Auf den ersten Blick wirken ihre Tätowierungen wie typische Gefängnis-Tattoos. Tatsächlich aber gewähren die Symbole unter der Haut der “Number”-Mitglieder tiefe Einblicke in das Innenleben der berüchtigten südafrikanischen Knast-Gang.
Gegründet wurde The Number laut Erzählungen Ende des 19. Jahrhunderts. Damit gehört sie zu den ältesten Gefängnis-Gangs der Welt. Der südafrikanische Fotograf Luke Daniel freundete sich mit einem hochrangigen Insider an und bekam so die Gelegenheit, Number-Mitglieder und deren Tattoos abzulichten. Daniel dokumentierte die südafrikanische Subkultur zwei Jahre lang. Die Gang hatte zuvor noch niemanden so nah an sich herangelassen. Uns hat der Fotograf erzählt, wie er sich das Vertrauen der Gang erarbeitet hat, was er während der zwei Jahre gelernt hat und was die verschiedenen Tattoo-Motive der Mitglieder bedeuten.
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VICE: Wie hast du die Number-Mitglieder davon überzeugen können, dich in ihren Gang-Alltag blicken zu lassen?
Luke Daniel: Schon als kleiner Junge habe ich mich für Tattoos interessiert. Später verbrachte ich viel Zeit in einigen zwielichtigen Tattoo-Studios in den düsteren Gegenden Kapstadts. Für mich hatte das Tätowieren also immer etwas Kriminelles an sich. Irgendwann faszinierten mich vor allem die schlichten Gefängnis-Tattoos und das Handwerk dahinter.
Ich hing viel mit einem hochrangigen Number-Mitglied ab, das über 20 Jahre lang hinter Gittern gesessen hatte. Wir wurden gute Freunde. Nach seiner Haft wollte er wieder Fuß fassen. Seine Tattoos machten es ihm jedoch unglaublich schwer, einen Job zu finden und sich wieder in die Gesellschaft zu integrieren. Deswegen stellte ich ihn als eine Art Talentscout an, um für mein Projekt weitere Number-Mitglieder in ähnlichen Situationen zu finden.
Jede Person, die ich fotografiert habe, war oder ist immer noch in einer Gang aktiv – egal ob nun im Gefängnis als Number-Mitglied oder draußen als Teil irgendeiner berüchtigten Straßen-Gang. Gegen Ende meines Projekts bekam ich sogar Anrufe von Gangstern, die mit ihren Tattoos unbedingt fotografiert werden wollten.
Reden wir über die Number-Gang. Wo hatte die Organisation ihre Anfänge und wie muss man sich das Ganze vorstellen?
Ich darf nicht zu viel über die Number-Gang verraten. Die vielen Geschichten und Mythen rund um The Number sind total faszinierend. Als Mitglied schwört man aber, nichts über die Gang zu verraten.
Die Anfänge von The Number reichen zurück in die Zeit, als sich viele junge Schwarze gezwungen sahen, die Dörfer auf dem Land zu verlassen und in den Minen von Südafrika und der Maputo-Bucht in Mosambik Arbeit zu suchen. Die Gang entstand, um Minenarbeiter vor Polizeigewalt zu schützen.
Welche Rolle spielt The Number in Kapstadt?
Ursprünglich war es so: The Number hatte in den Gefängnissen das Sagen, draußen herrschten die normalen Straßen-Gangs. Das änderte sich Ende der 80er Jahre, als die Drogendealer aus den Cape Flats durch den Verkauf von Quaaludes richtig viel Geld machten.
Wurden die Anführer der Straßen-Gangs irgendwann verhaftet, konnten sie sich in The Number einkaufen und dank ihres Geldes die grausamen Einführungsrituale überspringen. Durch diese Verbindung zu den Straßen-Gangs fasste The Number schließlich auch in der freien Welt Fuß. Die alten Machtverhältnisse waren dahin. Die Drogenbosse gaben den Number-Mitgliedern nach der Freilassung Arbeit. Das führte zu einer regelrechten Explosion der Gewalt in den Cape Flats.
Kannst du uns etwas mehr über die Leute erzählen, die du fotografiert hast?
Die meisten von ihnen sind nicht von Grund auf böse. Sie sind in bitterer Armut aufgewachsen, haben schlimme Gewalt erfahren und wurden regelrecht traumatisiert. Dann wurden sie wegen verschiedener Gewaltverbrechen verhaftet und verurteilt. Aber auch im Gefängnis hörte der Teufelskreis nicht auf und sie griffen andere Gefangene oder Aufseher an. Manche von ihnen mussten ursprünglich nur wenige Jahre ins Gefängnis, aber wegen ihres Engagements in der Number-Gang saßen sie letztendlich 30 Jahre hinter Gittern.
Ein Typ, der sich selbst “Mandown” nennt, klaute 1978 ein Laib Brot und landete in einer Zelle mit mehreren hochrangigen Number-Mitgliedern. So wurde er Teil der Gang, beging während seiner Haft weitere Verbrechen und kam deswegen erst im Jahr 2003 wieder frei.
In jeder Geschichte, die mir während des Projekts erzählt wurde, geht es um Leid, Gewalt und plötzlich entstehenden Wahnsinn.
