Menschen

Ohne Freiheit ist Berlin nur eine Hauptstadt

Klopapierpackung und Einkäufe in Berlin

Die Tür der Apostel-Paulus-Kirche in Berlin-Schöneberg steht offen, was der einzige Grund ist, weshalb ich eintrete. Neben dem Eingang sitzt eine Frau an einem kleinen Holztisch, mit einer Decke auf ihren Knien. Da die Tür offen stehe, müsse sie hier in der Kälte sitzen, aber sie sitze dort, damit niemand den Türknauf berührt. “Wir haben unsere Öffnungszeiten verlängert”, erklärt sie. Ich schaue durch das menschenleere Kirchenschiff. Mittagslicht bricht durch bunte Fenster, wird warm, trüb, orange. “Am Nachmittag”, sagt die Kirchenfrau, “ist deutlich mehr los.”

Ein paar Schritte weiter nach vorne. Fresken und bunt bemalte Fenster rufen brachial epische Assoziationen hervor: Schuld, Sühne, Vergebung. Immer kniet jemand vor dem Herrn oder dem Licht, jedenfalls dem, dessen er nicht würdig ist, das größer ist als er. Dazu noch das wirklich exzellente Licht, vor allem am Altar – kann mich gar nicht daran sattsehen. Ich werde von so einer Wir-Sünder-haben-das-alles-verdient-Stimmung übermannt. Dabei war ich doch immer eher fürs Fliegende Spaghettimonster.

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Ich laufe weiter durch ein Berlin im Pandemie-Modus. Tag eins nach “Einführung der weitreichenden Beschränkungen der Bewegungsfreiheit”. Ich mag solche bürokratischen deutschen Formeln. Sie vermitteln mir immer das Gefühl, dass sich die Dinge zwar in eine uncharmante, mäßig wohlriechende und arg beengte Richtung entwickeln, aber dafür irgendwie funktionieren werden, als sei das alles schon in Ordnung so.

Ich muss nach Kreuzberg, wir sollen ja alle nach Hause und am besten dort auch bleiben. Das Virus macht uns alle zu freiwilligen Knastis.

Auch die U-Bahn scheint gerade nicht das beste Fortbewegungsmittel zu sein, in Zeiten abgeleckter Haltestangen. Zu Fuß will ich gehen, da lässt sich gleichzeitig gut die Lage checken. Ich halte den gesamten Tag über den Sicherheitsabstand zu anderen Menschen ein – anderthalb Meter! –, das wird mir auch gelingen bis zum Abend, aber bis zum Abend ist es noch lange hin.

Ich laufe in Richtung Langenscheidtbrücke. Hinter einer Glasscheibe steht auf dem Tisch eines geschlossenen italienischen Restaurants trotzig ein “Reserviert”-Schild. Auf der anderen Straßenseite sitzt an der “Train Cocktailbar” ein Mann neben einer mannshohen metallischen Gorilla-Figur und illustriert eindrücklich die Abstammungslinie des Menschen, indem er einen Döner einatmet. Soßenbäche laufen seine Mundwinkel hinunter und je kräftiger er beißt, desto kräftiger plätschert es.

Dinge und Menschen gewinnen wieder an Wert, die Berliner überwunden geglaubt hatten: Grenzen, Monogamie, Markus Söder

Und dann sehe ich sie. Zwei Rentner, sie und er, auf den ersten Blick unschuldig. In seinen Händen zwei volle Einkaufstaschen, uninteressant, sie aber trägt gleich zwei Pakete Klopapier. Erwischt! Insgesamt 16 Rollen, dreilagig, wenn ich richtig sehe. Zwei Fragen schießen mir in den Kopf. Die erste: Wie kann sie nur? Und die zweite: Wo hat sie die her? Ich finde ja, dass in dieser ganzen Klopapierdebatte Menschen wie ich viel zu kurz kommen. Ich kann mir seit dem Ausbruch der Pandemie kein Klopapier mehr kaufen, weil alleine der Gedanke, dass ich zu den Horden jener gehören könnte, die jetzt Klopapier horten, mich vom Kauf abhält. Scham also.

Es ist nur eine Frage der Zeit, bis zum ersten Mal Rentner wegen Klopapier auf offener Straße überfallen werden. Vielleicht von mir.

Ich sehe viele Familien auf den Straßen, sie laufen in die Parks hinein oder erobern Bürgersteige, auf denen vorher noch Touristen grölten und soffen. Nun ist dort Platz für den Kinderwagen. Familie, Rücklagen, ein eigenes Auto, ein eigenes Haus – vielleicht mit Kamin?, das alles zählt jetzt, als hätte sich die Erde einfach um 50 Jahre zurückgedreht. Dinge und Menschen gewinnen plötzlich wieder an Wert, die die Berliner überwunden geglaubt hatten: Grenzen, Monogamie, Markus Söder.

