Das Thema der diesjährigen Parade zum St. Patrick’s Day in Dublin war „Celebrate Now”. Abgesehen von der behördlich abgesegneten Fadheit dieses Slogans hat er auch etwas vage Apokalyptisches an sich. Feiert jetzt, denn morgen werdet ihr verkatert sein. Feiert jetzt, denn morgen werden die Straßen mit Kotze und Blut besprenkelt sein und ihr werdet trotzdem zur Arbeit müssen.
Doch jetzt ist nicht mehr St. Paddy’s Day, sondern St. Paddys Nacht bricht an, und die Straßen sind seltsam still. Ein grauer Nebel hängt über ihnen und man hört in der Ferne Sirenen. An der Harcourt Street sehen wir dann die erste Vorbotin einer chaotischen Nacht: Eine junge Frau tanzt aus einem Club direkt in den Pfad eines sich nähernden Luas (die langsame, violette Tram von Dublin) und er kommt zum Stillstand, bis sie aus dem Weg getanzt ist. Sie trägt den ersten von vielen tausend grünen Velour-Zylindern, die ich heute Nacht noch sehen werde. Der charakteristische St.-Patrick’s-Day-Hut, der aus glänzendem, leicht entflammbar aussehendem Stoff genäht ist und an dem häufig ein falscher roter Bart hängt.
Der Hut beschäftigt mich, wirft Fragen der nationalen Identität auf, die sich nicht einfach in Alkohol ertränken lassen. Wird er in Irland hergestellt, oder doch in China oder Bangladesch? Stehen gejetlaggte Touristen Schlange, um sie zu kaufen, oder werden sie auf dem Flug hierher zusammen mit den Kopfhörern verteilt? Sind sie schwitzig und unbequem? Und ist niemandem, weder unter den Iren noch unter den Ausländern, eigentlich klar, dass sie sich mit dem Aufsetzen des Hutes in den Augen der restlichen Menschheit unmittelbar in totale Witzfiguren verwandeln?
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Am Ende der Straße begegnen wir einer Gruppe Gardai (irische Polizisten), die mit Freuden für Touristenfotos lächeln und posieren. Sie sagen uns, Taschendiebstahl und betrunkene Ruhestörung seien die häufigsten Vergehen an diesem Tag. „Wenigstens kriegen die Taxifahrer, die heute arbeiten, mehr gezahlt”, bemerkt einer von ihnen. „Wir kriegen immer noch das Gleiche wie an allen anderen Tagen.”
Es wird Nacht. Die Wahrzeichen unserer Stadt sind zur Feier des Tages in ein giftiges Grün getaucht. Dame Lane, die kleine Gasse voller Bars, in die wir uns als Nächstes begeben, ist noch grüner: So viele der Gestalten, die sich hier tummeln, haben sich einen angezündet, dass der Grasgeruch schon fast den Geruch von Dönerfleisch und schalem Bier überdeckt.
Wir biegen in die Dame Street ein, die uns Temple Bar, der größten Touristenfalle Dublins, näherbringt. Doch erst mal müssen wir den See aus Pisse überqueren, der sich draußen vor Rick’s Burgers gebildet hat, einem legendären Schuppen für hungrige, besoffene Nachtschwärmer. Die Leute pinkeln schon in einer normalen Nacht hinter Rick’s auf die Straße, doch heute ist der Fluss aus menschlichem Urin so groß, dass er über seine Ufer tritt und unseren Weg überschwemmt.
Wir stehen eine Weile vor dem Pisse-See und atmen widerwillig seinen Geruch ein. Um uns herum werden die Dinge zusehends sonderbarer. Mehr rostrote Bärte ziehen an uns vorbei, zottelig und drahtig wie ungepflegtes Schamhaar. Anscheinend hat ein Mann im Abrakebabra eine Toilettentür eingetreten und in der Kabine daneben hat man ein Pärchen beim Sex erwischt. Eine sehr laute, sehr betrunkene Frau, an deren Gesicht wahllos künstliche Wimpern kleben, sucht Streit mit Fotografin Sarah, doch diese schafft es, sie mit Worten friedlicher zu stimmen.
Als wir endlich das Kopfsteinpflaster von Temple Bar unter den Füßen haben, treffen wir einen Brasilianer in Ballettröckchen und Scherzbrille. „Mein Vater war ein Kobold und meine Mutter war eine Fee”, teilt er uns mit. „Ich bin eine Kreuzung zwischen Spezies.”
