zuunterst der zu enge Angora-Pulli von meiner Mitbewohnerin, dann geht’s der geschätzten Grösse nach weiter und als Letztes ein Hoodie.

Nach etwa anderthalb Stunden Schlaf wache ich wieder auf, denn es ist kalt und windet. Ich ziehe meinen Wintermantel an, bedauere, dass ich die Skijacke zuhause gelassen habe. So fühlt sich ein Extrem-Mai zur unangenehmsten Tageszeit an.

Alle meine Kleider. Foto von Benjamin von Wyl

Um 5:00 Uhr ist dann definitiv fertig mit Schlaf, denn die ersten Trams verlassen das Depot nebenan. Dasselbe Pragmatik-Moment wie beim Einschlafen macht sich breit: Ich stehe auf, stolpere zum Brunnen unter der Autoüberführung und fülle meinen halb kaputten Wasserkocher. Auch ein Vorteil, den Obdachlose nicht haben: Nah bei meinem Brett gibt es einen Stromanschluss. Und ohne Tee—Mate und zwar 1.2 Liter—hätte die Aufwachphase zwei, drei Stunden länger gedauert. Dank warmem Gebräu bin ich aber um 8:00 Uhr so wach, wie sonst um 10:00 Uhr. Mate ist die Bio-Generation-Variante von 80-prozentigem Korn: Zwar ist er gesund, aber er versiegelt den Magen. Er sorgt dafür, dass ich nicht sinnlos Essen in mich reinstopfe, weil ich nichts zu tun habe.

Nacht 2

Das Schöne, wenn man mit sehr vielen Schichten schläft: Man weiss jeden Tag, was man anziehen soll. Nämlich alles. Das nimmt einem Entscheidungsdruck wie sonst nur religiöse Normen. Aber tatsächlich gehe ich diese Nacht mit ungekannter Ruhe schlafen: Statt dass meine Augen während einer Folge Better Call Saul zufallen und mich am nächsten Morgen wegen der Bildschirmmüdigkeit selbst hasse, gehe ich ins Bett und schaue den Strassenlichtern zu.

Das liegt nicht nur daran, dass ich kalt habe, sondern auch daran, dass es sehr schnell geht, bis man sich gewissen Zivilisationsnormen entledigt: Erste Schritte in Meditation und die Ruhe, die man gewinnt, wenn man den ganzen Tag an einem Fixpunkt verbringt, sorgen dafür, dass ich schon ohne Provokationswillen und Bewusstsein für meinen nackten Körper in die Limmat stürze wie mich meine Eltern geschaffen haben.

Foto von Eric Wyss

Mehr als fünf Stunden Schlaf liegen trotzdem nicht drin.

Nacht 3

Samstagnacht! Und natürlich passieren Leute auf dem Heimweg vom Ausgang mein Brett im Stadtzentrum. Das Problem sind nicht die Leute, die bis 9:00 Uhr in der Zukki tanzen, sondern die, die eigentlich früh genug wissen, wann es vorbei ist und um 02:30 Uhr an meinem Brett vorbeitorkeln. Die haben noch zu viel Energie und trotzdem ein alkoholzersetztes Bewusstsein. Erst werfen schreiende Menschen Kartons in die Limmat—zwei, drei Meter von mir weg. Dann kommen selbsternannte Kantonspolizisten:

„Grüezi, Kantonspolizei Zürii, chönd Sie mir mol erchläre, was Sie do mache? Sie dörfe do nid blibe.”

Für Polizisten sahen die zwei etwas zu geschleckt, etwas zu sehr nach Technoclub und etwas zu betrunken aus. Ich erinnere mich nicht mehr an meine Antwort, aber habe noch das Bild vor mir, wie der eine von ihnen sich an die Platte, auf der ich schlafe, lehnt und einfühlsam sagt: „Es isch guet. Du dörfsch witerschlofe. Me verstönd, was du do machsch.”

Am nächsten Morgen sind im Brunnen, bei dem ich mein Teewasser abfülle, nicht nur wie sonst zwei, drei angerauchte Zigis, sondern auch aufgeweichte Sandwiches.

