Sara Hassan war bis Sommer 2018 politische Referentin im EU-Parlament.
Dieser Artikel ist Teil unserer Reihe “Neue Männlichkeit”.
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Jeden Donnerstagabend wird der Platz vor dem Europäischen Parlament, dem Place Luxemburg, für Autos gesperrt und zu einer riesigen After-Work-Feier umfunktioniert. “Pluxen” nennt sich diese Tradition. Hier trifft sich die “Euro-Bubble” nach einer harten Arbeitswoche; zum Austausch, Trinken und Vernetzen, heißt es. Was auf den ersten Blick wie eine sprühende, überdimensionale Firmenfeier wirkt, ist auf den zweiten auch noch etwas anderes: ein überdimensionaler Fleischmarkt.
Hier wird entschieden, ob du wichtig, jung und scharf genug bist, um mitzuspielen – und das Frischfleisch wird sortiert und gerankt. “Euro-Bingo” heißt das Spiel innerhalb der Bubble, dessen Ziel es ist, möglichst schnell eine Frau aus jedem Land Europas durchzuhaben. Je später der Abend, desto enger ziehen die Haie ihre Kreise. Als Frau landet man hier sehr plötzlich in einer Situation, in der eine nie sein wollte. Die Blase kann ein sehr unangenehmer Ort sein, wenn man nicht nur mein Geschlecht hat, sondern auch noch am unteren Ende der Nahrungskette steht. Das hängt natürlich stark mit der Machtverteilung in diesem Mikrokosmos zusammen.
Die Devise “Work hard, play hard” ist in Brüssel so weit verbreitet und so stark internalisiert, dass viele der hart arbeitenden, hart spielenden Männer hier automatisch davon ausgehen, es verdient zu haben, sich mit beiden Händen zu nehmen, was sie wollen. Dieses Selbstverständnis ist symptomatisch für die Brüsseler Machokultur.
Die großen Tiere hier sind mehr als das – sie gelten als Sonnengötter (überproportional viele Männer), vor denen Untergebene (überproportional viele junge Frauen) ehrfürchtig schweigen. Sie sind die “Entscheider”, vor denen Lobbyist*innen wie unterwürfiges Personal kriechen. Und sie verfügen über eine so immense Infrastruktur, dass sie deine Karriere mit einem Fingerschnippen komplett rauf oder runter befördern können.
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Die Idee, wie Männerrollen zu sein haben – diese toxische, repressive Männlichkeit – orientiert sich immer an ganz oben. Von den Führungsriegen lernt man, rücksichtslos zu sein und ausnahmslos die eigenen Interessen zu verfolgen. Dieses Verhalten wird als Schlüssel zum Erfolg gelesen. Es wird nahegelegt: Wenn du dieses Verhalten kopierst, steht dir das alles auch zu. Die meisten Neuankömmlinge haben das bereits nach wenigen Wochen verinnerlicht und wissen ab da ganz genau, dass offen zur Schau gestellter Machismus nicht nur keine Konsequenzen nach sich zieht, sondern sogar erwünscht und erfolgversprechend ist. Sie schneiden dann selbst erfahrenen Frauen vor versammelter Mannschaft das Wort ab und übernehmen diese kleinen Machtdemonstrationen, bis sie selbst Teil der Kultur sind.
Aber das Perfide an der toxischen Männlichkeit in der Euro-Bubble ist, dass es nicht reicht, das Problem grundsätzlich erkannt zu haben; man müsste schon auch entsprechend handeln, damit sich etwas ändert und für anhaltendes Bewusstsein schaffen. Wie das mit Unterdrückungsmechanismen nämlich so ist, kommt auch der Chauvinismus nicht jedes Mal laut schreiend zur Tür herein und verkündet: “Hallo, hier bin ich wieder, um dich zu unterdrücken.”
Stattdessen ist das Brüsseler Männlichkeitsbild fein eingearbeitet in das gesellschaftliche Gefüge vor Ort; in Form von ungeschriebenen Regeln und tief sitzenden Verhaltensweisen, sodass man praktisch ein ganzes privilegiertes Leben damit verbringen könnte, ohne es zu sehen. Wenn man das Problem aber einmal erkannt hat, sticht es einer überall ins Auge.
Wie das konkret aussieht? Toxische Männlichkeit äußert sich in “Entitlement” – also dem Anspruchsdenken, dass einem alles zustünde – und in dem ständigen Bestreben, Machträume zu konstruieren und immer aufs Neue Abhängigkeiten herzustellen, damit man seine Vormachtstellung in der Gesellschaft nicht verliert. Es äußert sich darin, dass ein Anzugträger bei einem Empfang einer Kollegin suggeriert, man könnte für eine Gefälligkeit da schon was deichseln bei der Jobsuche, auch wenn diese gar keinen neuen Job sucht, sondern erst wenige Minuten zuvor noch von ihrem spannenden aktuellen Job geschwärmt hatte.
Es zeigt sich darin, dass uns Frauen von den männlichen Kollegen eingeschärft wurde, bei Lobby-Meetings ja nicht unsere private Nummer rauszurücken, weil wir sonst mit unerwünschten Nachrichten bedrängt werden. Darin, dass in einer meiner ersten Wochen im Parlament ein Typ, der offenbar von meiner Anwesenheit Wind bekommen hatte, in mein Büro kam, um sich mich “anzuschauen” und auch nichts dabei fand, mich wie ein Zootier anzugaffen. Es äußert sich darin, dass einer Kollegin während eines Meetings anzügliche Kommentare über ihre Stumpfhose ins Ohr geraunt wurden, sodass sie sich unmöglich zur Wehr setzen konnte, ohne ihrerseits die sozialen Regeln des Settings zu verletzen.
