So war es, in den 90ern in Wien fortzugehen

Ach, die 90er. Raves. Grunge. Der Beginn des Internet- und Handy-Zeitalters. Die erste PlayStation. Und das Erblühen der Wiener Fortgehkultur. Wenn ich ein Jahrzehnt wählen könnte, in dem ich wie Bill Murray am Murmeltiertag gefangen sein will, wären es die 90er. Das begann gleich mit einem wirklich famosen Start 1990: Matura samt legendärer Reise, 18. Geburtstag, Führerschein. Mit allen Segnungen für das heiß erwartete Erwachsenenleben stürzte ich mich also mit großen Erwartungen in die 90er und ich nicht enttäuscht. Echt nicht. Die zwei Jahre Werbeakademie als ans Bundesheer anschließende Jobausbildung hatte ich im ersten Jahr noch halbwegs im Griff, mit dem Auszug von daheim in eine Zweier-WG ergab sich das befürchtete Chaos. In dieser Dekade hätte wahrscheinlich jeden zweiten Tag mein Bluttest so etwas wie “nicht fahrtauglich” ausgespuckt. Das hatte viele Gründe.

Die Raves

Obwohl ich ja im Grunde meines Herzens ein Metaller und Rocker bin, blieben mir die Vorzüge der nun boomenden Raveszene nicht verborgen. Was noch relativ verhalten mit Eurodance à la Dr. Alban oder Ace of Base begann, hob dank massentauglicher Acts wie Marusha, U96 und natürlich Scooter blitzartig ab. Die am Anfang noch in relativ kleinen Locations stattfindenden Veranstaltungen erreichten bald Arena-Große-Halle-Dimensionen und übersiedelten wenig später in einen der damals noch leerstehenden Gasometer. Leer hieß: nix drin. Es gab den runden Ziegelbau, das alte Dach drauf und der Boden war kuppelförmig zur Mitte nach oben gewölbt. Das DJ-Pult der auf den aufwändig gestalteten XXX-Flyern beworbenen Raves stand meist in der Mitte, und so hüpfte ich gemeinsam mit quietschbunt gekleideten Ravern mit Schnullern, Trillerpfeifen, mahlenden Kiefern und Wasserflaschen in der Hand ein bisschen so wie bei Matrix Reloaded stundenlang im Kreis. Herrlich.

Videos by VICE

Ziemlich zeitgleich übrigens etablierte sich als Derivat der plötzlich aufpoppenden NDW-Revivals mit dem Namen Flieger das Iceberg, das ununterbrochen bis heute stur jeden letzten Freitag im Monat in der Arena die 80er abfeiert. Der Anblick, wenn damals nach Ende der jeweiligen Veranstaltungen am Sonntag im Morgengrauen die besoffene/bekiffte Arenakundschaft in Jeans und Boots auf dem Weg nach Erdberg auf MDMA – verliebte Gasometer-Raver in Buffalos und Gummirucksäcken traf – unvergesslich. Den internationalen Vergleich brauchte Wien nicht mehr zu scheuen: Zum Lokalaugenschein besuchten mein Mitbewohner und ich in der besten Manchester-Zeit zwei Skibekanntschaften nahe London, just zu dem Zeitpunkt als East 17 und 2 Unlimited dort voll durchstarteten. Ziemlich gleich irre überall.

Übrigens entwickelte sich zu dieser Zeit auch das Drogengeschäft in Wien nach internationalem Standard, zusätzlich zu einem Haufen Ecstasy-Pillen (legendär: die weißen Tauben, aber auch die Jolly Joker) war plötzlich auch wirklich potentes Speed in weiß, gelb und rosa zu haben. Koks sank rapide im Preis und eroberte so nicht nur die Nobeldiscos, sondern auch den Gemeindebau. Pilze wurden im Wechselgebiet gesammelt, hinsichtlich Acid wurden die in den 80ern noch häufig im Umlauf befindlichen Micros durch sauber aufgetropfte Pappen ersetzt. Aber: Bis es statt schlechtem Hasch zumindest durchschnittlich gutes Weed in Skunk-Qualität gab, sollte es aber erstaunlicherweise trotzdem noch bis Mitte der 90er dauern. Danke Alois Mock, danke EU, danke Schengen.

