Für die 18-jährige Verkäuferin Emma* war es ein ganz normaler Arbeitstag. Sie war gerade darin vertieft, Produkte zu scannen und einzupacken, als eine Stimme fragte: “Warum hast du mir nicht geantwortet?” Zuerst erkannte sie ihn nicht, aber der Mann hörte nicht auf, Emma mit Fragen zu bombardieren und ihr zu drohen. Da wurde ihr klar: Das ist der Typ von Tinder.
Anfang des Jahres hatte Emma kurz nach einer Trennung beschlossen, Tinder eine Chance zu geben. “Als ich ihn matchte, dachte ich, er wäre toll”, sagt sie zu VICE. “Er war genau mein Typ und das, wonach ich gesucht hatte. Am Anfang schien er richtig lieb zu sein, doch nach ein paar Tagen wurde er sehr besitzergreifend und fragte mich, warum ich nicht schneller antworte.”
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Sie hörte auf, mit ihm zu schreiben. Doch anstatt Emmas Wünsche zu respektieren, begann der Mann, sie zu belästigen. “Nachdem ich ihm gesagt hatte, dass ich kein Interesse habe, wurden seine Nachrichten extrem bedrohlich. Er beleidigte mich wegen meiner Figur und sagte, dass ich nie wieder jemanden wie ihn finden würde, der mich so akzeptiert, wie ich bin. In einer drohte er mir sogar damit, dass er mich finden werde.”
Wenn du eine Frau bist, die Dating-Apps nutzt, hast du bestimmt schon mal die gefürchtete “Heyyy, ich hab dich auf Tinder gesehen ;)”-Nachricht in deinen anderen Social-Media-Apps gesehen. “Tindstagramming” – ja, es gibt sogar ein Wort dafür – bezeichnet den Vorgang, das Social-Media-Profil einer Person zu finden, die man nicht gematcht hat – also kurz gesagt: wenn jemand ein Nein nicht akzeptiert. Manche Fälle sind allerdings extremer als eine ungewollte Nachricht. So auch das Beispiel von Emma, die an ihrem Arbeitsplatz von einem Stalker bedroht wurde.
Als ihr Match anfing, Emma zu beleidigen, blockierte sie ihn auf Tinder. Daraufhin versuchte er es über die sozialen Medien und kontaktierte sogar ihre Freunde. “Als meine Freunde mir zum ersten Mal davon erzählt haben, dachte ich erst, die verarschen mich. Dann haben sie mir Screenshots von den Unterhaltungen geschickt und ich habe richtig Angst bekommen.”
Nachdem sie wochenlang nichts mehr von ihm gehört hatte, dachte sie, er hätte endlich aufgegeben. Dann begann er, regelmäßig bei ihrer Arbeit aufzutauchen. Emma hat sich nie mit ihrem Stalker offline verabredet und teilt online wenig private Details. Sie hat ihm nie gesagt, wo sie arbeitet, sie glaubt aber, dass Tinder ihren Job automatisch in ihrem Profil angezeigt hat.
Emmas Fall mag extrem sein, selten ist er aber leider nicht. Er ist nur einer von vielen gemeldeten Stalking-Fällen auf Dating-Apps in Großbritannien. Im Januar führte Tinder in den USA eine neue Sicherheitsfunktion ein, die mit der persönlichen Sicherheits-App Noonlight synchronisiert wird. So können Nutzer während eines Tinder-Dates den Notruf alarmieren und Profile auf gefälschte Fotos überprüfen, um Catfishing zu verhindern. Die Funktion wurde als großer Fortschritt für die persönliche Sicherheit angepriesen.
Tinder lehnte eine Bitte um Stellungnahme ab. Emma sieht die neuen Sicherheitsfunktion jedenfalls als positive Entwicklung: “Der Notdienst wäre damals sicher hilfreich gewesen, besonders als seine Nachrichten einen anderen Ton annahmen.”
Die Funktionen könnten dabei helfen, solche Fälle frühzeitig zu erkennen. Doch Untersuchungen zu Stalking haben gezeigt, dass Behörden häufig zu spät auf die Notrufe von Frauen reagieren. Zwischen 2015 und 2017 wurden 55 Frauen in Großbritannien durch gewalttätige Partner, Ex-Freunde und Stalker getötet, die sie laut einer Broadly-Recherche bereits bei der Polizei angezeigt hatten.
Auch die 21-jährige Studentin Melissa* matchte mit ihrem Stalker auf Tinder. Genau wie Emma hatte auch sie anfangs nichts geahnt, etwas habe mit ihm allerdings nicht gestimmt. “Ich hätte einfach auf mein Bauchgefühl hören sollen”, sagt sie. Nach ein paar Tagen Chatten merkte sie, dass nichts aus der Sache werden würden. Sie fand es nur fair, ihm das zu sagen, damit er sich keine falschen Hoffnungen macht.
Anfangs steckte er den Korb gut weg, bis er plötzlich an ihrer Uni auftauchte. “Ich kam gerade aus meinem Kurs, als ich ihn dort sah. Erst dachte ich mir nichts dabei. Er hatte mal erwähnt, dass er auf denselben Campus geht. Dann begann er, mir immer zu schreiben, kurz nachdem er mich gesehen hatte. Da wurde mir klar, dass das kein Zufall war.”
Dann begann er, Melissa ständig anzurufen und Nachrichten zu schreiben. “Immer aggressiver fragte er, wann wir uns treffen. Nach meinen Seminaren wartete er ständig auf mich”, sagt sie.
Seine andauernden Belästigungen und Verfolgungen machten Melissa so viel Angst, dass sie das Sicherheitspersonal der Universität einschaltete, allerdings ohne Erfolg. “Wie sich herausstellt, machen sie nicht viel, solange nicht jemand handgreiflich geworden ist”, sagt sie.
Eine Sprecherin der Londoner Charity Suzy Lamplugh Trust sagt gegenüber VICE: “Jede Form von Stalking oder Belästigung, sowohl offline als auch online, kann verheerende Auswirkungen auf die Opfer haben. Wir legen jeder Person nahe, die glaubt, von Stalking betroffen zu sein, sich an die Polizei zu wenden.”
Die Organisation rät auch, Probleme direkt in der App zu melden: “Wir ermutigen alle, die auf einer Dating-Website gestalkt werden, die jeweilige Person direkt zu melden und die aufgeführten Sicherheitshinweise zu befolgen. Sag der Person, dass du keinen Kontakt mehr willst und antworte dann nicht mehr. Wenn du dich akut bedroht fühlst, wende dich an die Polizei.”
“Does This Bother You” ist eine weitere neue Tinder-Funktion, die Stalking in Zukunft verhindern soll. Wenn eine Person “Ja” auswählt, hat sie die Möglichkeit, die Person direkt an Tinder zu melden. Diese Neuerungen kommen für manche allerdings zu spät: Sowohl Emma als auch Melissa haben Tinder nie wieder benutzt.
Emmas Fall hatte immerhin ein Happy End. Nachdem der Sicherheitsdienst bei ihrer Arbeit intervenierte, hat der Mann sie nie wieder kontaktiert. Sie entschied sich dazu, die App zu wechseln und fand ihren jetzigen Freund auf Bumble.
Melissa hingegen musste ihren Alltag und ihr Leben umstellen, um sich wieder sicher fühlen zu können. Sie wechselte den Kurs und legte sich eine neue Nummer zu. Die Erfahrung hat sie nie ganz losgelassen – auch nach ihrem Abschluss nicht. “Egal was ich gemacht habe”, sagt sie, “ich habe mich nie wieder auf diesem Campus wohlgefühlt.”
*Name geändert.