Es ist Freitagabend und Central-London ist, wie es für Central-London an einem Freitagabend üblich ist, rappelvoll. Während unser Taxi die Strand entlangrollt, vorbei an Pret a Manger, Savoy, Coutts und Itsu, vorbei an den umherschwirrenden Horden und den träge voranschreitenden Massen, kann man kaum anders, als das Bild eine Stadt vor Augen zu haben, in der der Mensch keine Rolle mehr spielt.
Es ist ein Bild, das gleichzeitig beruhigend und zutiefst angsteinflößend ist. Jeder Stadtbewohner tendiert dazu, die Einsamkeit und Ruhe zu romantisieren, die wir fälschlicherweise als fundamentale Eigenschaften des Landlebens identifizieren. Wir sehnen uns nach einer imaginierten Stille, in der wir es endlich schaffen würden, Prousts Gesamtwerk zu lesen oder Klavierspielen zu erlernen. Anstatt des ständigen und unnötigen (und Angst hervorrufenden) Stresses würden wir dort ein Leben in fast klösterlicher Abgeschiedenheit führen. Befreit von den Fesseln Soziabilität, so stellen wir uns vor, würden wir dort endlich zu unserem inneren Frieden finden, den uns das geschäftige Stadtleben die ganzen Jahre verwehrt hat.
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Das alles ist natürlich totaler Blödsinn. Verführerischer Blödsinn vielleicht, aber nichtsdestotrotz Quatsch. Aber genau dieser Quatsch ging mir durch den Kopf, als ich an besagtem Freitag schnellen Schrittes die Mall entlangging, um durch die geheiligten Tore des ICA zu treten. Im Rahmen der diesjährigen Veranstaltungsreihe Clock Strikes 13 wurde dort Kode9s und Lawrence Leks audiovisuelle Show Nøtel gezeigt.
Nothing, das 2015 erschienene Album des Hyperdub-Bosses, erklang in ohrenbetäubender Lautstärke, während dazu Leks betörend-verstörenden und aufregenden First-Drone-Visuals (nicht First-Person!) eines menschenleeren Hotels über die große Leinwand flimmerten. Die Performance war also ein großer hemmungsloser Spaß. Natürlich war die Show auch anregend, konfrontativ und in gewisser Weise elegisch, aber unter allem dem war eine Menge Spaß begraben.
Der Spaß, wenn wir ihn so nennen können, bestand darin, die durchaus gewagten Themenbereiche—De-Individualisierung, die Erosion des urbanen Raums, wie wir ihn kennen und verstehen, “vollautomatisierter Luxuskommunismus”—mit totaler und unfehlbarer Überzeugung präsentiert zu sehen.
Vor der Show habe ich mich mit Lawrence Lek und Kode9 unterhalten, um zu verstehen, was dieses Nøtel eigentlich ist und was es uns über das Leben in einer nicht allzu fernen Zukunft sagt.
Noisey: Kannst du uns erklären, wie du zu diesem Medium der First-Person-Digital-Exploration gekommen bist?
Lawrence Lek: Da ich in verschiedenen Städten aufgewachsen bin, habe ich mich schon immer für das Erschaffen von Welten interessiert—sei es im Kino, Science-Fiction, Romanen, Computerspielen oder auf Konzeptalben. Als ich im Architekturbereich gearbeitet habe, habe ich gelernt, dass die meisten Gebäudeentwürfe nie umgesetzt werden. Ich habe mich also gefragt: Was wäre, wenn du dieses Stadium, in dem das Gebäude bloß als Rendering existiert, komplett ernst nimmst?
Als First-Person-Explorer in einer virtuellen Welt gelten die ganzen psychischen Effekte eines tatsächlichen Raumaufenthalts für dich, gleichzeitig trennst du dich aber von allen Gesetzen der Realität, die dich stören.
Ich habe also einfach weitergebaut, allerdings ohne Gebäude. Viele meiner virtuellen Welten basierten auf echten Orten und das Nøtel mit Kode9 war das erste Mal, dass ich Architektur “wahrhaftig” entworfen habe.
Ich habe vor ein paar Wochen schon deine Kollaboration mit Oliver Coates beim Semibreve in portugiesischen Braga gesehen. Kontaktieren die Musiker dich oder läuft das andersherum?
Als ich selber noch mehr Musik gemacht habe, dienten mir Kollaborationen als Verbindung zwischen der Welt des Designs und der bildenden Kunst. Freunde (die auch oft Musiker waren) machten Videos zu meinen Soundtracks—manchmal lief es auch andersherum. Vor ein par Jahren schickte Oliver mir aus dem Blauen heraus einen Track und der wurde schließlich zum Main-Theme meiner Simulation “Unreal Estate (the Royal Academy is Yours)”. Letztes Jahr habe ich mich dann wegen eines Soundtracks zu einem Video, an dem ich gerade arbeitete, mit Hyperdub in Verbindung gesetzt. Daraus ist schließlich Nøtel entstanden.
