35 Jahre New Wave—Stephen Morris persönliche Rangliste der New Order-Alben

Nach dem tragischen Tod von Ian Curtis sammelten die übriggebliebenen Mitglieder von Joy Division die Scherben ein und formten daraus New Order—eine Band, die sich vom Post-Punk emanzipierte und in die damals noch relativ unbekannten Regionen elektronischer Musik vorstieß. Das Resultat waren einige der einflussreichsten Alben aller Zeiten und Hits wie „Bizarre Love Triangel“, „True Faith“, „Blue Monday“ und viele andere.

Während die Band nun ihr 35-jähriges Bestehen mit einem neuen Album, Music Complete (erscheint am 25. September über Mute), feiert, haben wir uns mit Schlagzeuger und Gründungsmitglied Stephen Morris zusammengesetzt, um über den Output der Band, Ians Tod, und außerdem darüber zu sprechen, was es heißt, Schlagzeuger in einer Band zu sein, die so viel mit Drumcomputern arbeitet. Das Ergebnis dieser Unterhaltung könnt ihr an dieser Stelle lesen.

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9. Republic (1993)

Noisey: Welche eurer Veröffentlichungen magst du am wenigsten und warum?
Stephen Morris: Am wenigsten mag ich wahrscheinlich Republic, weil die Arbeit daran einfach furchtbar war. Und eigentlich hätten wir es auch gar nicht machen sollen. Wir haben die Platte nur gemacht, um das Label über Wasser zu halten. Wir waren alle ein kleines bisschen verbraucht und genervt. Wenn man das bedenkt, ist es schon ziemlich großartig, dass wir es geschafft haben, einen Song, der so gut wie „Regret“ ist, für ein Album wie Republic zu schreiben—dass wir das Album überhaupt fertig bekommen haben, ist ein Wunder. Es war schon schwer—sehr, sehr schwer. Wenn ich es mir anhöre, kommen direkt diese ganzen Erinnerungen an diese unschöne Zeit in mir hoch. Das hat wirklich überhaupt keinen Spaß gemacht. Deswegen mag ich das Album auch am wenigsten.

Kommerziell ist es aber euer wahrscheinlich erfolgreichstes Album.
Das musste es auch werden. Auch das war einer der Gründe, warum wir uns so sehr unter Druck dabei fühlten. Also, Steven Hague, der es produziert hat, hat schon tolle Arbeit geleistet. Er hat es tatsächlich geschafft, alles zusammenzufügen. Es klingt auch ziemlich nach New Order. Das Album ist wahrscheinlich OK. Wäre ich nicht selber in der Band, wäre es wahrscheinlich ein okayes Album.

Gut. Von außen betrachtet, war das wohl das Album, das auf alternativen Radiosendern hoch und runter gespielt wurde und euch wahrscheinlich auch eine Menge neuer Fans beschert hat.
In Amerika lief es richtig gut! Das musste es aber auch einfach. Am Ende hat es aber auch nur das Unvermeidbare aufgeschoben. Letztendlich ist es mit Factory, dem Label, doch den Bach heruntergegangen und es war wieder alles furchtbar. Uns hat das aber am Ende gutgetan.

War das einer der Gründe für den ganzen Trubel, das Ende von Factory? Gab es zwischen euch deswegen Probleme?
Nein, es gab zwischen uns eigentlich keinen persönlichen Stress deswegen—es war mehr die Tatsache, dass Factory uns so viel Geld schuldete. Sie versuchten einen Deal mit London Records an Land zu ziehen. Es war auch das Ende des Clubs, der mit Factory ziemlich verstrickt war. Obwohl es so aussah, als würde er ständig Geld machen, machte er nur Verluste. Jede Woche gab es ein Krisentreffen und irgendjemand kam an und sagte: „wir brauchen 400.000 Pfund.“ Man musste mit der Musik aufhören, um Factorys Geldprobleme zu lösen. Das war nicht gerade angenehm.

8. Waiting for a Siren’s Call (2005)

Warum ist Sirens so weit unten auf der Liste?
[lacht] An Sirens ist überhaupt nichts verkehrt. Das sieht hier nur so aus. Nach dem Motto: „nun, es ist auf Platz acht, nur einen über Republic“, aber das Album ist gar nicht schlecht [lacht]. „Waiting for the Siren’s Call“ ist ein guter Song. „Turn“ ist ein guter Song. Es fühlte sich nur etwas komisch an, die Platte ohne Gillian zu schreiben. Ich finde, dass es ein ziemlich gitarrenlastiges Album geworden ist. Jetzt nicht unbedingt so stark wie bei Get Ready, weil Steve Osborne dem Ganzen ein paar Synths verpasst hat, aber auf Sirens finden sich schon mehr Gitarren. Es ist also mehr so eine Gitarren-Bass-Geschichte, aber das ist jetzt auch nicht unbedingt etwas Schlechtes.

