Warum uns Einzelschicksale mehr interessieren als Hunderte ertrunkene Flüchtlinge

Manchmal ist es OK, eine gewisse Doppelmoral walten zu lassen. Wenn du einen köstlichen Schoko-Muffin ablehnst, weil Weizen und Zucker ungesund sind, du dir abends aber drei bis fünf Gin Tonics genehmigst zum Beispiel. Anders sieht es aus, wenn du dich für Jungfräulichkeit vor der Ehe stark machst – aber nur bei Frauen. Und ganz anders sieht es aus, wenn dich das Schicksal einer Weißen Europäerin, die zehn Stunden im Mittelmeer überlebt hat, total mitnimmt, das von Hunderten Nicht-Europäern, die dort täglich über Bord gehen und häufig auch dort sterben aber nicht. Trotzdem scheinen sich viele Menschen momentan mehr für ein Einzelschicksal als für Hunderte sterbende Flüchtlinge im Mittelmeer zu interessieren.

Die Britin Kay Longstaff fiel Samstagnacht von einem Kreuzfahrtschiff in der kroatischen Adria ins Meer. Nachdem sie zehn Stunden im Wasser trieb, fischte sie ein Schiff der kroatischen Marine glücklicherweise am Sonntagmorgen wieder raus. Mit Singen und Yoga habe sie sich von der Kälte abgelenkt und fit gehalten, sagte sie dem Fernsehsender HRT. Der Fall ging in Deutschland und weltweit durch fast jede Redaktion. Der MDR schreibt vom “glücklichen Ende einer wahren Odyssee“, die Bild von “der unglaublichsten Geschichte des Sommers“. Und die Süddeutsche Zeitung durchleuchtet die Geschichte verschwundener Schiffspassagiere bis zur Antike: “Die Angst vor dem Sturz ins Wasser beschäftigt die maritime Menschheit seit jeher.” Auf Twitter ist man dagegen nicht so euphorisch.

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Der Netzaktivist Linus Neumann schreibt dazu: “‘Nach zehn Stunden im Wasser ist eine britische Kreuzfahrt-Urlauberin aus dem Mittelmeer gerettet worden.’ EINE. Und die Weltpresse berichtet.” Viele Kommentatoren vergleichen die Rettungsaktion mit der Situation der Geflüchteten auf dem Mittelmeer. Einige User reagieren ironisch: “Ich hoffe, der Kapitän des Rettungsschiffes hat sich ihren Ausweis zeigen lassen. Nicht dass er noch Probleme bekommt …” Andere sind deutlicher: “Europäerin fällt im #Mittelmeer von einem Kreuzfahrtschiff, ihre Rettung wird bejubelt. Im Schnitt sterben jeden Tag 6 Nicht-Europäer im Mittelmeer, ihre Rettung wird kriminalisiert. Europa hat seine Würde längst auf den Müllhaufen der Geschichte geworfen.” Haben wir also wirklich mehr Mitgefühl mit einer einzelnen Frau als mit Hunderten Unbekannten?

Fritz Breithaupt beschäftigt sich täglich mit solchen Fragen. Momentan arbeitet er als Professor an der Indiana University in Bloomington. Der Empathie-Forscher hat ein Buch über die “Dunklen Seiten der Empathie” geschrieben und erklärt, was passieren muss, damit wir uns für das Schicksal anderer Menschen interessieren.

VICE: Wieso stürzen sich die Medien so auf die Geschichte der britischen Touristin?
Fritz Breithaupt: Es ist die perfekte Story. Eine Identifikations-Geschichte. Der Leser kann mitfühlen und sich vorstellen, was er selbst in dieser Situation getan hätte. Gleichzeitig weiß er, dass die Frau gerettet wurde. Wir können für einen kurzen Moment tief in diese Geschichte eintauchen und danach wieder zu uns zurückkommen, und alles ist wie vorher. Flüchtlinge hingegen haben eine Apokalypse erlebt. In dem Moment, in dem wir uns auf sie einlassen, haben wir eine Verpflichtung ihnen gegenüber. Diese Menschen kommen zwar, wenn sie Glück haben, irgendwann aus dem Ozean raus und in Europa an, aber damit ist ihre Geschichte noch nicht zu Ende. Sie haben alles, was sie kennen, verlassen, um aus ihrem Land zu fliehen. In Europa wissen sie nicht, wie es weitergehen wird. Das ist eine Geschichte mit ungewissem Ausgang, selbst wenn sie die Flucht überleben. Die Geschichte der Frau ist mit ihrer Rettung auserzählt.