Die Live-Szene

Waren die 80er hinsichtlich internationaler Live-Acts noch ein Desaster, wendete sich das Blatt in den 90ern gründlich. Plötzlich gab es Konzerte zuhauf, vor allem dank der umtriebigen Rockhaus-Crew, die schon früh aufstrebende Bands wie Pearl Jam in die Brigittenau vor 2000 Besucher lockten. (Da war ich leider verhindert, eine der wenigen Dinge, die ich bis heute bedaure.) Die Szene gab’s natürlich auch, aber vor allem das CA-Zelt (später Bank-Austria-Zelt) mit Kapazität für paar tausend Besucher an der Stelle, wo heute die DonauCity steht. Später auch die Libro-Hall im Prater. Und nicht zuletzt reifte die Arena vom Beisl-Halle-Doppelstern zur 1A Open Air-Location.

Das Praterstadion wurde nun regelmäßig für große Gigs geöffnet, unvergessen für mich das Konzert der Abschiedstournee der Dire Straits 1992. Im Sog des immer größer und populärer werdenden Donauinselfests entdeckten internationale Promoter auch die Insel für sich, und so fanden dort nicht nur legendäre Konzerte wie das von Falco 1993 statt, sondern auch im Jahr zuvor der Doppelpack von Guns’n’Roses mit Vorgruppen(!) Soundgarden(!!) und Faith No More(!!!) mit Tags darauf U2. Auch nicht zu verachten: Das Sun Dance 1997 mit Prodigy, RATM, Fanta 4, Freundeskreis und Kruder & Dorfmeister. Es herrschte eine herrlich anarchische Stimmung und die Leute konsumierten ohne Schranken was sie kriegen konnten, auch musikmäßig. Ein gewisser Hang zum gierigen Mischkonsum ist mir aus diese Zeit bis heute geblieben. Und wie schon erwähnt immer mitten im Geschehen: die Donauinsel.

Copa Cagrana und Schuh Ski

Im Gegensatz zu heute, wo im Schatten des DC-Towers ewige Rechtsstreitigkeiten um Lokale und schwimmende Wracks die Medien dominieren, herrschte damals entlang einer kleinen aber umso belebteren Waterfront reges Treiben, sobald es nur ansatzweise Kurze-Ärmel-Wetter gab. Noch bevor Rollerblades ein Ding waren, kurvte ich dort inmitten einer vielleicht gerade Mal 30 Leute starken Stammclique von Bladern herum, misstrauisch beäugt von den angestammten Skatern. Die Taverne Ios, das Cocodrillo und das Atoll, eine teils auf einem Ponton schwimmende Open-Air-Disco, waren quasi das Mini-Bermudadreieck an der Rinne, der ganze Raum rund um die Reichsbrücke war bis auf die UNO-City noch unverbaut.

Weiter abseits gab es auch das Aquadrom, über allem thronte der verwinkelte Schuh Ski (abgebrannt 2004), ein Sportladen und Treffpunkt für Skater und Surfer. Da es damals weder Sand in the City noch die ganze Donaukanalszene von Strandbar Hermann bis zur Summer Stage gab, fanden sich zwangsläufig alle genau dort ein. Unter Tags in der Sonne braten und vorglühen, dann direkt in die Strandbars einfallen und bis zum Morgen durchfeiern wurde vorher und nachher nie wieder in so mediterraner Konsequenz betrieben wie an der Copa Cagrana in den 90ern.

Musik

Obwohl Filesharing, MP3 und iPods noch unbekannt waren, verbreitete sich die immer vielfältiger werdende Musik exponentiell rascher als noch in den 80ern. Der Grund waren leistbare Computer mit CD-Brenner. Dem DJ ein Bier gezahlt und einen Rohling ausgehändigt, und schon konnte man sich beim nächsten Mal die guten Tracks vom letzten Abend verlustfrei abholen. Bei Libro gab es sogar die aus Konzernsicht extrem dumme Policy, dass CDs auch geöffnet bis zu eine Woche nach Kauf gegen etwas anderes umgetauscht werden konnte. In manchen Büros wurden so von sonderbeauftragten Piraten ganze Tage im Akkord CDs gebrannt. Eurodance, Techno, House, Acid Jazz, Grunge, R’n’B, Britpop, G-Funk, Industrial, Alternative, Punk Rock,… Schon damals wurden ohne Maß und Ziel Tracks gehortet.