7. Get Ready (2001)

Was für Erinnerungen verbindest du mit Get Ready?
Also auf Get Ready gibt es schon einen richtig tollen Song, „Crystal“, der ist wirklich großartig. Es war schon komisch, weil unser Manager Rob Gretton starb, kurz bevor wir Get Ready machten. Seine Abwesenheit kann man auch spüren. Während der Aufnahmen ging ich persönlich auch gerade durch eine schwere Zeit, weil mein Vater gestorben war, und Gillian hatte es auch nicht viel leichter, weil ihre Tochter kurz nach Get Ready krank wurde und sie sich deswegen eine Auszeit von der Band nehmen musste. Aber ich hab’s ja schon gesagt, „Crystal“ ist super, „Turn My Way“, der Song mit Billy Corgan am Gesang … wirklich großartige Songs. Die eigentlich Aufnahmen waren auch gar keine schlechte Erfahrungen, nur in meinem Kopf ging es drunter und drüber.

6. Movement (1981)

Das schwierige erste Album nach Joy Division? Nach dem Tod von Ian …
Ja, das war wirklich schwer. Wir waren noch immer naiv und jung und hatten das Gefühl, irgendetwas beweisen zu müssen, aber wir wussten nicht genau, wie wir das richtig anstellen sollten. Wir steckten in dieser Situation, in der wir wussten, dass wir in einer Band spielen und Musik machen wollten, aber eins unserer Schlüsselelemente war verschwunden. Wir mussten also einen Weg finden, um das zu kompensieren. Ich finde eigentlich gar nicht, dass Movement so schlecht ist, wie die Leute meinen. Ich war in Amerika in einem American Apparel und plötzlich lief ein Track—ich glaube, es war „Denial“ von Movement. Ich habe ihn nicht direkt erkannt und man hört so zu und denkt sich: ‚Das ist ein ziemlich guter Song.’ Gillian war mit mir unterwegs und wir waren beide etwas baff.

Das muss schon ziemlich bizarr sein, an einem öffentlichen Ort zu sein und plötzlich Musik von sich zu hören.
Es ist bizarr, aber manchmal ist es auch gut. Normalerweise würde ich den Song wohl nicht gut finden, wenn jemand ankommen und mir vorschlagen würde, „Denial“ anzumachen. Wenn man aber aus dem Blauen heraus damit konfrontiert wird, dann hört man ganz anders zu. Es ist dann meistens nicht so schlecht, wie man erwartet hätte.

5. Brotherhood (1986)

Hier findet sich mit „Bizarre Love Triangle“ auch einer eurer bekanntesten Songs. Gibt es irgendwelche besonderen Geschichten zu der Entstehung des Albums?
„Bizarre Love Triangle“ ist ein genialer Song, aber er ist einer Art schizophrener Stimmung entstanden, in der wir versucht haben, auf der einen Seite Synthesizer und auf der anderen Seite Gitarren einzusetzen, was vielleicht nicht ganz so gut funktioniert hat. Ich mag es lieber, wenn alles etwas durchmischter ist. Das ist wahrscheinlich auch der Grund dafür, dass ich das Album in der Mitte platziert habe.

4. Technique (1989)

Die Aufnahmesession für Technique war schon etwas ungewöhnlich für euch, oder?
Technique war der teuerste Urlaub, den wir je hatten. Ein Album auf Ibiza aufzunehmen, das war ein Fehler. Das auch noch zu den Anfängen von Acid House zu machen, war ein wahrscheinlich noch viel größerer Fehler. Wir hatten also eine Menge Spaß, beim nicht-aufnehmen [lacht], aber am Ende hatten wir ein Album, in das all diese Erfahrungen irgendwo auch eingeflossen sind. Es ist ein bisschen wie bei Republic, das ich wegen der grauenvollen Zeit während der Aufnahmen am furchtbarsten fand. Technique ist das genaue Gegenteil, weil wir eine großartige Zeit beim Aufnehmen hatten. Man kann schon etwas raushören, dass wir mit unseren Gedanken eigentlich woanders waren. Es ist jetzt nicht gerade mit einer schweren Produktion überladen und es gibt auch nicht wirklich den einen Song, bei dem du sagen kannst, „der Track hier sticht heraus.“ Es ist ein Album, das du entspannt von Anfang bis Ende durchhören kannst. Kein Song ist schlechter als der andere und insgesamt passt da meiner Meinung nach alles ziemlich gut zusammen.

