The Wolves of Hollywood

Bild von Courtney Nicholas

Wie The Wolf of Wall Street entstanden ist, stelle ich mir im Großen und Ganzen so vor:

Martin Scorsese und Leo wollten mal wieder zusammenarbeiten. Sie haben eine große gemeinsame Erfolgsgeschichte, die bis zu Gangs of New York zurückreicht. Von der Zusammenarbeit haben beide profitiert, auch wenn sie aus unterschiedlichen Richtungen kamen: Obwohl beide gleichermaßen talentiert waren und sind, wurde Scorsese, ein Altmeister des Kriminalfilms und zugleich Gelehrter der Filmgeschichte, von der Kritik übersehen. Leo hingegen war damals der Liebling aller Kritiker, doch sein Erfolg war so überwältigend, dass er seine Identität überschattete. Die erste Zusammenarbeit erlaubt es Scorsese, ein Projekt umzusetzen, von dem er seit Jahrzehnten träumte, und Leo konnte endlich mit seinem persönlichen Regiehelden zusammenarbeiten. Auch wenn Gangs of New York nicht der beste ihrer gemeinsamen Ausflüge war, brachte er sie zumindest zusammen. Ihre Filme wurden immer besser und gipfelten 2006 in dem längst überfälligen Triumph Departed – Unter Feinden. Bei der Arbeit an The Wolf müssen sie schon so aufeinander abgestimmt gewesen sein wie die ATL Twins.

Auch wenn Gangs of New York, wie gesagt, nicht ihr bester Film war, folgte ein paar Jahre später Departed, mit dem das Duo mehrere Academy Awards gewann, unter anderem den für die beste Regie. (Nebenbemerkung: Lag es an seinem 44-Magnum-Muschi-Cameo in Taxi Driver, dass Scorsese erst im Alter von 64 Jahren den Oscar bekam?) Ich bin davon überzeugt, dass sie nach dieser langerwarteten Wiedergutmachung auf ihre Kosten gekommen sind. Sie hatten ein Superheldenbudget, denn sie sind Leo und Marty, ihre Filme bringen Geld ein und werden von der Kritik gefeiert. Wenn du durch Aktien, Öl, Computer oder wie auch immer Geld wie Heu hättest, warum würdest du nicht ein bisschen mitspielen wollen? Die beiden haben Kohle und können verdammt noch mal machen, was sie wollen, denn Geld macht unabhängig und sie sind verdammt noch mal Leo und Marty. Wer würde es wagen, ihnen irgendetwas zu verbieten? Diese Combo scheißt haufenweise Golden Globes aus und die Leute strömen ebenso in ihre düsteren, testosteronbeladenen Dramen wie zu Typen in Strumpfhosen mit einem großen S oder einer Fledermaus auf der Brust. Wenn sie zeigen wollen, wie Leo Koks aus dem Arsch eines gesichtslosen Mädchens schnieft, dann ist das eben so. Wenn sie eine zehnminütige Quaalude-Sequenz wollen (der beste Teil des Filmes, unglaublich komisch)—bitte. Und wenn sie wollen, dass die Mistkerle in den Hauptrollen größtenteils ungestraft davonkommen: Scheiß drauf, so ist das Leben.
Auf der Grundlage des Buches, das von Jordan Belfort, dem Wolf höchstpersönlich, geschrieben wurde, wollten Leo und Marty (man sollte sich dessen bewusst sein, dass sie diesmal beide als Produzenten genannt werden) die Wall Street und die Kultur der Habgier kritisieren. Der unkontrollierte Kapitalismus sollte ordentlich in den Arsch gefickt werden. Wie zuvor Spring Breakers sollte der Film die grotesken Züge eines falsch verstandenen und missbrauchten American Dream zeigen. Wie die Leute, die an Spring Breakers beteiligt waren, wollten auch sie verdammt viel Spaß dabei haben. Mit „sie“ meine ich die Schauspieler, die Filmemacher und die Crew.

Ich kann mir genau vorstellen, wie die Unterhaltungen und Meetings der Vorproduktion abliefen. Weil beide politisch links eingestellt sind, haben sie sich gesagt: „Lass uns zeigen, wie übel es in der Welt der 1% zugehen kann—mit einer vernichtenden Darstellung eines Haufen Mistkerle, die der hart arbeitenden Bevölkerung verantwortungslos und kaltherzig ihr Geld wegnehmen. Dann zeigen wir, wofür sie das Geld verprassen: für Drogen und Frauen und durchs Spielen. In diesem Film sind die Schurken unsere Helden, genau wie im echten Leben. Gewinner gibt es nicht, aber Tyrannen … Willst du wirklich ein Tyrann sein? OK, das ist es, aber wir müssen unbedingt weit gehen—zu weit. Wir zeigen jede abscheuliche Einzelheit, die diese Typen getan haben.”

