Eigentlich kann man sich die Müllkippe in Mumbais Stadtteil Deonar kaum schrecklicher vorstellen. Indiens älteste und mit 132 Hektar auch größte Abfalldeponie ist an manchen Stellen 20 Stockwerke hoch. Täglich kommen über 9.000 Tonnen Müll aus der 20-Millionen-Einwohner-Metropole dazu. Die Menschen in dieser Gegend werden im Durchschnitt kaum älter als 40 Jahre alt. Mangelernährung, Atemwegsprobleme, verursacht durch die giftigen Dämpfe, und Tuberkulose senken die allgemeine Lebenserwartung erheblich. Gleichzeitig ist dieser Ort aber eine wichtige Einkommensquelle für die Ärmsten der Stadt.
Die meisten Einheimischen, die an den Ausläufern der Deponie leben, arbeiten als Müllsammler. Sie übernehmen de facto die Mülltrennung und gelten als die “heimlichen Helden der Nachhaltigkeit”, als Rückgrat des informellen Abfallsektors der Metropole. Die meisten von ihnen fangen schon im Kindesalter an. Indien ist ein Land, in dem ein altes T-Shirt nicht einfach weggeworfen, sondern zu einem Putzlappen umfunktioniert wird. Laut Weltwirtschaftsforum wird hier im globalen Durchschnitt kaum etwas verschwendet. Einen nicht unerheblichen Anteil daran haben die Müllsammler.
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Indiens heimliche Nachhaltigkeitshelfer gehören allerdings auch zu den am stärksten marginalisierten Menschen des Landes. Ihre Bezahlung ist schlecht, ihr sozialer Status ganz unten. Obendrein wurden sie in den vergangenen Jahren auch noch um ihre Haupteinnahmequelle gebracht. 2015, 2016 und 2018 wüteten große Brände auf der Deonar-Deponie. Auch wenn natürliche Ursachen in Betracht gezogen wurden, vermuteten die Behörden “Sabotage” durch die Müllsammler und die sogenannte “Müllmafia”. Als Folge entzog die Gemeindebehörde rund 3.000 Menschen die Erlaubnis, die Müllkippe zu betreten, und baute einen großen Zaun um das Gelände.
“Dieser Schritt ist unfair. Allein das Plastik auf der Halde kann in der heißen Sonne ein Feuer entfachen”, sagt Jamal, ein ehemaliger Müllsammler, der nach den Bränden arbeitslos wurde. Jamal hatte acht Jahre als Müllsammler gearbeitet und 1.000 Rupien – umgerechnet knapp 13 Euro – pro Tag damit verdient, Plastikflaschen und weggeworfene Sandalen zu sammeln und sie an Recyclingzentren zu verkaufen. Jetzt muss er als Schneider arbeiten und verdient nur noch die Hälfte. Viele Ex-Müllsammler haben sich wie Jamal ebenfalls nach neuen Beschäftigungen umgeschaut. Andere können nicht loslassen und suchen jetzt woanders nach wertvollem Abfall.
Mannya hat auch früher auf der Deponie Müll gesammelt, heute bedient er eins der Miniatur-Riesenräder, die man in vielen von Mumbais Freizeitparks sieht. Seinen alten Job hat er allerdings nicht komplett aufgegeben. Durch offene Schächte steigt er in die Kanalisation, um Plastikbehälter und -flaschen zu sammeln. Damit verdient er 100 Rupien – rund 1,30 Euro – zusätzlich am Tag.
Da die Tätigkeit der Müllsammler von den Behörden nicht geregelt wird, gehen sie ohne Handschuhe, Atemmasken oder andere Schutzausrüstung zu Werke. Deswegen lassen vielen von ihnen inzwischen auch Glasscherben links liegen. Das Verletzungsrisiko ist den Verkaufspreis nicht mehr wert. So bleibt Glasmüll zurück, der fast zu 100 Prozent recyclebar wäre.
