Süßes oder Zyankali: Die Geschichte des berüchtigten Halloween-Killers

31.10.1974, Deer Park, Texas. Eigentlich ein typischer US-amerikanischer Halloween-Abend, viele junge Menschen ziehen verkleidet von Haus zu Haus, um Süßigkeiten einzusammeln. Unter ihnen auch der achtjährige Timothy und die fünfjährige Elizabeth, die zusammen mit ihrem Vater Ronald O’Bryan “Trick or Treat” spielen. Als sie an einem dunklen Haus ankommen, nimmt der Abend jedoch eine schreckliche Wendung.

Obwohl niemand zu Hause zu sein scheint, klopfen die Kinder an der Tür. Die Aussicht auf Süßes ist zu verlockend. Es rührt sich nichts. Ungeduldig rennen Timothy und Elizabeth weiter, während ihr Vater zurückbleibt. Als er wieder bei seinen Kindern ist, hat O’Bryan gute Neuigkeiten: Es ist doch jemand in dem dunklen Haus. So kann der Optiker mit einer Handvoll saurer Brausepulver-Stangen aufwarten, die er direkt an seinen Sohn, seine Tochter und die zwei Nachbarskinder verteilt. Auf dem Heimweg trifft die Gruppe noch auf einen Zehnjährigen, den O’Bryan vom Gottesdienst kennt und dem er ebenfalls eine Brausepulver-Stange in die Hand drückt.

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Vor dem Zubettgehen darf Timothy eine Süßigkeit vom abendlichen Beutezug naschen. Er entscheidet sich für das Brausepulver, das zuerst noch in der Stange hängenbleibt, doch mit Hilfe seines Vaters aber doch noch im Mund des Jungen landet. Er beschwert sich über den bitteren Geschmack, woraufhin sein Vater ihm ein Glas Limonade bringt. Nicht mal eine Stunde später ist Timothy tot.


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“Es war purer Zufall, dass ich an diesem Abend arbeitete”, erzählt Mike Hinton, der ehemalige Staatsanwalt von Harris County, heute. “Ich bekam einen Anruf von der Polizei. Ein achtjähriger Junge wäre gestorben. Zwar hätte man ihn noch ins Krankenhaus gebracht, aber es wäre schon zu spät gewesen.”

Weil Hinton direkt mit den Ermittlungen anfangen will, ruft der Staatsanwalt bei Joseph A. Jachimczyk an, dem vorstehenden Gerichtsmediziner von Harris County und fragt ihn, wie der Mund des Jungen riecht. Ein Mitarbeiter der Leichenhalle spricht von einem Mandelgeruch. “Typisch für Zyankali”, schlussfolgert Jachimczyk.

Die Autopsie bestätigt die Vermutung des Gerichtsmediziners: Der zuständige Pathologe erklärt, dass die Zyankali-Menge, die Timothy geschluckt hat, für mindestens zwei Erwachsene gereicht hätte. Spätere Untersuchungen zeigen, dass der obere Teil der Brausepulver-Stangen mit dem Gift gefüllt war.

Der Gerichtsmediziner Joseph A. Jachimczyk im Fernsehinterview

Zum Glück schaffen es die Polizisten, den Rest der Brausepulvers noch rechtzeitig sicherzustellen. Dabei fällt ihnen auf, dass die verantwortliche Person die Stangen mit einem Tacker wieder verschlossen hat, nachdem sie das Zyankali hineingefüllt hatte.

“Dieser Umstand rettete einem anderen Jungen das Leben”, erinnert sich Hinton. “Er wollte die Süßigkeit nämlich schon essen, schaffte es jedoch nicht, die Heftklammer zu lösen.”

Die Beamten bringen Timothys Vater zurück in die Gegend, wo er mit seinen Kindern Süßigkeiten gesammelt hat. O’Bryan soll sie zu dem Haus führen, bei dem er das Brausepulver erhalten hat. Der Optiker wirkt jedoch ratlos und kann das Haus nicht mehr finden. Außerdem gibt er an, das Gesicht der Person nie gesehen zu haben. Die Stangen seien ihm einfach aus dem Türspalt herausgereicht worden. Die Ermittler werden stutzig.

“Im Laufe der darauffolgenden Tage wuchs der Frust wegen ausbleibender Ergebnisse”, erzählt Hinton. “Deswegen versuchten es die Beamten noch mal mit O’Bryan und nahmen ihn sich etwas härter zur Brust.”

Die Taktik geht auf: Timothys Vater erinnert sich wieder und zeigt auf das gesuchte Haus.

Der Mann, der darin lebt, ist nicht zu Hause. Also fahren die Beamten zu seiner Arbeit und verhaften ihn an Ort und Stelle. Eigentlich wäre der Fall nun abgeschlossen, aber wie sich herausstellt, hat der Verdächtige ein Alibi.