Aufgrund der Entscheidungen, die sie bei ihren Überlegungen trafen, ist letztlich eine sehr moderne Geschichte entstanden. Eine Geschichte mit Charakteren, die wir irgendwie mögen und zugleich verachten. Wie im wahren Leben. Wir lieben die Charaktere, weil sie von Leo und Jonah Hill gespielt werden, die in Höchstform sind. Trotz ihrer Verwicklung in zahlreiche Vergehen scheint man sehr viel Spaß mit ihnen haben zu können—so wie zuvor mit DeNiro und Pesci in Wie ein wilder Stier, Good Fellas und Casino. In all diesen Filmen erleben wir das Yin und Yang der erfolgreichsten Scorsese-Universen—wobei es sich in diesem Fall eher um eine Kombination von Yang und Yang handelt, bei denen die Jungs nur leichte, aber dennoch deutlich erkennbare Variationen einer einzigen Spezies von Arschlöchern repräsentieren.

Es gibt weitere Gründe dafür, dass wir die Charaktere mögen. Die Zuschauer können sich mit dieser großen Fantasie identifizieren, der man scheinbar nichts anhaben kann, denn am Ende gewinnen die Charaktere ja, obwohl sie gegen alle Regeln verstoßen haben. Die Zuschauer mögen Gewinner, auch und gerade, wenn es sich bei ihnen um schlechte Menschen handelt—es lässt sie gewissermaßen ihre eigenen Verhaltensweisen sühnen, ohne dass sie sie jemandem beichten müssen. Dies ist einer der Grundzüge der amerikanischen Kultur. Das meint auch Werner Herzog, wenn er Los Angeles als Inbegriff einer „amerikanischen“ Stadt beschreibt, die von der europäischen Kultur oder Ästhetik unbeeinflusst geblieben ist.  Schau dir einfach The Jew of Malta, American Psycho, Der Pate, Scarface, Die Abendröte im Westen, Wie ein wilder Stier, Taxi Driver oder Good Fellas an. Diese Filme erzeugen eine ähnliche Spannung, die meist lange aufgebaut wird und sich in wenigen, dicht bepackten Szenen entlädt. So sehr wir die Charaktere in diesen Filmen auch bewundern, ihr Hintergrund ist unserem eigenen letztlich zu ähnlich. Scorsese konzentriert sich auf Schurken aus dem wahren Leben. Schurken aus dem wahren Leben haben Familien, treten in Hundescheiße, essen Pasta und tun all die anderen Dinge, die du auch tust.

Wenn in einem Film kapitalistische Habgier aus der Perspektive der Mafia kritisiert wird (Der Pate, Good Fellas), ist es einfacher, den Charakteren zu folgen. Sie haben nichts mit unserer Wirklichkeit zu tun oder befinden sich zumindest an ihren äußersten Rändern. Im Fall von Wolf of Wall Street sind die Schurken jedoch diejenigen, die dabei behilflich waren, uns in die Weltwirtschaftskrise zu stürzen, die so ziemlich jeden in irgendeiner Weise betroffen hat.

Kommen wir noch einmal zu den Fragen, die Marty und Leo in der Vorproduktion beantworten mussten. Die wichtigste Frage war die nach dem Ausgang: „Sollen wir den Wolf für all das gestohlene Geld bestrafen? Und dafür, wie sündhaft er es verprasst hat? Oder sollen wir ihn einfach davonkommen lassen, so wie es in Wirklichkeit geschehen ist, um unsere Kritik auf ein System auszuweiten, das es erlaubt, ein Arschloch wie ihn vorzeitig aus dem Gefängnis zu entlassen, obwohl er so viel Schaden angerichtet hat?”

Sie haben sich für die zweite Variante entschieden. Am Ende des Films werden wir mit einem seltsamen Gefühl allein gelassen, das sicherlich beabsichtigt war. Wenn wir den Kontext betrachten, verstehen wir zwar die Ironie von Scorsese und DiCaprio. Trotzdem bleibt der bittere Nachgeschmack, dass wir irgendwie betrogen worden sind—vor allem, weil die Protagonisten keine gerechte Strafe bekommen haben. Damit will ich nicht sagen, dass ich eine solche Strafe gewollt oder erwartet habe. Es scheint mir einfach, dass wir den Charakteren und ihrem weiteren Schicksal gefühllos gegenüberstehen.

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