Foto von Benjamin von Wyl

Dann sehe ich auch den einzigen Obdachlosen während meinen Nächten draussen und neben all meinem Komfort bemerke ich, was mich sonst noch von ihm unterscheidet: Er fährt mit einem Einkaufswägelchen seine Sachen durch die Gegend. Er kann nicht an einem Ort bleiben, sondern muss rumziehen, wird vertrieben. Ich habe einen Fixpunkt, ein Brett, für das ich langsam Heimatgefühle entwickle. Und auch wenn ich keine Bewilligung habe, draussen zu schlafen, weiss ich, dass ich jedem echten Polizisten was von „Kunstprojekt” vorbrabbeln kann. Der wird dann zwar denken, dass ich ein Freak bin, aber ein gesellschaftlich akzeptierter.

Nacht 4

Ich bin den zwei Ex-Pfadfindern, die mir empfohlen haben, eine Plastikfolie zu kaufen, unglaublich dankbar: Die Kälte kommt wirklich vor allem vom Wind, vielleicht auch vom Raureif. Eingewickelt in die Folie komme ich mit drei Schichten aus—und hab erst noch wärmer.

Foto von Benjamin von Wyl

Sonst ist es ein ruhiger Montag, Auffahrtsmontag: Soli-Gipfelis von engen Freunden und Soli-Bieren von Agglokinder-Passanten sei Dank. Die Meditation, in der ich mich mittlerweile eine halbe Stunde oder dreiviertel Stunden vertun kann, tut ihr übriges.

Nacht 5

Heute regnet es. Den ganzen Tag, dann ist vielleicht eine Stunde Pause, dann kommen die nächsten Schübe. Ich plane wirklich, nicht draussen zu schlafen. Ich weiss aber nicht, welches Konsequenzbewusstsein mich am Schluss dazu treibt es trotzdem zu tun. Sagen wir mal private Probleme.

Obwohl der prasselnde Regen ausbleibt, nieselt es in der Nacht weiter. Ich wickle mich so komplett wie möglich in die Blache. Meine Haare—sie sind im Vogelnest-Stil—bekommen Nieselregen ab, aber das ist auch erfrischend.

Trotzdem wache ich mehrmals auf und ich glaube auch, dass es der zweitprekärste Schlaf meines Lebens ist. Noch schlechter geschlafen habe ich nur die eine Nacht in der Stuttgart 21-Besetzung: Meine kleine Schwester und ich waren auf Interrail-Reise. Die Besetzung hatte da schon einen Winter überstanden und bestand vor allem noch aus Alkoholikern. Wir mussten in Stuttgart übernachten und meine Schwester war noch zu jung, um ohne Bestätigungsschreiben der Eltern in die Jugendherberge einzuchecken. „Dann schlafen wir im Park—super Jugendschutz, den ihr macht!” habe ich die Frau am Telefon damals angeschrien.

Der Schlaf war damals so prekär, da wir von einigen Besetzern Schlafsäcke ausgeliehen hatten, die penetrant nach Whiskey stanken. Wenn man gleichzeitig kalt hat, andererseits, das was einem warm gibt, stinkt. Dann ist das nicht so gut. Der Drum’n’Bass, der die ganze Nacht lang lief, war auch nicht hilfreich.

Nacht 6

Als ich morgens um 5:00 Uhr mein Brett verlasse, aufstehe und in ein Tram steige, fühle ich mich erst mal komisch, weil ich nicht wirklich viel in geheizten Innenräumen war—während der letzten Woche. Was mir aber wirklich die Laune vermiest, ist die Aussicht darauf, bald wieder meine Zeit in Pendelströmen zu verbringen. Das Just-in-time-Leben, die Verpflichtungen des Alltags—vom Abwasch bis zur Produktivität im Arbeitstag—machen mir Angst.

Wie viel ich während dieser Woche über Obdachlosigkeit gelernt habe, weiss ich nicht. Ich denke nicht allzu viel. Denn das Bewusstsein, dass ich experimentiere und die Dinge (Döner, auch Currywürste), die ich mir kaufen konnte, schuffen Komfort. Was ich aber wirklich gelernt habe: Sobald man sich damit abgefunden hat, dass man draussen lebt, sieht man alles pragmatisch. Man hat keine Angst vor Regen, Kälte, Belästigungen, denn man muss vorwegnehmen, was passiert. Man ist der Stadt ausgesetzt. In dem Fall war’s nur Zürich und deshalb vergleichsweise harmlos.

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