“Er hatte den ganzen Halloween-Abend lang gearbeitet. Seine Kollegen und die Stundenzettel bestätigten das”, sagt Hinton. “Seine Frau und Tochter waren zwar zu Hause gewesen, hatten wegen des leeren Süßigkeitenvorrats jedoch das Licht ausgemacht.”

All das verhärtet den Verdacht des Staatsanwalts. Außerdem kommt ihm zu Ohren, dass O’Bryan sauer war, weil dessen Verwandten am Abend nach Timothys Beerdigung nicht aufbleiben wollten, um sich ein Lied im Fernsehen anzuhören, das der Vater über Jesus und Timothy im Himmel geschrieben hatte.

Kurz darauf findet die Polizei heraus, dass O’Bryan vor der Tragödie Lebensversicherungen für seinen Sohn und seine Tochter abgeschlossen hat – 10.000 Dollar pro Kind im Januar 1974 und einen Monat vor Halloween weitere 20.000 Dollar pro Kind. Die Ermittler wissen bereits, dass O’Bryan über 100.000 Dollar Schulden hat. Als sie dann feststellen, dass er sich direkt am Morgen nach Timothys Tod nach der Auszahlung erkundigt, setzen sich die Puzzlestücke langsam aber sicher zusammen.

O’Bryans Verbrecherfoto | Hintergrundbild: lobo235 | Flickr | CC BY 2.0

Bei der Durchsuchung von O’Bryans Zuhause findet man eine Schere mit den gleichen Kunststoffresten, die auch an den vergifteten Brausepulver-Stangen festgestellt worden waren. Daraufhin klicken die Handschellen und die Beamten bringen den Familienvater aufs Revier.

Im weiteren Verlauf der Ermittlungen häufen sich die belastenden Hinweise gegen O’Bryan.

“Er ging damals auf ein Community College und fragte einen seiner Dozenten zum Beispiel, wie tödlich Zyankali im Vergleich zu anderen Giften sei”, erzählt Hinton. “Warum sollte man so etwas wissen wollen?”

Ein Mitarbeiter eines Chemikalienunternehmens erinnert sich daran, dass jemand bei ihm Zyankali besorgen wollte, wegen der Mindestkaufmenge von über zwei Kilogramm jedoch wieder ging.

“Der Mitarbeiter konnte O’Bryan zwar nicht identifizieren, wusste aber noch, dass der Kunde einen beigen oder blauen Kittel trug”, sagt Hinton. “Also genau so einen Kittel, wie O’Bryan als Optiker bei seiner Arbeit anhatte.”

Weil es aber noch keine DNA-Tests gibt, können die Beamten nicht zweifelsfrei beweisen, dass O’Bryan Zyankali gekauft und das Brausepulver vergiftet hat. Der Familienvater weiter pocht auf seine Unschuld – und genießt laut Hinton die Aufmerksamkeit.

“Ich glaube, selbst während der Gerichtsverhandlung liebte er es, im Rampenlicht zu stehen”, erzählt der Staatsanwalt.

O’Bryan plädiert also auf nicht schuldig und sein Anwalt macht einen bösen Unbekannten für die schreckliche Tat verantwortlich. Aber Freunde, Verwandte und Kollegen sagen alle gegen den Angeklagten aus, den die Presse inzwischen als “Candy Man” bezeichnet. Am 3. Juni 1975 brauchen die Geschworenen schließlich nur 46 Minuten, um eine Entscheidung zu treffen: Ronald O’Bryan wird des Mordes und des versuchten Mordes in vier Fällen schuldig gesprochen und zum Tode verurteilt.

O’Bryan wird nach dem Schuldspruch aus dem Gerichtssaal gebracht | Foto: AP Photo | Houston Chronicle, Othell O. Owensby Jr.

Knapp zehn Jahre nach dem Schuldspruch sind O’Bryans Einspruchsmöglichkeiten erschöpft, das Urteil bleibt bestehen. So wird der Familienvater am 31. März 1984 per Giftspritze hingerichtet. Vor dem Gefängnis versammeln sich an diesem Tag um die 300 Leute, um zu erfahren, ob der Halloween-Killer endlich tot ist. Dabei rufen sie “Trick or Treat!” und werfen Süßigkeiten auf andere Anwesende, die gegen die Todesstrafe demonstrieren.

Schon vor dem Giftmord hat es um Halloween herum immer wieder Gerüchte von gefährlich präparierten Süßigkeiten gegeben. Aber egal ob man nun Angst vor Rasierklingen in Äpfeln oder Ecstasy-Pillen hat, es gibt eigentlich keine Anzeichen dafür, dass sich Eltern irgendwelche Sorgen machen müssen. Timothy O’Bryan ist bis heute das einzige Kind, das nach dem Naschen von Halloween-Süßigkeiten tatsächlich gestorben ist.

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