Trotz des aktuellen Verbots machen viele Abfallsammler auf der Deonar-Deponie weiter. Durch Löcher im Zaun oder mithilfe von selbstgebauten Brücken verschaffen sie sich illegale Zugang und riskieren eine Haftstrafe. Manche Müllsammler schmieren auch die Securitys der Müllhalde. Andere geben sich lieber dem Alkohol und den Drogen hin.
Ein paar Teenager rauchen in einer Seitengasse einen Joint. Während sie versichern, nur Gelegenheitskiffer zu sein, erzählen sie auch davon, wie viele ihrer Freunde den ganzen Tag lang Gras, Opium, Heroin und Codein konsumieren oder Bleichmittel und Klebstoff schnüffeln. Mohammad, der auch als Dealer tätig ist, sagt resigniert: “Es ist unser Schicksal, hier geboren zu sein. Jetzt ist das unser Alltag. Für manche wurde dieser Alltag zum Verhängnis. Die sind jetzt den ganzen Tag high.”
Es gibt aber noch eine andere Möglichkeit, Geld zu verdienen: Teil der Mafia werden. “Die Gangs kommen bei uns vorbei und nehmen uns viel Geld weg”, sagt Aktara. Ihr verstorbener Mann war Müllsammler, jetzt tut sie es ihm zusammen mit ihrem 18-jährigen Sohn gleich. “Teenager verfallen schnell dem Gang-Leben oder der Drogensucht. Hier gibt es auch kaum Alternativen.”
Diese Hoffnungslosigkeit rührt auch daher, dass viele Müllsammler gar nicht die Chance bekommen, sich in die Gesellschaft zu integrieren. Viele von ihnen erzählen, dass sie bei geeigneten Jobs abgelehnt werden, sobald sie erwähnen, wo sie leben. Was die ganze Situation noch weiter verschlimmert: Laut einiger Anwohner haben die Behörden entschieden, dass die Leute, die am Rand der Müllhalde wohnen und dort sogar als Sicherheitswachen gearbeitet haben, den Bereich jetzt illegal besetzen. Dabei leben viele dieser Menschen dort seit mehr als 25 Jahren – in ihren Ausweisen steht sogar ganz offiziell die Adresse.
Jetzt wollen die Behörden die kleinen Hütten platt machen, um Platz für eine breitere Straße zu schaffen, die den Mülltransport erleichtern soll. Wie es danach für die Anwohner weitergeht, scheint dabei egal.
“Ich habe als Kind angefangen, Müll zu sammeln und zu sortieren. Abgeschaut habe ich mir das von meinem Nachbarn. Heute verrichten aber keine Kinder diese Arbeit mehr”, sagt der Müllsammler Lalan vor einem Bereich, durch den man besser nicht gehen sollte, weil die Leute dort ganz offen ihre kleinen und großen Geschäfte verrichten. “Weil schon einige Kinder unter Autoteilen oder anderem schweren Schrott eingeklemmt wurden und starben, achten die Wachen sehr darauf, dass keine Kinder mehr auf die Müllhalde kommen.”
Er und andere Müllsammler müssen die Securitys inzwischen mit fast der Hälfte ihrer Einnahmen bestechen, um wenigstens einmal pro Tag auf die Mülldeponie zu dürfen. “Während der Regenzeit ist es besser, weil sie uns dann wegen des ganzen Schlamms nicht nachjagen wollen, wenn wir über den Zaun klettern”, erzählt Lalan weiter. Wenn die Deponie für ihn irgendwann endgültig keine Option mehr sein sollte, sieht es aber düster aus: “Selbst wenn wir eisern sparen und unsere Kinder zur Schule schicken, werden sie wegen ihres Hintergrunds keinen Job bekommen. Wann wird den Leuten endlich klar, dass wir ihnen mit unserer Tätigkeit eigentlich weiterhelfen?”
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