Abgesehen von persönlichen Erfahrungen, findest du, dass sich das in der Arbeit widerspiegelt?
Ja, genau das ist passiert [lacht]. Wir haben Power, Corruption & Lies in der Dunkelheit aufgenommen und Technique in der Sonne—bei Letzterem haben wir nicht viel hinbekommen, aber am Ende waren wir alle gut gebräunt. „But you don’t get a tan like this for nothing“, heißt es in den Lyrics zu „Run“. Es ist ein wirklich einheitliches Album und wahrscheinlich auch dasjenige, das ich jetzt anmachen würde, wenn ich ein New Order-Album auflegen müsste. Low-Life ist aber trotzdem ganz vorne in der Liste, weil mir das Cover von Technique nicht so gut gefällt.

Hast du einen Lieblingssong von dem Album?
Ich mag „Vanishing Point“ … Nein, eigentlich ist mein Lieblingssong auf Technique „Dream Attack“. Ich liebe „Dream Attack“.

3. Substance (1987)

OK, das tanzt hier jetzt schon etwas aus der Reihe, aber ihr habt schließlich auch so viele eigenständige Singles, die außerhalb der Alben gut funktionieren. Warum hast du Substance auf Platz drei gesetzt?
Substance war wahrscheinlich unser größtes Album und dabei auch noch ein Unfall. Das war eine der wenigen guten Sachen, die aus Factorys finanziellen Problemen entstanden sind. Wir hatten diese ganzen 12“ Singles gemacht, wie „Confusion“ und natürlich „Blue Monday“, sie aber nie auf Alben veröffentlicht. Wir hatten also diesen ganzen Kram, der nur als Single verfügbar war und Factory schuldete uns eine Menge Geld, also dachten wir uns: ‚Wir werden das ganze Zeug veröffentlichen. Wir machen ein billiges Album und packen die ganzen Singles da drauf und vielleicht wird es so eine Greatest Hits-Geschichte.’ Wir brauchten nur einen neuen Track dafür zu machen. „True Faith“ ist dann auch mit der Intention entstanden, eine Hitsingle zu schreiben—was wir auch geschafft haben. Es war ein riesiges Album—also wirklich groß. Ich muss aber sagen, dass ich eigentlich kein großer Fan von Compilations bin, und New Order wurde über die Jahre zu Tode kompiliert. Ich finde, wir hätten nach Substance aufhören sollen. Eigentlich war es gar nicht nötig, danach noch ein weiteres Album zu machen. Es hat uns aber eine Menge Türen in Amerika und vielen anderen Orten geöffnet. Ja, es war eine wirklich große Platte.

Es ist definitiv der perfekte Einstieg in eure Musik. Auf Substance kann man eure Bandentwicklung nachvollziehen. Vor allem „True Faith“—die Regie bei dem Video ist grandios und der Beginn so einprägsam: die beiden Typen, die sich gegenseitig ohrfeigen. Gibt es ein bestimmtes Video, das besonders wichtig für dich war?
Nun, „True Faith“ würde ich sagen. Wir haben alle unsere Alben mit dem Produzenten Michael Shamberg gemacht, der leider letztes Jahr gestorben ist. Wir wollten immer tolle Musikvideos machen, aber nicht in ihnen auftreten. „True Faith“ ist ein tolles Video geworden und [lacht] man sieht gerade genug von uns, dass die Leute merken, dass auch eine Band dahinter steckt und nicht nur ein paar Clowns. Und ich glaube, dass Philippe Decouflé, der das Video gemacht hat und eigentlich Tänzer war, eigentlich überhaupt keine Ahnung hatte. Er hatte davor noch nie ein Video gemacht und hatte keine Ahnung, wie man so etwas macht. Und es war großartig. Es war eine bescheuerte Idee. Hätte jemand im Vorhinein gesagt, was er machen will, hätte man das Video wahrscheinlich sofort abgelehnt. Wir wussten noch nicht mal, was er da macht, bis das Video dann fertig war.

2. Power, Corruption & Lies (1983)

Power, Corruption & Lies war also, wie du meintest, das Album mit dem ihr euch als Band post-Joy Division schließlich gefunden habt.
Wir schafften es irgendwie von Joy Division wegzukommen und einen anderen Weg zu finden—andere Musik zu schreiben, die zu unserem Sound wurde. Es war ein komisches Album—ziemlich psychedelisch, wie ich fand. Hat es Spaß gemacht? Schon irgendwie. Ich weiß noch genau, dass wir es im Winter aufgenommen haben, weil es da einfach auch nichts anderes zu tun gab, als im Studio abzuhängen. Es war also die ganze Zeit dunkel, als wir das Album gemacht haben, und vielleicht auch deswegen klingt es für mich immer sehr hell, sehr bunt, was ein großer Kontrast zu Joy Division ist—die waren mehr wie viele verschiedene Grautöne. Für mich ist es ein sehr farbenfrohes Album.

