„Syrischer Pass bei Attentäter gefunden”. Derartige Schlagzeilen machten bereits wenige Stunden nach den Terroranschlägen von Paris die Runde. Vorschnelle Schlüsse über die Identität des Selbstmordattentäters am Stade de France, bei dem der besagte Pass gefunden wurde, sollten wir deshalb aber noch lange nicht ziehen.
Zwar hatten griechische Behörden noch am Samstag bestätigt, dass der Pass am 3. Oktober bei einer Einreise im Flüchtlings-Hotspot Leros genutzt worden war, und mittlerweile wissen wir außerdem, dass die Fingerabdrücke, die die griechischen Behörden gemacht hatten, mit denen des Attentäters am Stade de France übereinstimmen—weiterhin unklar bleibt jedoch, ob der Mann mit seinem eigenen oder dem möglicherweise gefaketem Pass eingereist war. Die französische Justizministerin Christiane Taubira nannte den Pass selbst gestern eine Fälschung.
Videos by VICE
Eine serbische Zeitung hat inzwischen ein Bild des Ausweises, der auf den Namen Ahmed Almohamed ausgestellt war, veröffentlicht. Der Pass sei wenige Tage nach der griechischen Grenze auch an der serbischen Grenze registriert worden. Damit hätte der Passträger tatsächlich eine der typischen Flüchtlingswege über die Balkanroute Richtung Westeuropa genommen.
Syrische Pässe sind einfach über Facebook und WhatsApp bestellbar—kaum ein Ausweis ist momentan so wenig aussagekräftig.
In der Tat ist kaum ein Ausweisdokument momentan so wenig aussagekräftig wie ein syrischer Pass. Motherboard hat schon früher über den florierenden Handel mit gefälschten syrischen Pässen berichtet. Wie unsere Recherche ergab, bieten Schlepper auf Facebook flüchtenden Menschen tatsächlich Komplettpakete an, zu denen auch ein syrischer Pass—ob als Scan oder mit Lichtbild—gehören kann.
Ein niederländischer Journalist zeigte außerdem vor einigen Wochen eindrucksvoll, dass man sogar schon mit ein paar Nachrichten über Whatsapp und der Zahlung von 750 Euro einen syrischen Pass sein Eigen nennen kann. Um zu demonstrieren, wie willkürlich hierbei Identitäten erschaffen werden, ließ er sich einen Ausweis auf den Namen und mit dem Foto des niederländischen Präsidenten produzieren.
Motherboard-Recherche: So floriert der Darknet-Handel mit gefälschten Identitäten
Was den Pariser Selbstmordattentäter angeht, sollte uns zunächst folgende Frage stutzig machen: Wie kommt es, dass der Täter überhaupt einen Pass dabei hatte? Eine mögliche Erklärung könnte in der zynischen Taktik der IS-Terroristen liegen, das Misstrauen gegenüber den aktuell ankommenden Flüchtlingen seitens der Europäer zu verstärken, indem man die Terrorakte in Verbindung mit den Flüchtlingen bringt. Dies würde die ablehnende Haltung gegenüber Flüchtlingen innerhalb der europäischen Bevölkerung selbstverständlich verstärken, was wiederum die IS-Propaganda des feindlichen, intoleranten Westens anheizen würde.
Ein ägyptischer Pass wurde schon fälschlich einem Terroristen zugerechnet. Tatsächlich gehört er einem der Opfer der Anschläge.
Warum der Attentäter vom Stade de France einen gefaketen syrischen Pass dabei hatte, werden allerdings erst die aktuell anlaufenden Ermittlungen näher beleuchten können—möglicherweise werden die Motive des Attentäters hier aber auch immer im Dunkeln bleiben. Klar ist, dass sowohl Medien als auch Leser vorsichtig mit vorschnellen Schlussfolgerungen sein sollten.
Am Sonntag berichteten Medien außerdem von einem ägyptischen Pass, der bei einem weiteren Terroristen gefunden wurde. Wenige Stunden später jedoch gab der ägyptische Botschafter bekannt, dass der Pass nicht einem der Täter zuzurechnen sei, sondern einem der verstorbenen Opfer des verheerenden Anschlags gehörte.
Nicht alle gefälschten syrischen Pässe, die derzeit im Umlauf sind, sind übrigens tatsächlich falsche Pässe. Manche Flüchtlinge, die ihre Papiere in den Kriegswirren verloren haben oder aus Gebieten kommen, in denen es schon lange keine funktionierende Verwaltung mehr gibt—was sie quasi staatenlos macht—müssen sich auf eigene Faust ein Dokument besorgen, das ihre Identität ausweist. Manchen bleibt so tatsächlich nichts übrig als sich Ausweis mit ihrem tatsächlichem Namen in Fälscherwerkstätten in Auftrag geben zu lassen, um aus ihrer vom Krieg zerstörten Heimat zu fliehen.
Nicht wenige der Flüchtlinge, die dann die Einreise nach Griechenland geschafft haben, werden dort bedrängt oder gar genötigt, ihre eigenen Pässe zu verkaufen bzw. weiterzugeben. Mitunter werden Pässe natürlich auch einfach gestohlen. Wer Ahmed Almohamed nun also tatsächlich ist bzw. ob es ihn überhaupt gibt, werden hoffentlich die weiteren Recherchen der Ermittler enthüllen. Motherboard wird an dieser Stelle weiter über die aktuellen Entwicklungen berichten.
Unterdessen haben zahlreiche Politiker und Experten appelliert, die aktuelle Flüchtlingskrise nicht mit den Terroranschlägen von Paris in einen Topf zu werfen. Die westliche Politik und die Medien sollten den Terroristen nicht genau jene Art von pauschaler und intoleranter Reaktion liefern, die sie möglicherweise provozieren wollten.
Update 16.11., 14:20: Die französische Justizministerin Christiane Taubira hat den Pass gestern als Fälschung bezeichnet. Diese Aussage haben wir im Text aufgenommen.