Fritz Breithaupt ist Professor für Germanistik und Kognitionswissenschaften
Fritz Breithaupt ist Professor für Germanistik und Kognitionswissenschaften | Foto: Alex Teschmacher

Verdienen diese Menschen unsere Empathie deshalb nicht viel mehr?
Es geht nicht darum, wer mehr Empathie verdient. Bei der Touristin fällt es vielen Menschen einfach leichter. Sie braucht uns nicht. Da können wir aus der Ferne mitfühlen und danach vergessen wir sie wieder. Bei den Flüchtlingen sind wir als Menschen gefragt. Wir müssen uns auf sie einlassen und das ist sehr schwierig. Früher oder später wird man sich fragen müssen: Was tue ich eigentlich für diese Menschen? Oder was würde ich für sie tun? Die Geschichte der Britin hingegen hat alles, was uns das Mitfühlen erleichtert. Sie ist ein Einzelschicksal. Um empathisch zu sein, ist es wichtig, zu wissen, dass es ein Ende gibt. Um Empathie zu spüren, müssen wir uns selber verlassen und das ist nicht immer gut. Deswegen tun wir das nur, wenn wir das wirklich wollen. Das geschieht natürlich eher, wenn wir wissen, dass wir danach wieder zu uns zurückkehren – wenn es ein Ende gibt. Natürlich ist das zynisch, aber auch eine Form von Selbstschutz.

Was wäre, wenn die Frau ein Trauma davontragen würde? Dann wäre ihre Geschichte noch nicht vorbei.
Aber auch dann gäbe es Aussicht auf endgültige Heilung, zum Beispiel durch eine Therapie. Bei einem Flüchtling ist das schwieriger. Diese Menschen sind oft Hals über Kopf aus ihrer Heimat geflohen. Viele sprechen kein Deutsch und nur gebrochenes Englisch oder Französisch. Die haben es in Deutschland verdammt schwer. Da weiß man gar nicht genau, was man ihnen wünschen soll. Soll man diesen Menschen wünschen, dass sie sich ganz schnell integrieren und ihre Heimat in fünf Jahren vergessen haben? Soll man ihnen wünschen, dass sie irgendwann wieder in ihr Heimatland zurückkehren können, weil sich die Lage dort verbessert hat? Bei Flüchtlingen gibt es zwar die Geschichte der Flucht, aber keine abschließende Lösung.


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Wieso interessieren wir uns mehr für Einzelschicksale als für das von Hunderten Menschen?
Einzelschicksale erzeugen Mitgefühl. Sobald es um eine größere Gruppe geht, ist es immer eine Frage der Statistik. Dann geht es nicht mehr um eine Person, sondern um eine Gesamtsituation, so wie bei einer Unwetterkatastrophe in Indien oder einem Boot mit hundert Flüchtlingen. In solchen Momenten fühlen wir das Schicksal der Menschen nicht schrittweise nach, sondern denken über die politischen Umstände in Syrien oder die Klimaverschiebung nach. Wir sind nicht mehr so emotional. Dazu kommt die innere Abstumpfung, wenn wir eine Situation mehrfach erleben. Am Anfang ist die Empathie noch groß, mit der Zeit aber nicht mehr. Ein Phänomen, was sich besonders gut an Ärzten feststellen lässt. Ein Drittel unserer Ärzte leidet an massiver Empathieabstumpfung gegenüber ihren Patienten. Das ist zwar nicht gut, aber man versteht es. Empathie ist anstrengend. Bei einem Einzelschicksal haben wir häufig noch Hoffnung, dass sich alles ins Gute wenden wird. Bei einem Schlepperboot mit Hunderten Flüchtlingen gibt es aber keine positive Narration. Das ist einfach nur eine Katastrophe.

Wird also auch unsere Empathie für Asylsuchende zwangsläufig weniger?
Es gibt nicht nur positive Dinge, die man aus Empathie tut. Eine der schlechten Seiten der Empathie ist die Parteinahme. Zu Beginn der Flüchtlingskrise waren die Flüchtlinge ganz klar die Opfer, da fiel es leicht, sich auf ihre Seite zu stellen. Inzwischen gibt es aber zum Beispiel die AfD, die behauptet, Flüchtlinge würden den Deutschen die Arbeitsplätze wegnehmen oder Steuergelder für sich beanspruchen. Es gibt Menschen, die das glauben und sich dann vermeintlich auf ihre eigene Seite stellen. Sobald der Mensch sich für eine Seite entschieden hat, sieht er die andere dunkler. Weil man Empathie mit dem einen hat, ist man plötzlich gegen den anderen.

Ist es nicht möglich, sowohl mit der britischen Touristin mitzufühlen als auch mit Hunderten Flüchtlingen?
Es gibt eine Grenze der Empathie-Bereitschaft. Die meisten Menschen haben lieber nur kurz Empathie mit jemandem und sind froh, sie danach wieder ablegen zu können. Danach fühlen sie sich gut, weil sie mit jemandem mitgefühlt haben, auch wenn sie niemandem damit geholfen haben. Zwischen dem Schicksal der Frau und dem von Hunderten Flüchtlingen besteht ein perfider Zusammenhang. Unterbewusst entscheidet der Mensch sich sehr wohl, mit wem er jetzt mitfühlt. Wenn er sich für die Britin entscheidet, kann er sich auf die Schulter klopfen und mit einem besseren Gewissen sagen, dass er sich heute mal keine Gedanken über die Flüchtlinge macht, die täglich im Meer ertrinken. Genauso gibt es Menschen, die sich mehr für die Flüchtlinge interessieren und deshalb weniger für die Touristin. Die Geschichte der Frau könnte man auch vernachlässigen, während man bei einem gekenterten Flüchtlingsboot eigentlich nicht wegsehen kann. Trotzdem wissen wir, wo die Aufmerksamkeitskultur hingeht, und das ist ganz klar die britische Touristin.

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