Ein Zettel mit der Aufschrift

Wobei die Krise ja auch eine Krise der großen Stadt ist. Wer in einem Zehn-Quadratmeter-Loch am Alex haust und seine nächste Monatsmiete mit dem Verkauf von Pillen im Club finanzieren wollte, leidet jetzt. Wer in einem Dorf wohnt, wo die letzte Kneipe vor 20 Jahren dichtgemacht hat und sich alle eh zum kleinen Schnack im lokalen Supermarkt treffen, merkt keinen großen Unterschied. Berlin liegt in diesen neuen Zeiten an der zivilisatorischen Abbruchkante.

Ich laufe in den Viktoriapark, dort auf den Kreuzberg, der dem Viertel seinen Namen gibt, und wo das Nationaldenkmal für die Befreiungskriege an preußische Heldentaten gegen Napoleon erinnert. Wird nach der aktuellen Tabula rasa auch ein Denkmal eröffnet? Vielleicht ja so ein Kerberos, ein mehrköpfiges Wesen, mit stilisierten Gesichtern der wichtigsten Virologen unserer Zeit: Christian Drosten, Alexander Kekulé, Lothar Wieler, natürlich alles Männer, umhüllt von zu Beton erstarrtem Klopapier.

Auf den Stufen des Nationaldenkmals entdecke ich die erste Clique, die offensichtlich auf die neuen Regeln pfeift. Fünf Frauen, Endzwanziger, viel Schminke, laute Stimmen.

“Was? Nein, wir haben doch keine Angst!”

“Wie hoch ist denn die Strafe, wenn wir erwischt werden?”

“Ja geht nicht anders, wir haben was zu besprechen!”

“Haha, Uni, nein! Wir arbeiten alle, aber jetzt halt nicht!”

“Ach, wir stecken uns nicht an!”

“Ist doch alles egal!”

In der Bergmannstraße versuchen die Menschen, gleich zwei Supermarktschlangen so zu bilden, dass sie sich nicht zu nahe kommen. Es klappt nicht. Wie viele Leben könnten eigentlich gerettet werden, wenn Menschen keine Panik mehr wegen Nahrung und Klopapier schieben würden und einfach normal einkaufen gingen? Um es mit einem abgewandelten Ostfriesenwitz zu sagen: Der Deutsche kauft wenig ein, dafür oft, und dann viel.

Ketzerischer Gedanke, aber: Tägliche Einkäufe sollten verboten werden. Jugendliche treffen im Park ja meistens wenigstens jeden Tag die gleichen Freunde. Erwachsene schieben sich bei ihren Einkaufsorgien täglich an neuen Erwachsenen vorbei zum leeren Nudelregal.

Menschen mit Einkaufstüten auf dem Bürgersteig

Am besten gehen Bücher, die nach Virus klingen: Die Pest, Die Pest zu London, Liebe in Zeiten der Cholera

Hier in Kreuzberg sind gleich mehrere Buchläden offen. Mich erfüllt das mit spontaner Freude, dass Politikerinnen und Virologen Bücher offenbar als systemrelevant einstufen. Man könnte jetzt von geistiger Nahrung schwadronieren, von Wissen und Worten, die unverzichtbar sind – wären bis vor Kurzem nicht auch Friseursalons noch offen gewesen. Systemrelevanz hat manchmal auch die Haare schön.

Der Verkäufer im Buchladen freut sich jedenfalls, weil in der vergangenen Woche die Umsätze täglich “doppelt so hoch wie normal” gewesen seien. Es klingt nach einem schlechten Witz, aber am besten gingen Bücher, die nach Virus klingen. Die Pest von Albert Camus, Die Pest zu London von Daniel Defoe, Liebe in Zeiten der Cholera von Gabriel García Márquez, alles alte Schinken, dazu was Neues: 1918. Die Welt im Fieber von Laura Spinney. Der Mann holt das Buch extra aus dem Schaufenster, in der Auslage an der Kasse ist es schon vergriffen, “Ein schönes Stück!”, sagt er.

Eine Frau kommt in den Laden, erinnert ihn daran, dass er abends “eine Bolognese” kochen wollte. “Aber du weißt bestimmt nicht mehr, wie das geht!”, sagt sie mit künstlich strenger Stimme. “Ich habe schon Bolognese gekocht, da warst du noch klein!”, entgegnet er lachend, und es ist so charmant und süß, wie nur öffentliche Liebeleien von Menschen über 40 sein können, so herzerwärmend auch, dass man sich mitfreuen oder kotzen möchte, man weiß nur nicht, was davon. (Ich lasse das 1918-Buch liegen. Den Camus und den Marquez kann ich nur empfehlen, bei Marquez gibts auch verliebte Rentner im Dauerflirt, aber recht lässig. Defoe habe ich nicht gelesen.)