Eine umfassende Sammlung war nun keine Geldfrage mehr, und jeder, der einen CD-Player bedienen konnte und ein paar Silberlinge in einer Schuhschachtel hatte, war auch in der Lage sich als DJ in einer der zahlreichen Innenstadt-Lokale etwas dazuzuverdienen. Freilich nur, um es gleich wieder zu verprassen. Für Substanzen, aber auch für die damals gerade aufkommenden Modegetränke Saurer Apfel, Pfirsichspritzer, Hooch und natürlich alles mit Red Bull. Ich kenne Leute, die haben sich von dem Dreck tatsächlich eine chronische Gastritis eingefangen. Und dass überall geraucht werden durfte, versteht sich ja von selbst.

Bars und Großraumdiscotheken

Mit dem Erwachen der in den 80ern noch recht verschlafenen Bundeshauptstadt schossen nun auch diverse Lokale gleich grätzelweise aus dem Boden. In der Innenstadt poppten, ausgehend vom Bermudadreieck, zuerst hinauf Richtung Judengasse, dann weiter über den Hohen Markt hinunter entlang der Marc-Aurel-Straße und dann entlang des Salzgries bis zum Rudolfsplatz Unmengen kleiner Lokale auf, die alle eines gemeinsam hatten: Ab Mitte der Woche wurde hier übelst Gas gegeben.

Ein Konglomerat aus Pionieren der späten 80er und Neueröffnungen bot für jeden was: Stehachterl, Packerl, Steinzeit, Benjamin, Krebitz, Tasca, Weinblatt, Club Berlin, A Propos, Oskar, Fleckerl, um nur einige zu nennen. Das Flex übersiedelte an den Donaukanal, so konnte man nach dem Prinzip der Schischaukeln in den Alpen nun in Wien auf Sauftour den ganzen ersten Bezirk durchqueren, ohne zwischen den Lokalwechseln eine Zigarette fertig zu rauchen. Kaum zu glauben, wenn man sich ansieht wie tot die ganze Gegend nach 10 Jahren ultrakonservativer Stenzel-Herrschaft nun ist.

Das Flex war jedoch nur einer der Clubs, der sich quadratmetermäßig so richtig ausbreitete. Am Stadtrand galt das Nachtwerk viele Jahre als Inbegriff dessen, wofür heute Praterdome oder Bollwerk stehen. Auch die kurzlebige Fun Factory gleich neben der Libro Hall (heute ist da die Messe Wien und die WU) zog einige Zeit wahnsinnig viele Leute an. Unweit davon entwickelte sich noch lange vor VIEiPEE, Pratersauna oder Fluc eine schräge Trashkultur aus maßlosem Vorglühen in der Estancia Santa Cruz mit anschließendem organisiertem Anbaggern in der Villa Wahnsinn.

Abende, die dank des Weichzeichners Alkohol zum Glück nur noch schemenhaft in meiner Erinnerung existieren. Eine besondere Erwähnung ist noch das Rock In wert, Wiens erster und bis dato größte Metal-Club. In den 80ern mäßig erfolgreich als Disco namens Crazy Cats, später noch weniger erfogreich als Technobunker mit Namen MARS, geöffnet, konnte sich das zweigeschoßige Souterrainlokal vor allem durch die Kombination aus Latenight-Beisl und Hardcore-Club schnell in die Herzen der Wiener spielen. Oben gab’s um drei Uhr Früh noch Pizza, so richtig am Tisch mit Teller und Bedienung, drunter ging es in einem Gewitter aus fliegenden Haaren, Stahlblech und schwarzen Lederhosen zu Pantera und Metallica ab. So gut war das, dass selbst Teile von Guns’n’Roses nach ihrem Insel-Gig hier feierten und jammten. Leider musste diese geniale Location aufgrund hygienischer Probleme schließen. Ewig schade.

