“Es ist Zeit”, sagte die Dermatologin, als sie vor mir stand und die Betäubungsspritze durch meine Lippe drückte. Der Schmerz war schrecklich. 20 Minuten später waren meine Lippen so angeschwollen, dass ich kaum Worte dafür finde. Ich sah aus wie eine alte gebotoxte Frau, die außerdem gefoltert worden war. Ich stand gefährlich kurz davor, mir vor Angst ins Hemd zu machen.
Und all das nur, weil ich endlich eine furchtbare Wucherung an meiner Lippe loswerden wollte, die ein Symptom meines seltenen genetischen Defekts ist.
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Ich bin 25 und führe ein ziemlich normales Leben. Ich arbeite als Lehrer und verbringe schon seit meinen Schultagen meine Freizeit mit denselben Leuten. Ich liebe Familienfeste, Fußball und Feiern im Freundeskreis. Die Sache ist nur die, dass ich mit 16 Herzprobleme entwickelte, die dazu führten, dass ein Ärzteteam mich im Krankenhaus überwachen musste. Ein paar Monate später fand ich nicht nur heraus, dass ich am offenen Herzen operiert werden musste, sondern auch, dass ich eine extrem seltene Krankheit namens Ruvalcaba-Myhre-Smith-Syndrom habe.
Laut meinem Arzt gibt es in meinem Heimatland Frankreich nur noch zwei andere Menschen, die dieses Glück mit mir teilen: mein Vater und irgendein Typ aus Toulouse. Trotz endlosem Googeln habe ich bisher keine genaue Angabe gefunden, was die Anzahl der Ruvalcaba-Kranken auf dem gesamten Planeten angeht. Laut der Website orpha.net, die auf seltene genetische Krankheiten spezialisiert ist, handelt es sich beim Ruvalcaba-Myhre-Smith-Syndrom (auch bekannt als Bannayan-Riley-Ruvalcaba-Syndrom) um eine „seltene angeborene Erkrankung mit Hamartösen Dünndarmpolypen, Lipomen, Makrozephalie und Lentiginose der Genitalien”. Auf Deutsch bedeutet das, dass ich an Magenproblemen leide, im Genitalbereich dunkle Flecken habe und dass mein Schädel erheblich größer ist als der eines durchschnittlichen Menschen. Aber vor allem habe ich eine tumorartige Wucherung auf meinen Lippen. Dieses Symptom zu verkraften, ist am schwierigsten.
Es dürfte wenig überraschen, dass ich einen ziemlich großen Komplex entwickelte.
Als ich das erste Mal ins Krankenhaus ging, waren sofort alle diensthabenden Ärzte von meinen Lippen fasziniert. Da meine Krankheit fortschreitend ist, waren die Anzeichen damals noch ziemlich schwach. Es hat mehrere Termine bei den besten Fachärzten des Landes gebraucht, bis man bei mir überhaupt diese Krankheit diagnostizierte.
Einen Herzfehler zu haben, ist für sich genommen gar keine große Sache. Ich denke, heutzutage kennen sich Ärzte mit Herzen sehr gut aus und es gibt viele Behandlungsmethoden. Mein Problem ist eher, dass meine Krankheit immer sichtbarer wird, je weiter sie fortschreitet.
Laut dem Soziologen Erving Goffman entstehen soziale Beziehungen in etwas, das er „eine Szene” nennt. Er schreibt, Menschen würden ihre Identitäten anhand verschiedener Elemente ihrer persönlichen Fassade darstellen: Status, Kleidung und Eigenheiten. Tja, wie sich herausgestellt hat, ist die Wucherung an meinen Lippen etwas, das durchgehend meine Beziehung zu Anderen definiert. Meine Mitmenschen sehen mir sehr selten in die Augen; meist starren sie viel lieber auf meinen Mund. Oft fühle ich mich auf diese Wucherung reduziert. Goffman schreibt auch, dass wir von Stigma sprechen können, wenn jemand eine sehr seltene Eigenschaft hat, die bei ihren Beziehungen zu Anderen ständig eine Rolle spielt.
Bei den meisten sozialen Interaktionen musste ich mich immer sehr bemühen, mein Gegenüber für das Gespräch zu interessieren, denn meine Fehlbildung schien für sie so gut wie immer unendlich viel interessanter. Und irgendwie konnte ich das ja auch nachvollziehen.
Als die Wucherung an meinen Lippen sich entwickelte, hatte ich eine Freundin, mit der ich seit etwa vier Jahren zusammen gewesen war. Sie sagte häufig, ihr sei egal, wie ich aussähe. Als wir uns kennenlernten, war ich 17 und mein Mund sah noch viel besser aus, als er es später tun würde—doch er war auch zu diesem Zeitpunkt nicht ohne. Jedenfalls sagte sie mir bei unserer Trennung: „Keine Sorge, irgendwann findest du eine Person, die dich so liebt, wie du bist.”