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Wie stechen die Number-Mitglieder hinter Gittern ihre Tattoos?
Eine angespitzte Gitarrensaite dient normalerweise als Nadel. Aus Wasser und verbranntem Gummi wird eine Art Paste gemischt und unter die Haut gestochen. Bis vor Kurzem wurden alle Gefängnis-Tattoos noch ohne jegliche Maschinen gestochen.
Was hat es mit den verschiedenen Symbolen, Bildern und Wörtern auf sich, die als Tattoos gestochen werden?
Die haben mit der Struktur der Gang zu tun. Sie besteht aus drei Untergruppen. Die 26er sorgen im Gefängnis fürs Geld. Dafür bringen sie Bargeld oder Drogen, Tabak und so weiter in den Knast. Sie sind wahre Meisterschmuggler und -manipulatoren. Man sagt, dass sie bei Sonnenaufgang loslegen – deswegen nutzen sie den Begriff Sonop [Afrikaans für “Sonnenaufgang”] auch als Gruß und als Tattoo-Motiv. Pumalanga, das Zulu-Wort für Sonnenaufgang, geht aber auch.
Die Aufgabe der 27er ist es, die Number-Regeln durchzusetzen. Deshalb sind sie auch die gefürchtetsten und engagiertesten Gang-Mitglieder. Zu ihren Tattoo-Motiven zählen Waffen, gekreuzte Buschmesser und Sätze, die sich auf die Herrschaft des Gesetzes innerhalb der Gang beziehen.
Die 28er stehen für die Rechte der Gefangenen ein – normalerweise mit Gewalt. Sie gehen zum Beispiel gegen die Aufseher vor, wenn der Number-Gang nicht genügend Respekt entgegengebracht wird. Außerdem unterdrücken sie ihre Untergebenen und Gefangene, die nicht zur Gang gehören, mit sexueller Gewalt. Deswegen enthalten die Tattoo-Motive der 28er oft explizite Sexszenen oder Penisse. Im Gegensatz zu den 26ern sind sie vor allem nachts aktiv, weshalb man unter ihrer Haut häufig die Wörter Sonsak oder Shonalanga findet [Afrikaans und Zulu für “Sonnenuntergang”].
Und woher kommen die Comic-Motive?
Die haben mich auch überrascht. Viele knallharte Verbrecher lassen sich fröhliche Comic-Motive stechen. Das liegt wohl daran, dass im Gefängnis oft nur kleine Comic-Strips aus Zeitungen verfügbar sind, die dann als Basis für die Tattoo-Vorlagen dienen.
Eine andere Sache hat mich ebenfalls fasziniert. Häufig bestehen die Gefängnis-Tattoos der Number-Gang quasi nur aus Text. Manche Typen haben fast schon ganze Aufsätze auf ihren Rücken stehen. Sie wollen damit vom harten Leben, von ihrer Gang und von ihrer bewussten Abgrenzung von der Gesellschaft erzählen.
Sind dir bestimmte Tattoos besonders im Gedächtnis geblieben?
Die Penis-Tätowierungen der 28er sind schon sehr außergewöhnlich. Und dass Cartoon-Charaktere direkt neben Vergewaltigungs- und Mordszenen abgebildet sind, ist widerlich und faszinierend zugleich.
In den südafrikanischen Gefängnissen läuft es wie in den meisten Haftanstalten dieser Welt: Die Häftlingen lassen sich tätowieren, um bedrohlicher zu wirken und um noch weiter gegen die gesellschaftlichen Normen zu rebellieren. Häufig machen sie deswegen auch vor obszönen Wörtern in ihren Gesichtern nicht Halt. Solche Gesichts-Tattoos bringen ihnen hinter Gittern zwar Respekt ein, aber die Gefangenen versauen sich dadurch die Chance, sich nach ihrer Freilassung wieder in die Gesellschaft einzugliedern. Kein Arbeitgeber wird dich einstellen, wenn auf deiner Stirn “Fuck you” steht.
Die meisten Leute, die ich fotografiert habe, sind stolz auf ihre Tattoos – obwohl sie sie immer wieder an den Schmerz und das Trauma ihrer dunklen Vergangenheit erinnern. Sie sehen die Tätowierungen als Kriegsnarben an.
Du hast das Projekt inzwischen abgeschlossen. Was hast du durch deine Arbeit gelernt?
Anfangs wollte ich die Gefängnis-Tattoos wegen ihrer einzigartigen südafrikanischen Ästhetik dokumentieren. Im Laufe des Projekts verschob sich der Fokus allerdings auf das eigentliche Tätowieren im Gefängnis, auf die Bedeutung der Motive, auf die Isolation und auf die Diskriminierung gegen die Häftlinge. Mir wurde klar, wie schwer sie es nach ihrer Freilassung haben.
Diese Tattoos sind Symbole der Ausgestoßenen. Dazu kommt noch der Mythos rund um die Number-Gang, die jetzt schon seit über einem Jahrhundert in den Gefängnissen Südafrikas das Sagen hat. Zusammen ergibt das eine Erzählung, die ehrlicher und gefährlicher nicht sein könnte.