Vor einigen Tagen noch hatten sich viele aufgeregt, dass auf dem Tempelhofer Feld so viel gechillt wurde, in Gruppen, mit Kaltgetränken, aufeinander und zusammen. An diesem Tag sind die Menschentrauben deutlich geschrumpft, Familien mit Kindern bilden größere Grüppchen, sonst entzerrt sich alles.

Gut zu beobachten ist eine Ableitung des von Politikern geforderten “Social Distancing”, nämlich das “Social Distance-Vorgaukling”: Gruppen von drei, vier oder fünf Menschen sitzen zusammen, aber so, dass sie im Zweifelsfall auch behaupten könnten, sie wären zwei oder drei Zweiergruppen, die sich nur zufällig im gleichen Park befinden. Aber man muss es deutlich sagen: Die Partypeople sind weniger geworden.

Der leere Alexanderplatz mit wenigen Menschen

Nur in der Hasenheide hat sich nichts verändert. Dort stehen die Dealer noch dort, wo sie immer stehen, und machen das, was sie immer tun. Mich beruhigt das auf eine seltsame Art und Weise. Ich muss in diesem Moment an einen Frühlingstag im Jahr 2015 denken, als Berlin den Null-Toleranz-Nonsens im Görli eingeführt hat, wonach das fragile Sozialgefüge des Parks durch Razzien schwer verheert worden ist. Anschließend lief ich durch den Görli und zum ersten Mal war dort kein Dealer zu sehen, wirklich kein einziger, auch in den Seitenstraßen nicht, und ich dachte: Wenn die Bienen von den Feldern verschwinden und die Dealer aus dem Görli, dann ist das Ende der Welt nicht mehr fern.

Am Kotti wohnt ein Freund von mir, nennen wir ihn Bill. Er kommt auf seinen Hochparterrebalkon heraus, nimmt einen Wischmop und fängt an zu wischen, während wir sprechen. “Ich finde das einen zutiefst konservativen Gedanken, wenn manche glauben: Dann übersteht man das und es geht weiter wie davor”, sagt Bill weiterwischend. “Menschenmassen wie am 1. Mai findet doch keiner mehr gut, das ist zu viel.” Ich erinnere Bill daran, wie oft wir beide schon am 1. Mai durch Kreuzberg gezogen sind. Er wendet ein, dass es heute auch mehr Menschen geworden seien, mehr Touristen, zu viel von allen. Ich finde es beruhigend, dass Bill seinen Balkonboden wischt, denn das heißt doch, dass er an eine Welt nach der Krise glaubt. Und gleichzeitig fürchte ich, mit ihm nicht mehr 1. Mai feiern zu können, so nach Berliner Art. Verdammt.

Vielleicht bereisen manche jetzt ihr inneres Ausland. Nicht allen wird gefallen, was sie dort finden

Vielleicht stimmt es ja, dass durch die Krise jeder auf sich selbst zurückgeworfen wird – und dadurch etwas in sich findet, das vorher unter all dem glitzernden Tand der Globalisierung oder dem Staub des Kampfes gegen eben jene verschüttet war. Dann hätte alles, was jetzt passiert, eine positive Seite. Zumindest hat der Gedanke etwas Tröstliches.

Was mir nicht gut reingeht, weil es mir noch nie gut reingegangen ist, ist die zwanghaft auferlegte Entschleunigung. Jetzt gerade braucht es sie, klar. Aber zumindest mir graut es davor als Folge der Pandemie mehr auf das regionale, lokale, heimelige Ding zurückgeworfen zu werden. Ich sehe die völkischen Kader schon grinsen.

Sigmund Freud hat den Begriff des inneren Auslands geprägt, als Bereich des menschlichen Seins, den kaum einer freiwillig betritt und die meisten sowieso nie. Vielleicht bereisen manche jetzt ihr inneres Ausland. Nicht allen wird gefallen, was sie dort finden. Wenn nach der Krise aber noch weniger Menschen ins ganz gewöhnliche Ausland reisen – wie unglaublich viele Berliner waren eigentlich noch nie in Polen?! – wären die Spätfolgen von allem, was gerade passiert, mehr als deprimierend.

Das Tempelhofer-Feld mit einigen Spaziergängern. Auf dem Asphalt steht

Ich bin fast zu Hause, muss nur noch in den Supermarkt. Es ist nichts mehr im Kühlschrank, ich habe mich tagelang dem Wahn zu verweigern versucht, jetzt muss ich wirklich. Es ist brechend voll. Ein auf den ersten Blick geistig zurechnungsfähiger alter Mann versucht, mich von einem Regal abzudrängen, in dem vermutlich mal das Mehl gestanden hat. Jetzt herrscht dort Leere, aber das hält ihn nicht auf.

Aus den Lautsprechern schallt Werbung. Thomas Gottschalk und Oliver Pocher gründen eine digitale “Quarantäne-WG”. Natürlich ist das an diesem Tag auch kein Scherz. All die Zombiefilme hatten also doch Recht: Die Untoten kommen.

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