Kannst du die Idee des “vollautomatisierten Luxuskommunismus” etwas genauer erklären?
Im Endeffekt gibt es zwei Arten, wie man auf die zunehmende Verdrängung des Menschen aus der Arbeit durch Mechanisierung und Computer-Automatisierung reagieren kann. Eine davon ist ein Untergangszenario, in dem wir uns gegenüber den Maschinen behaupten müssen, um den Selbstwert der Menschheit zu bewahren und ihn zu stärken. Die andere (“Der vollautomatisierte Luxuskommunismus”) sieht die Automatisierung als Gelegenheit, um uns von der Schinderei des 8-Stunden-Tags zu befreien. In diesem idealistischen Szenario würde die Menschheit Arbeit komplett an Maschinen delegieren. Sie würde in einer Welt leben, in der alle Zeit Freizeit ist. Dieser luxuriöse Lebensstil wäre möglich für alle (Menschen zumindest), egal welcher Herkunft, welchen Geschlechts, welchen Alters, welchen Wohnorts und welcher Sprache.
Was sagt uns Nøtel denn über die heutige Zeit?
Eine zentrale Idee meiner Arbeit ist, dass Architektur ein Selbstporträt ist. In anderen Worten: Die Gesellschaft erfindet sich durch die Räume neu, die sie zurücklässt. Das Nøtel denkt das Konzept des Hotels—diese sonderbare Kombination aus flüchtigem und heimischem Ort—bis zu seinem äußersten Ende. Dank der Automatisierung des organisatorischen Systems verwandeln sich Bereiche, die von Unternehmen wie Hotels und Bahn/Fluggesellschaften dominiert wurden, in Startup-Bereiche für selbstständige und sich selbst organisierende Angebote wie AirBnB und Uber. Die Nøtel-Welt suggeriert, dass die Startup-Kultur nur ein Schritt eines umfassenderen Evolutionskreislaufs ist. Irgendwann wird das größte Unternehmen jede Innovation konsumieren und Hotels werden mit Häusern verschmelzen. Klingt das jetzt mehr nach Zuhause oder Gefängnis? Das eine ist lediglich ein Spiegelbild des anderen. Natürlich ist das nur ein Aspekt. Darüberhinaus geht es auch um Vorstellungen von Tod und Unsterblichkeit. Im Nøtel ist eine Menge Symbolismus vorhanden, aber es ist nicht mein Job, das alles zu erklären.
Noisey: Wie bist du zum ersten Mal mit Lawrences Arbeiten in Kontakt gekommen? Kode9: Gerade, als ich das Album fertig machte, hat sich Lawrence bei uns gemeldet, um zu fragen, ob wir nicht Visuals für einen Hyperdub-Künstler brauchen würden. Die erste Arbeit, die ich von ihm gesehen habe, war “Unreal Estate”, das sehr gut zu den Ideen auf Nothing passte. Sobald wir uns getroffen und ein paar Brainstorming-Sessions abgehalten hatten, war klar, dass wir in manchen Punkten ähnlich denken.
Wie passt Nøtel in dein Gesamtwerk?
Es ist mein drittes Album, aber nach dem Tod von The Spaceape auch mein erstes instrumentales. Meine Alben sind immer schon irgendwie Konzeptalben gewesen, aber mit der Zeit auch fröhlicher und energetischer geworden. Ich wollte es aber ungern alleine aufführen, deswegen habe ich Lawrence nach der Kollaboration gefragt.
Welche Wirkung haben diese First-Person-Visuals auf dich persönlich?
First-Drone-Perspektive, nicht First-Person. Sie sind kalt und unmenschlich, aber auch fesselnd und neugierig.
Empfindest du Hotels insgesamt als komische Orte?
Ich habe immer dieses Gefühl der Ruhelosigkeit, wenn ich dort übernachte—eine fundamentale Entwurzelung, die mich sehr verstört. Sehr komische. Ich verbringe viel Zeit in ihnen und bin immer wieder von ihrer Leere überrascht—vor allem wenn du spät in der Nacht ankommst und mit den zahllosen identisch aussehenden Fluren und Zimmern konfrontiert wirst. Ich habe mich schon in vielen verlaufen. Ich habe die Nachricht vom Tod von The Spaceape und DJ Rashad—beide tauchen übrigens als Hologramme im Nøtel auf—erhalten, als ich alleine in Hotels am anderen Ende der Welt war. Dieses Gefühl klingt in dem Projekt mit.
Header, sowie alle Bilder mit freundlicher Genehmigung von Lawrence Lek. Dieser Artikel ist zuerst bei THUMP erschienen.
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