Synthesizer waren bei euch schon vor dem Album schon deutlich vertreten, aber auf Power, Corruption & Lies habt ihr den Sound noch viel weiter vertieft. Gab es da für einen Auslöser?
Nicht wirklich. Von außen sah es vielleicht so aus, als wäre das alles recht plötzlich passiert, aber für uns selbst hat sich das nach und nach so entwickelt. Also wenn ich nach und nach sage, dann muss man bedenken, dass die Zeit ja sehr langsam vergeht, wenn man jung ist. Es hat wahrscheinlich drei Wochen gedauert und das war für uns damals eine lange Zeit. Wir hatten schon eine Menge dieser billigen, analogen Drumcomputer verwendet und als dann die ersten digitalen Geräte auf den Markt kamen konnte man plötzlich eine Menge damit machen. Heutzutage kannst du sehr wenig damit machen, aber damals schienen sie das Beste vom Besten zu sein. Wir haben außerdem einen richtigen Sampler auf dem Album verwendet. Wir hatten uns also diese ganze Technik zugelegt und auf Power, Corruption & Lies hört man, wie wir lernen, damit umzugehen. Auf Low-Life wussten wir dann, wie sie funktioniert.

War es als Schlagzeuger nicht komisch, Drumcomputer zu benutzen?
Du hast den Nagel auf den Kopf getroffen. Du benutzt einen Drumcomputer—der Drumcomputer benutzt nicht dich.

[lacht] Er macht dich vielleicht sogar arbeitslos.
Ja, wenn es andersrum läuft, bist du deinen Job los. Man konnte schon sehen, was passiert, als die Drumcomputer auftauchten. Ich dachte mir nur: ‚OK, ich bin ein Schlagzeuger, ich hole mir einen Drumcomputer. Wir werden uns irgendwo auf halber Strecke treffen. Ich werde ein paar Teile machen und den Drumcomputer ein paar andere Teile machen lassen.’ Und das tat mir gut. Ich erinnere mich noch, dass in den frühen 80ern eine Paranoia ausbrach, dass der Linndrum alle Drummer vor die Tür setzten würde. Das ist aber nie wirklich passiert. Ein guter Drummer kann ein durchschnittliches Album um einiges besser klingen lassen, als ein fantastischer Song mit einem schlechten Drummer. Wenn du einen guten Groove hinter etwas packst, wird es toll klingen—egal, was kommt.

Ein guter Drummer kann eine durchschnittliche Band zu einer guten Band machen.
Besser hätte ich es nicht sagen können.

1. Low-Life (1985)

Das ist also dein Lieblingsalbum. Warum?
Low-Life mag ich am liebsten, weil es ein so großartiges Cover hat. Es ist das perfekte Sleeve. Sumner war nie besser als bei diesem Cover. Außerdem sind auch noch ein paar gute Songs darauf. Die Sache mit Low-Life war außerdem, dass wir hier alles perfektionierten, was wir auf den vorherigen Alben begonnen hatten. Das, was wir auf Power, Corruption & Lies angefangen hatten—es war die veredelte Version davon.

Das Cover ist also ziemlich wichtig für dich. Hast du auch einen Lieblingssong auf dem Album?
Mein Lieblingssong, abgesehen von „The Perfect Kiss“, das meiner Meinung nach nicht auf dem Album hätte sein sollen, ist wahrscheinlich „Love Vigilantes“. Es war schon ziemlich ungewöhnlich für uns, so ein Lied zu machen—quasi ein Country-Song. Ich weiß außerdem, dass ich damals „Face Up“ wirklich geliebt habe. Ich fand den Song einfach unglaublich. Wir hatten dazu noch langsam den Dreh raus, wie man Platten produziert. Wir hatten gelernt, was man im Studio alles machen kann und fühlten uns dementsprechend sicher beim Editieren und Rumspielen. Alles, was wir gelernt hatten, begann schon mit Martin Hannett bei Joy Division, ging dann bei Movement weiter, auf Power, Corruption & Lies kam die ganze Technik dazu und auf Low-Life floss dann alles zusammen.

Letzte Frage: Wenn du den New Order Song aussuchen müsstest, welcher wäre das?
Ein Song, der mir von New Order immer gefallen hat, ist „All Day Long“ von Brotherhood. Ich mag ihn einfach wirklich gerne und wir spielen ihn so gut wie nie live. Wir sollten das aber vielleicht in Erwägung ziehen, wenn wir in Zukunft ein paar Auftritte spielen. Ich finde den Song wunderbar. Er hat keine Drums, aber ich mag ihn einfach als Song.

Fred ist bei Twitter. Folgt ihm—@fredpessaro

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