Eine andere Kollegin wurde von einem ehemaligen Abgeordneten im Aufzug betatscht, als dieser einfach nach dem Parlamentsausweis an ihrer Brust griff, statt sie nach ihrem Namen zu fragen. Und eine mir bekannte Praktikantin, die mit ihrem Chef trinken war, wurde beim Versuch zu gehen von ihm verhöhnt, weil er schließlich wisse, dass sie sich selbst nicht so schnell wieder Drinks, geschweige denn ein Taxi nachhause leisten können würde.
Die Fleischbeschau, das Rating und die Unfähigkeit, ein Nein akzeptieren zu können: Darin steckt ein zutiefst frauenverachtendes Menschenbild.
Frauen sind hier Gebrauchsgegenstand, Zootier oder Dienstleisterin. Alles, nur keine komplexe Person mit eigenen Vorstellungen und Bedürfnissen. In diesem toxischen Umfeld sind es die Mächtigen wie die Halbstarken gewohnt, mit allem durchzukommen. Sie akzeptieren Ablehnung nicht und empfinden kein Schamgefühl bei Grenzüberschreitungen, weil es solche Kategorien in diesem Machtzentrum einfach nicht gibt. Wer hier etwas werden will, hält sich besser an die ungeschriebenen Regeln der mächtigen Männer – die Konkurrenz tut es schließlich auch und du bist schneller den Zugangs-Batch los, als du “Machtmissbrauch” sagen kannst.
Die Institution Europaparlament mit all seinen Machtstrukturen und Niederlassungen und Zweigstellen – und damit eigentlich ganz Brüssel – ist ein Ort des Schweigens und damit auch der beste Nährboden für sexuelle Übergriffe aller Art. Das macht es auch herausfordernd, wenn man konkrete Zahlen sucht: Zum einen begünstigt das Umfeld, in dem strenge Hierarchien und Abhängigkeitsverhältnisse herrschen, dass Betroffene schweigen, zu groß ist die Angst vor existenzbedrohenden Konsequenzen.
Zum anderen existiert zwar im EU-Parlament eine Kommission, die sich Belästigung annehmen will, allerdings wurde dort kein einziger Fall vorgebracht – wohl nicht zuletzt, weil Abgeordnete in diesem Gremium sitzen und so die internen Machtstrukturen des Hauses wiederholt werden.
Die Fleischbeschau, das Rating und die Unfähigkeit, ein Nein akzeptieren zu können: Darin steckt ein zutiefst frauenverachtendes Menschenbild, eine Weltanschauung, in der eine strenge Hackordnung nach Körper und Status herrscht.
Toxische Männlichkeit ist nicht nur für Frauen und die Gesellschaft im Allgemeinen schädlich. Sie zwingt auch Männer in eine furchtbar enge Rolle, die nur eine einzige Vorstellung davon zulässt, was es heißt, ein Mann zu sein. Sie lässt Männer nicht sein, was sie sein wollen, sondern schreibt ihnen ein Skript vor, wie man sich zu verhalten hat, welche Emotionen angemessen sind, um keine Brüche und gesellschaftlichen Sanktionen zu erleiden, wenn man ausschert. Das bedeutet nicht selten, dass die einzige akzeptierte Form von Gefühl, die ein Mann unter Männern zeigen darf, Wut ist.
In solche Korsetts werden Frauen und alle marginalisierten Gruppen seit Langem gezwängt – und kämpfen dagegen an. Das zu erkennen, Herrschaftsverhalten zu identifizieren und seine Annahmen und Faustregeln zu hinterfragen, ist der erste Schritt. Der zweite ist es, sich gemeinsam davon zu befreien. Und zwar Männer und Frauen gemeinsam, die nicht an diesem Unterdrückungsspiel teilnehmen wollen.
Für Männer bedeutet es auch: zu lernen, dass eine Zurückweisung kein narzisstischer Weltuntergang, ein “Nein, danke” kein großer Deal und ein cooler Umgang damit für uns alle das beste Rezept gegen einen Haufen Ärger ist. Und, weil man ja angeblich “nicht mehr weiß, was man beim Flirten überhaupt noch darf”, dafür gibt es eine ganz einfache Lösung: Im Zweifelsfall fragen, fragen und nochmals fragen, bevor man eine falsche Annahme trifft.
Es bedeutet auch, sich als Mann die Frage zu stellen, ob man wirklich Lust hat, bei diesem Spiel mit allen seinen Normen und Vorgaben mitzumachen – und, falls nein, sich mit anderen progressiven Männern zusammenzutun. Und es bedeutet nicht zuletzt: für sich und die gesamte Gesellschaft ein Umfeld zu schaffen, in dem wir selbstbestimmt leben und unsere Identität ausdrücken können.
Es bedeutet, zu erkennen, dass man kein Einzelfall ist. Dass es strukturelle Probleme gibt, die Druck erzeugen, vor allem für Frauen, aber auch für Männer, und dass diese Mechanismen in die Tonne gehören. Wir müssen einsehen, dass diese Form von gesellschaftlicher Herrschaft schlecht für alle ist und wir am Ende alle von ihrer Abschaffung profitieren. Schließlich werden wir mit dieser Befreiung der Geschlechter nicht fertig, wenn Männer nicht mitmachen. Egal ob in Brüssel oder sonst wo.
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