Auf dem Foto auf ihrem Facebook-Profil sieht Susanna aus wie viele andere 14-Jährige: matt geschminkte Lippen, gestreifte Adidas-Trainingsjacken und dick nachgezogene Augenbrauen, in der Hand umklammern ihre Finger mit langen Nägeln das Smartphone. In ihrer Chronik postete die Jugendliche Fotos ihrer kleinen Schwester neben Bobby Cars und Minnie-Maus-Plüschtieren. Doch Susannas Facebook-Profil ist nicht mehr einfach nur irgendein Teenager-Account, es ist so etwas wie eine virtuelle Gedenkseite: Über Susannas Namen steht heute “in Erinnerung an”. Seit drei Wochen ist sie tot.
Kaum eine Geschichte hat Deutschland in den vergangenen Tagen so bewegt wie die der Jugendlichen aus Mainz. Am 22. Mai war Susanna nach Wiesbaden gefahren und nicht mehr zurückgekehrt, am nächsten Tag meldete sie ihre Mutter bei der Polizei als vermisst. Vergangenen Mittwoch wurde Susannas Leiche schließlich in einem Feld gefunden, laut Polizei wurde das Mädchen missbraucht. Das ist für viele Eltern der schlimmste Albtraum. Eigentlich Grund genug für Journalisten und Journalistinnen, in ihrer Berichterstattung besonders verantwortungsvoll und sensibel zu arbeiten. Doch genau so gehen sie mit dem Mord an Susanna nicht um – denn der mutmaßliche Täter ist ein Mann aus dem Irak, der in Deutschland Asyl beantragt hat.
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“Jeder vergangene Tag ist ein Alptraum und die Hölle!”
Es ist nicht bekannt, ob Susannas Mutter, Diana F., in den letzten Tagen Medienanfragen bekommen und abgelehnt hat. Nach einem Interview, das sie RTL kurz nach dem Verschwinden ihrer Tochter gegeben hat, trat sie in der Presse nicht mehr auf. Auf ihrem Facebook-Account schrieb Diana F. am 1. Juni, dass sie sich von der Presse allein gelassen fühlte, denn RTL habe sich gegen eine Ausstrahlung des Gesprächs entschieden: Der Fall sei “nicht akut” genug.
Über eine Woche später, einen Tag, nachdem Susanna gefunden wurde, strahlte RTL das Interview mit der weinenden Frau dann doch aus, unter anderem in seinem Lifestyle-Magazin Explosiv. Danach fragte ein Reporter in einer Straßenumfrage Frauen, ob sie ihrer Tochter erlauben würden, einen Geflüchteten als Freund zu haben.
Diana F. schreibt auf Facebook, sie habe sich bei der Suche nach ihrer Tochter weder auf die Presse noch die Polizei verlassen können: “Jeder vergangene Tag ist ein Alptraum und die Hölle!” Tatsächlich nahmen auch Beamte wohl erst eine niedrige Dringlichkeit des Vermisstenfalles an: Die FAZ schreibt, man sei davon ausgegangen, dass Susanna von zu Hause weggelaufen sei. In der Zeit konnte sich der mutmaßliche Täter, Ali B., mit seinen Eltern und seinen Geschwistern in den Irak absetzen.
Medien konzentrieren sich oft zu sehr auf den mutmaßlichen Täter
Die scheinbar einfache Flucht des mutmaßlichen Täters per Flugzeug zeigt: Im Fall Susanna sind noch einige Fragen offen. Es ist auch die Aufgabe von Journalisten und Journalistinnen, diese an die Verantwortlichen zu stellen. In den vielen Artikeln nach Susannas Tod wird aber deutlich, dass viele Medien nicht nur berechtigte Fragen zur Aufklärung der Tat stellen – sondern vor allem die ausländische Herkunft des mutmaßlichen Täters thematisieren.
Journalisten und Journalistinnen müssen die Wahrheit beschreiben. In Kriminalfällen ist es aber manchmal besser, Teile davon nicht zu explizit zu verbreiten. Manche Informationen über ein Verbrechen sind für die Angehörigen und Betroffenen ein Trigger, der sie ständig an das traumatische Erlebnis erinnert. Für den Wert der Nachricht sind sie kaum relevant.
Im Gespräch mit VICE sagte der Wiener Medienhistoriker Friedrich Hausjell vor zwei Jahren, Journalismus sei oft täterfixiert und befasse sich kaum mit den Betroffenen oder ihren Familien: “Wir schauen uns die Opfer nur dann genauer an, wenn es keinen Täter gibt, zum Beispiel bei Naturkatastrophen, oder wenn kein Schuldiger gefunden werden kann.”
Auch bei VICE: Nairobis Frauen schlagen zurück
Auch in Susannas Fall ging es kaum um das Opfer. Die Bild-Zeitung veröffentlichte über zehn Artikel über Ali B.s Verbleib, nachdem er Deutschland verlassen hatte und gefasst wurde: schlafend unterm Rosenbusch, in Handschellen am Flughafen, im Spezialanzug auf dem Weg in die Untersuchungshaft. Trotz der Tatsache, dass die deutsche Untersuchungsrichterin B. zu dem Zeitpunkt noch nicht einmal vernommen hatte, berichtete die Zeitung mit seinem vollen Namen und seinem Foto und nennt ihn “Killer”. Davon abgesehen, dass Medien bis zur Verurteilung eines Menschen von seiner Unschuld ausgehen müssen, rückt die übermäßige Berichterstattung über Ali B. vor allem eine Person in den Vordergrund: den mutmaßlichen Täter mit seiner ausländischen Nationalität – und die Fluchtgeschichte seiner Familie.
Die populistische Berichterstattung verunsichert andere Betroffene
In der Folge wird das Verbrechen an Susanna, das Bundeskanzlerin Angela Merkel selbst als “abscheulichen Mord” beschrieben hatte, instrumentalisiert: für Forderungen an eine strengere Asylpolitik, für die Verteidigung deutscher Werte und für in Artikel-Überschriften verpackte “Danke Merkel”-Rufe. Über die nordirakische Heimat der geflüchteten Familie B. schrieb Bild etwa: “Zum Leben zu schrecklich, als Unterschlupf gut genug”. Außerdem unterstellte die Zeitung einen Zusammenhang zwischen dem überlasteten Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) und der Tat. Das Blatt forderte deshalb: “Unsere Regierung sollte Susannas Eltern um Verzeihung bitten!” Focus Online fragt derweil: “Muss Deutschland sein Frauenbild verteidigen?”
Solche Artikel spielen nicht nur Rechtspopulisten in die Hände, sondern verunsichern auch Betroffene, die Gewalt oder sexualisierte Gewalt erfahren haben, sagt Anna Hartmann vom Bundesverband der Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe gegenüber VICE. “Es gibt Opfer, die sich nicht trauen, die Täter zu nennen, weil sie nicht möchten, dass ihnen Geschehenes in diesen politischen Diskurs gebracht wird”, sagt Hartmann. “Wir befürchten, dass Fälle nicht zur Anzeige gebracht werden, weil für Täter oder Betroffene aufenthaltsrechtliche Konsequenzen drohen können.”
Am Ende zeigt die Berichterstattung über Susanna: Journalisten und Journalistinnen schaffen mit ihrer Arbeit ein Stück weit Realität. Manche nutzen diese verantwortungsvoll, um Betroffenen und Angehörigen eine Stimme zu geben. Andere heizen damit die Stimmung auf – und wundern sich dann, dass die AfD im Bundestag sitzt.
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