Eine weitere wichtige Achse zog sich rund um die Florianigasse vom Rathaus fast durchgehend bis zum Gürtel hinauf, diese Lokale waren aber weniger der hysterischen Action, sondern eher dem studentischen Herumgammeln, Wuzzeln, Kiffen im Hinterzimmer oder Schlussmachen vorbehalten. Es gab und gibt, um nur einige zu nennen, das Merkur, Benno, Tunnel, Brot und Spiele, Move oder das Scheffel. Letzteres etablierte sogar einen Alkbottle-Stammtisch mit Saufmaschine sowie ein eigenes monatliches In-House Fanzine namens Tief-Druck, welches abwechselnd im Hinterzimmer von Personal und Stammgästen mit Beiträgen bestückt wurde. Die Lokalszene war stark in diesen Tagen, und obwohl von Internet erst kleinweise die Rede war, gab es etliche fruchtbare Kooperationen von Clubs und Lokalen mit lokalen Medien.

Fazit

Dank eines straffen Veranstaltungsplanes aller Lokale und Clubs gab es praktisch jeden Tag einen Grund, sich mit Gleichgesinnten wegzuschießen. Verheerend insofern, als zu selben Zeit nicht nur die Sperrstunden verlängert wurden, sondern außer Würstelständen und den Instanzen Gräfin am Naschmarkt, Cafe Drechsler und Goodman auch in vielen weiteren früh öffnenden Lokalen wie dem Salz & Pfeffer nahtlos weitergesoffen werden konnte. Verheerend für Gesundheit, Geldbörse und Lernerfolg beziehungsweise Krankenstand-Bilanz. Mein typischer Wochenplan Mitte der 90er sah folgendermaßen aus: Montag – Ruhetag. Warum, wirst du gleich sehen. Dienstag – Tuesday 4 Club im U4, damals brandneu. Mittwoch – London Calling im Flex, von Postpunk, Grunge et al. Donnerstag – Lokaltour rund ums Scheffel, Freitag – entweder Arena oder U4, danach ins Rock In, Samstag – Gasometer-Rave oder Vollsturz in der Innenstadt, Sonntag – Speak Easy im U4, Flower Power. Zwischendurch proben mit der Band, die ja bekanntermaßen auch öfters schnarchend um vier Uhr Früh im Taxi enden. Im Sommer kamen dann noch je nach Wetterlage alternierend Ausflüge auf die Copa Cagrana dazu. Ich bereue nichts.*

Bonus Track: Irgendwas mit Medien

Wie gesagt, Internet war noch nicht breitentauglich und die heimische Printmedienlandschaft für Musik und Popkultur lag im Wesentlichen in der Hand vom Rennbahn Express. Abgesehen von ein paar Minimal-Fanzines und dem vom wackeren Tom Proll verlegten X-Act gab es eigentlich nur noch das Magazin vom Rockhaus (jetzt Planet.tt). So schickten sich ziemlich zeitgleich unterschiedliche Teams an, selbst was aus der Taufe zu heben. Auf der einen Seite Thomas Zeidler, später mit mir und Andi Hufnagl als Macher hinter Bäckstage – Das Musikmagazin, auf der anderen Seite Thomas Heher und Manuel Fronhofer, die ein Magazin namens The Gap gründeten. Wir vom Bäckstage hatten zwar noch ein paar exzellente Redakteure im Team, darunter Niko Alm und Thomas Weber (ja, genau die), allerdings zog uns ein Verlag über den Tisch und Bäckstage war tot. The Gap machte weiter. Der Rest ist ja bekannt. So, nun wisst ihr das auch.

* Außer jenen Abend, als ich mit meinem Freund Jürgen nach gemeinsam ca. 1 ½ Flaschen Whisky in voller Fahrt einen Brückenpfeiler auf der Höhenstraße erwischt habe. Mit dem Auto meiner Mutter. Long Story short: 1,2 Promille, Führerschein ein Jahr weg, Vorstrafe wegen Körperverletzung, ein Haufen Schulden. Leute, don’t drink and drive. Echt nicht.

**

Folgt Noisey Austria bei Facebook, Instagram und Twitter.

Noisey Schweiz auf Facebook, Instagram & Spotify.