Die Stimmung um uns herum ändert sich, wird seltsamer und von mehr Dringlichkeit erfüllt. Der gleiche grüne Hut taucht wieder und wieder auf. Er fällt von benebelten Köpfen und verbirgt die Gesichter seiner Träger, die k.o. auf der Straße liegen oder einander an Hauswände gedrückt traktieren. Er scheint seine Träger dazu zu animieren, die schlimmsten historischen Karikaturen der Iren zu imitieren: völlig Gestörte, die primitivem Verhalten frönen.
„Die jungen Skanger haben vorhin Radau gemacht”, sagt mir ein Typ („Skanger” ist ein abfälliges Wort für Dubliner aus der Arbeiterklasse). „Sie hatten die Taschen voller Eier und haben damit geworfen. Ich hab sie gefragt, wer denn die Ziele sind, und sie sagten ‚die feinen Leute’.”
Diese Jugendlichen werden von den Leuten, mit denen ich spreche, immer wieder erwähnt und nicht selten schwingt dabei so etwas wie Angst mit. Vielleicht ist es der Verlust der Unschuld, der die Leute so verstört: Der Paddy’s Day soll irischen Kindern auf althergebrachte Weise mit Parade und Kirmes erfreuen, doch anscheinend schlüpfen sie, sobald sie alt genug sind, ihren Eltern durch die Finger, um sich stattdessen den Freuden von Smirnoff Ice, geschnorrten Zigaretten und Eierprojektilen hinzugeben.
Unter unseren Schuhen knirscht Glas, und unsere Umgebung fühlt sich langsam an, als hätten wir das Ende der Welt erreicht. Es gibt Gräben voller Dosen und leere Pommes-Boxen stapeln sich auf der Straße, dazwischen sitzen Touristen auf dem Gehweg. Ihre Verkleidungen lassen auf einen unausgesprochenen Selbsterniedrigungs-Wettkampf schließen: Männer in Elasthan und Lamettaperücken, Frauen in hohen Absätzen und Sexy-Kobold-Aufzügen. Es ist wie eine irische Drag-Show, die auf Ibiza statt auf der grünen Insel konzipiert wurde.
In der Hölle kreuzen sich am Nachthimmel grüne Scheinwerferstrahlen. In der Hölle grölen sie „Seven Nation Army”, als sei dieser Song nicht schon lange vorbei. In der Hölle haben alle eine Vuvuzela.
Die Absurdität dieser Nacht wird immer deutlicher: die Leere der Straßen um uns herum, das Hochdruck-Chaos von Temple Bar. Die mehr als offensichtliche Tatsache, dass niemand hier überhaupt irisch ist und dass sie—und eigentlich auch die Iren selbst—scheinbar abgesehen vom Saufen einen Scheiß über irische Kultur wissen.
Und wir Iren haben dieses Fest nicht einmal erfunden: Vor 1961 war der 17. März ein richtiges Heiligenfest, was bedeutete, dass es nirgends Alkohol zu kaufen gab, außer seltsamerweise auf einer Hundeausstellung im Süden Dublins. Die ersten Paraden fanden in Boston und New York statt. Es waren Emigranten, die den St. Patrick’s Day in den Paddy’s Day verwandelten, und schließlich in den „Patty’s Day“. Es waren Amerikaner irischer Abstammung, die das Bier in den Pint-Gläsern und das Wasser in Chicagos Flüssen chlorophyllgrün färbten.
Und es war so eine Art postkolonialer Instinkt, der uns dazu trieb, all das hier in Irland zu übernehmen: Wir sahen ein Spiegelbild des alkoholisierten Chaos, mit dem unser Land so häufig karikiert wurde, und beschlossen, mithilfe von Touristen Profit daraus zu schlagen. Macht uns lächerlich, reißt Kartoffelwitze, schießt pietätlose Selfies vor dem Hungersnot-Denkmal. Als Rache verlangen wir 7,45 Euro für ein Bier: Ihr könnt gerne unsere Kultur zum Wucherpreis trinken.
In diesem Sinne ist der St. Patrick’s Day eine kollektive Illusion, so fadenscheinig wie ein synthetischer roter Bart, der an einem Hut befestigt wurde. Wir tun hier nichts weiter, als nach einer künstlichen Nachbildung des irischen Nationalcharakters zu grapschen, doch das hilft uns dabei, uns mit all den absurden Dingen abzufinden, die wir nicht ändern können. Damit, dass wir Angela Merkels Schoßhund sind. Damit, dass wir ein Staatsoberhaupt haben, das dämlich grinsend mit Hulk Hogan posiert. Damit, dass wir nicht länger schriftlich aus der Katholischen Kirche austreten können (das Kirchengesetz wurde 2010 geändert). Wenigstens können wir immer noch ein Heiligenfest nehmen und es in ein weltweites Besäufnis verwandeln.