Vor ein paar Tagen schrieb jemand auf Twitter, dass klassische Instagram-Posts “cringe” seien. Dabei waren Foto-Posts vor den Stories und Reels einmal der einzige Zweck der Plattform. Dennoch muss ich der Person zustimmen: Ein Foto dauerhaft in seinem Instagram-Profil zu veröffentlichen, fühlt sich in der heutigen Zeit merkwürdig an. Aber warum ist das so?
Die Antwort ist nur ein Teil einer größeren Bewegung: Wir nutzen soziale Medien längst nicht mehr so, wie ihre Entwicklerkonzerne es einst vorgesehen hatten. Dadurch erreichen die Netzwerke schneller ihr Verfallsdatum. Das Resultat: Junge Plattformen werden uncool – und wir entwickeln uns technologisch zurück.
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Auch bei VICE: Ein Facebook-Moderator über die menschlichen Abgründe, die er sieht
Der Sterbeprozess von Instagram hat schon vor längerer Zeit eingesetzt. Genauer gesagt: in dem Moment, in dem die Gen-Z den virtuellen Raum betreten hat. Junge Menschen nutzen Instagram nicht mehr so, wie man es noch 2010 getan hat. Fotos von hübsch angerichteten Tellern, Sonnenuntergängen und Selfies wirken heute wie virtuelle Relikte aus einer Zeit, in der das Internet noch aus Millennials und Boomern bestand. Instagram spielt sich vor allem in den Stories ab. Wenn überhaupt.
Doch auch andere Plattformen erreicht der gesellschaftliche Wandel: Niemand weiß, ob Twitter die Übernahme durch Elon Musk überleben wird. Die Alternative Mastodon kann die neuen Userzahlen kaum bewältigen, und in all dem Chaos erlebt sogar die OG-Microblogging-Plattform Tumblr ein kleines Revival.
Es fühlt sich ein bisschen so an, als gäbe es keinen sicheren Ort mehr für all jene, die seit ihrem zehnten Lebensjahr die meiste Zeit im Internet verbracht haben. Wohin also mit ihnen?
TikTok, BeReal und Co.: Was hat das Internet uns noch zu bieten?
Würde man irgendeinen 16-Jährigen fragen oder eine medienaffine Start-Up-Gründerin, lautete die Antwort auf quasi alles: TikTok. Tatsächlich hat die App laut einer Studie mit durchschnittlich 95 Minuten täglich die höchste Verweildauer aller sozialen Netzwerke weltweit. Doch was ist mit all den Menschen, die sich beim Tanzen vor der Kamera unwohl fühlen und ihr Rezept für Nacho-Hähnchen-Pizza mit fünf Käsesorten noch nicht mit der Welt teilen möchten?
Eine mögliche Option wäre BeReal – die vermeintlich authentischere Social-Media-Plattform, auf der Nutzer und Nutzerinnen einmal täglich ihr verschlafenes Gesicht oder ihren Arbeitslaptop teilen. Doch auch das Konzept stößt schnell an seine Grenzen: BeReal bietet keinen Gesprächsstoff und keine Informationen über aktuelle Veranstaltungen oder Geschehnisse in der Welt.
Hat es sich also ausgescrollt? Haben wir alles gesehen, was das Internet zu bieten hatte? Sind es nicht die sozialen Medien, sondern ihre User und Userinnen, die ihr Verfallsdatum erreicht haben? Sollten wir – Gott bewahre – öfter mal raus in die Natur?
Ganz so schlimm ist es noch nicht, sagt Biz Sherbert. Sie arbeitet für eine Kommunikations- und Consulting-Agentur, die sich auf digitale Strategien spezialisiert. “Die Menschen verbringen ihre Zeit in sozialen Netzwerken heute anders als noch vor zehn Jahren”, sagt Sherbert. Deshalb seien sie jedoch nicht zwangsweise weniger online: Der Trend entwickle sich Richtung Nischen-Netzwerke, die die Bedürfnisse der Nutzer und Nutzerinnen spezifischer befriedigen. Dazu gehören etwa Twitch oder Discord.