Es dürfte wenig überraschen, dass ich einen ziemlich großen Komplex entwickelte. Jegliche Erwähnung meines Makels erfüllte mich mit so großem Unbehagen, dass ich kaum noch einen ganzen Satz formulieren konnte. Das führte natürlich wiederum dazu, dass ich Single war und hauptsächlich zu Hause blieb. Die Leute rieten mir, auszugehen und zu flirten, aber ich konnte einfach nicht. Meine Arbeit litt auch darunter. Ich versteckte mich hinter einer Beziehung, die unschön geendet war, um meine Passivität zu rechtfertigen.
Sie beugten sich alle über mich und starrten mich an wie ein Zootier. Beim Anblick meines Munds hatten die Krankenpflegerinnen ihre Gesichtszüge gerade noch unter Kontrolle.
Letztes Jahr, mit 24, beschloss ich, dass meine Zeit des Zölibats und der Untätigkeit ein Ende haben musste, und stimmte einer experimentellen Behandlung zu, die mein Arzt schon 2007 empfohlen hatte. Damals hatte mich der schwierige Heilungsprozess abgeschreckt, doch ich hatte inzwischen die Nase voll davon, wie ein wandelndes Problem auszusehen.
Ich ging zu meinem alten Arzt, der mich einer neuen Dermatologin vorstellte. „Wir werden versuchen, diese Wucherung Schritt für Schritt wegzubrennen”, sagte sie und fügte hinzu, sie könne den Erfolg der Operation nicht garantieren, weil sie bisher so selten durchgeführt worden sei. Außerdem würde es ganz schön schmerzhaft werden.
Und so befand ich mich drei Monate später, am 6. August 2015, in einem sterilisierten Zimmer, umgeben von Ärztinnen und Pflegepersonal. Sie beugten sich alle über mich und starrten mich an wie ein Zootier. Beim Anblick meines Munds hatten die Krankenpflegerinnen ihre Gesichtszüge gerade noch unter Kontrolle. Dann kam die Nadel, und mit ihr der Schmerz, vor dem mich die Ärztin gewarnt hatte. Ein wenig später wurde ich von einer Pflegerin geweckt. „Wollen Sie ein Pflaster?”, fragte sie mich. Ich nickte wortlos und fuhr mit der Metro nach Hause.
Tagelang konnte ich kein Wort sprechen. Anfangs hatte ich noch zugestimmt, eine Pflegerin zu engagieren, die mir jeden Morgen beim Reinigen der Wunden half, doch es wurde bald klar, dass sie keine Ahnung hatte, wie sie mit einer Krankheit umgehen sollte, die sie zuvor noch nie gesehen hatte. Nach ein paar Tagen beschloss ich, die schreckliche Heilungsphase alleine durchzustehen und ließ sie gehen.
Nach drei Wochen der Pflaster und Heilsalben hatte ich an den fraglichen Stellen glatte Haut. Zwei Monate später hatte ich noch eine Operation, die dafür sorgte, dass ich zum ersten Mal seit dem Alter von 14 eine normale Unterlippe hatte. Jetzt habe ich nur noch eine OP vor mir und dann kann ich wieder leben.
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Im Vergleich zu den letzten acht Jahren sind meine zwischenmenschlichen Beziehungen heute sehr einfach. Die schrecklichen Schmerzschübe, die ich oft hatte, sind auch inzwischen verschwunden. Es ist so schön, sich wieder normal zu fühlen—neue Freundschaften schließen, ohne Abscheu angesehen werden und die bereits vergessen geglaubten Freuden des Flirtens genießen. Daran erinnert werden, wie kompliziert romantische Beziehungen sein können. Dass ich den Mut gefunden habe, ein Jahr lang Operationen durchzumachen, hat mich vor einem Leben der Verbitterung bewahrt.
Rückblickend habe ich aus dem Umgang mit meiner Krankheit viel fürs Leben gelernt. Ich fühle mich jetzt stärker, als könnte ich alles tun, wenn ich nur fest genug entschlossen bin. Ich bin auch dankbar für alles, was ich habe; ich werde mein Aussehen niemals als Selbstverständlichkeit sehen. Und doch lerne ich erst noch, wie ein normaler Mensch zu denken und zu handeln.
Ich hatte wirklich keine Ahnung, wie gut mir diese Operation tun würde, sowohl körperlich als auch sozial betrachtet. Der Psychoanalytiker Saverio Tomasella fragt in seiner Arbeit, ob vor jeder Transformation Selbstbewusstsein stehen muss. Seiner Meinung nach ist Selbstbewusstsein der Startpunkt für jegliche Bemühung, ein friedliches und glückliches Leben zu führen. Und da bin ich ganz seiner Meinung: Dank meines neu gewonnenen Selbstbewusstseins bin ich ambitioniert, motiviert und unternehmungslustig geworden.
Illustration: Wikimedia Commons | CC BY 4.0