Unser Zelt steht noch nicht mal, da hat mein freundlicher Nachbar sein elektronisches Namensschild bereits gehackt und uns zu Ehren eine in ASCII umgewandelte Version des VICE-Logos auf dem Display seines Frequenzempfängers ausgespielt.
Ein paar Meter hinter uns stehen mit Geräten hochgerüstete Wohnmobile, die von innen wie Ü-Wagen aussehen und man blickt auf gemütliche Zelt-Dörfer, die mit staubigen Blümchensofas zugestellt sind. Zwei Gruppen haben schon längst eigene Schienenfahrzeuge für die umlaufenden Bahngleise der Ziegelei gebaut. Die Manipulation des Gegebenen und die Lust an der Selbstorganisation sind fester Bestandteil sowohl des Camp-Programms als auch der DNA der Teilnehmer. So ist das beim Hacker-Woodstock, dem fröhlich-sozialen Austauschzeltlager für 4500 Nerds und Geeks, das in den verganenen fünf Tagen das Freiluftmuseum Ziegeleipark Mildenberg in eine Hochsommer-Tech-Utopie verwandelt hat.
Das Chaos Communication Camp bietet einen entspannten und produktiven Urlaub für alle, die sich als Sympathisanten des Chaos Computer Clubs verstehen und auch abseits des Bildschirms Spaß daran haben, gesellschaftliche und politische Themen anzuschneiden und mit mitgebrachten Sachen zu basteln und zu experimentieren.
Der selbstverlegte 10 Gigabit-Uplink mit kilometerlangem Glasfaserkabel mitten im brandenburgerischen Nichts und die fast 1.500 freiwilligen „Engel”, die die Zeltstadt am Laufen halten, bieten neben einem kleinen Badesee und ein paar Ferkeln einen Komfort, der eben auch an Ferien auf dem Land erinnert und viele Familien mit Kindern anlockt.
Wir haben aber nicht nur viel Input auf der dazugehörigen Konferenz mitgenommen, sondern waren auch mit der Kamera für euch auf dem Gelände unterwegs—natürlich behutsam, denn die Leute werden nicht so gern fotografiert:
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Gegen Abend erwacht das Camp und offenbart seine ganze blinkende Schönheit zwischen der rostigen Romantik alter Industrieruinen im Mildenberger Ziegeleipark und den beeindruckenden Lichtinstallationen rund um die große Rakete Fairy Dust und zwischen den Zelten (Die beste Party gab es übrigens unserer Meinung nach in der italienischen Botschaft und beim Zusammenschluss Chaos West, wo eine DJane von Das Labor noch weit nach fünf Uhr—natürlich—Smith’n’Hack auflegte).
Immer wieder höre ich sowohl von Hackern als auch von CCC-Sprechern wie nexus, wie sehr die Teilnehmer den direkten, analogen Austausch unter unterschiedlichsten Gleichgesinnten schätzen und dass sie hier „einfach sein können, wie man ist”. Das CCCamp ist folglich auch ein liebevolles Zuhause für Nerd-Humor („Ich geh schon mal los zum Simulacron.”—„Kannst du deinen Schatten de-tachen?”) und einen freundlichen, ungezwungen-familiären Dialog im gemeinsamen Wertekosmos zwischen den Klassiker-Themen Überwachung, digitale Rechte und Sicherheit—mit einem Schwerpunkt auf gesellschaftlichen Diskursen.
Die Karlsruher Anhörung zum Thema Staatstrojaner (wie immer brillant von Constanze Kurz aufgearbeitet) gehörte ebenso zum Vortragsprogramm wie eine Anleitung zum Satelliten-Hacken oder die ersten poetischen Gehversuche eines dichtenden Bots, der mit dem Inhalt der deutschen Wikipedia sowie Texten von Sido und KIZ gefüttert wurde (in etwa: „Vom Bordstein bis zu Bergeshöhn (…) es schwanzt die Straße schön: Kollegah der breite Rapper”).
Mittlerweile müsste der Abbau abgeschlossen sein; die 10.022 verbundenen W-Lan-Geräte werden sich mitsamt ihren Besitzern heute wieder langsam wieder in alle Himmelsrichtungen verteilen, das Glasfaserkabel hoffentlich schon für das nächste Camp aufgerollt. Über einige spannende Themen und Projekte—von physischer Überwachung, Internetzugang in Flüchtlingsheimen oder 3D-gedruckten medizinischen Instrumenten—die auf dem Camp vorgestellt und intensiv diskutiert wurden, werden wir an dieser Stelle noch ausführlich berichten.