“Diese Bewegungen spiegeln oft wider, was Menschen vor der Homogenisierung des Internets durch Big Social online getan haben”, sagt Sherbert. Sie meint damit die großen Konzerne und wie sich die Funktionen der einzelnen Netzwerke einander angeglichen haben. Sherbert sagt, die Funktionen seien dabei, sich zu entwirren: “Die Chatrooms der 2000er sind heute Discord Server”, sagt sie. “Die Blogspots und Tumblr-Blogs von früher sind heute Substack Blogs und andere Newsletter.”
Zuckerberg und seine Kumpels haben ihr Vertrauen verspielt
An der Abkehr von den großen sozialen Netzwerken sind die Konzerne demnach in Teilen selbst Schuld: Zum einen, weil sie sich in vielen Aspekten kaum noch unterscheiden. Zum anderen aber auch, weil sie über die Jahre viel Vertrauen verspielt haben und viele Nutzer heute sparsamer mit ihren persönlichen Informationen und ihrem Privatleben umgehen.
Der schottische Politikwissenschaftler Mark Wong sagt, jahrelange Diskussionen um die Ethik von sozialen Medien hätten einen großen Einfluss auf ihre heutige Nutzung gehabt. “Die Plattformen können sich nicht mehr hinter der Illusion verstecken, dass sie neutral oder objektiv handeln”, sagt Wong. Das liege auch am fehlenden gesellschaftlichen Vertrauen in die Personen an der Spitze dieser Konzerne.
Doch keine Angst, Mark Zuckerberg! Auch wenn das für dich jetzt alles dystopisch klingt: Instagram, Facebook und Co. dürften noch weit von ihrem Ende entfernt sein. Allein in Deutschland haben die Nutzer und Nutzerinnen laut einer Auswertung im Digital 2022 Report durchschnittlich 5,3 Social-Media-Accounts. Insgesamt nutzen etwa 87 Prozent der deutschen Gesamtbevölkerung soziale Medien.
Auch die Kommunikationswissenschaftlerin und Social-Media-Expertin Zoetanya Sujon glaubt nicht, dass die großen Plattformen bald aussterben. “Die Leute nutzen Facebook noch immer regelmäßig, wenn auch für langweiligere Dinge”, sagt sie. “Lokale Veranstaltungen, organisatorische Fragen, Geburtstage.” Während sich der Spaß in andere Netzwerke verlagert habe, seien die klassischen Plattformen für alltägliche Dinge verlässlich. Tatsächlich landete Facebook in einer Umfrage von ARD und ZDF im vergangenen Jahr auf Platz Eins der meistgenutzten Netzwerke bei allen ab 14 Jahren – wenn auch nur knapp vor Instagram.
Nur weil es heute altbacken wirkt, ein Fotoalbum vom Hundespaziergang auf seinem Facebook-Profil zu teilen, heißt das noch lange nicht, dass die Plattform irrelevant ist. Im Gegenteil: Allein die Wahlen in den USA und der Ansturm auf das US-Kapitol am 6. Januar 2021 haben uns gezeigt, was passiert, wenn wir die Communitys in vermeintlich verstaubten Netzwerken aus den Augen lassen.
Social Media wird in Zukunft … anders
Bevor die ollen Plattformen endgültig von unseren Displays verschwinden, dürfte also noch viel Zeit vergehen. Allein: Wie oft und wofür wir sie öffnen, könnte sich in den nächsten Jahren noch weiter verändern: “Die Zukunft von Social Media wird wieder intimer und orientiert sich an ihren frühen Jahren”, sagt Biz Sherbert. “Wir folgen wieder mehr Personen aus dem echten Leben und weniger Influencern.”
In der extrem schnellen und kurzlebigen Welt von Social Media könnte diese Bewegung wieder neuen Spaß bringen. Und wer weiß: Vielleicht schafft am Ende sogar Tom von MySpace darin sein Comeback.
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