Trachtenfrauen

Marie Meier, Schaumburg

Trachten kommen in unserem Alltag nicht mehr vor. Bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts aber waren sie aus dem Straßenbild kleiner Dörfer kaum wegzudenken. Die Tracht war sowohl Alltagskleidung als auch Festgarderobe für besondere Gelegenheiten. Trachten waren sowohl langlebig, also ökonomisch, als auch Symbole für gesellschaft- lichen Status und Stand. An Farben und Schnitt konnte man feststellen, ob eine Frau verheiratet war, aus welcher Familie sie kam, wie alt sie war und wie viel Geld sie hatte.

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Ab den 1930ern änderte sich das Verhältnis zur Tracht. Langsam, aber sicher fin- gen Frauen an, „Stadtkleider“ zu tragen, zunächst noch gegen den Widerstand der Dorfgemeinschaft. Bis in den 50er und 60er Jahren die Frauen, die noch Tracht trugen, zu den Außenseiterinnen wurden. Sie waren plötzlich rückständig und altmodisch, zeigten aber gerade durch ihr Festhalten an der alten Kleidungsweise Individualität und Selbstbewusstsein.Natürlich stürmen zum Oktoberfest Touristinnen die Bierzelte und präsentieren ihre Trachten-Dekolletés und semiprominente Fußballerfrauen lassen sich im Mini-Dirndl fotografieren. Das sind aber nur noch traurige Verkleidungen, die man anlegt, wenn man den Eindruck erwecken will, Wert auf Tradition zu legen.

Seit 2008 sucht Eric Schütt für sein Projekt „Burekleider—Burska Drasta. Die letzten Frauen in Tracht“ Trachtenfrauen in ganz Deutschland und im Elsass auf, um sie zu fotografieren. Die Frauen auf den folgenden Seiten sieht man nie ohne Tracht. Sie tragen sie im Haus und wenn sie das Haus verlassen. In ihren Dörfern sind sie damit Exoten. Oft sind sie tatsächlich die Letzten, die diese Kleidung noch entsprechend ihrem ursprüng- lichen Zweck tragen. Oder getragen haben. Denn einige der Damen sind mittlerweile gestorben. Eric ist damit der Einzige und Letzte, der die Chance ergriffen hat, dieses Phänomen auf seine Weise zu dokumentieren und die Frauen würdevoll abzubilden.

EMMA KRAHL, SORBEN
„Ich bin die Jingste, und die Letzte“—so empfing mich Emma Krahl aus Rohne, sorbisch Rowno. Eine interessante Sprachfärbung, ein bisschen Sächsisch hört man raus, aber auch einen slawischen Akzent. Obwohl Frau Krahl doch kaum noch Sorbisch spricht. Es gibt fast niemanden mehr, der sie verstehen würde. Für sie war es nie eine Frage, die traditionelle Tracht der evangelischen Sorbinnen anzubehalten. Um sie herum gingen fast alle Frauen zur „deutschen Kleidung“ über, sie blieb bei „wendisch“. Als ich sie vor drei Jahren bat, ihre Sonntagstracht anzuziehen, war sie erst mal gar nicht begeistert. Sie hat wie vom Teufel gejagt ihr Heu gewendet auf dem Feld, ein Gewitter war im Anmarsch, das Heu musste fertig gemacht werden für den Traktor. Und da kam ich, dieser fremde Fotograf, und wollte sie in ihrer festlichen Tracht sehen. Also schnell umgezogen und hingesetzt an den Küchentisch. „Sind Sie bald fertig?“ Sie dachte an ihr Heu und an die Zeit, die ihr davonlief, während ich immer wieder auf den Auslöser drückte. Mittlerweile gibt es keine anderen Frauen mehr, die diese Bauernkleidung mit dem farbenprächtigen Häubchen auf dem Kopf noch zum Kirchgang tragen. Und bald wird auch ihr Haus am Ortsrand Geschichte sein. Ihr Dorf ist auf den Karten als Braunkohleabbaugebiet ausgewiesen: „Hoffentlich erlebe ich das nicht mehr!“

FRAU SÜSSMANN, SCHWALM
Anna Katharina Süßmann lebt in einem Fachwerkhaus mit großem, leerem Hof. Die Großbauerntochter hat eine bemalte Truhe in ihrem Wohnzimmer stehen, in der verschiedene Stücke ihrer Tracht aufbewahrt werden. Sie ist eine „Schwälmerin“, sagt sie stolz. Mit den Farben nimmt sie es nicht mehr so genau: Bei meinem Besuch trägt sie Violett, eigentlich eine Farbe, die man höchstens im Alter von 50 Jahren noch tragen dürfte. Mit ihren beinahe 90 dagegen wäre sie früher auf Schwarz festgelegt gewesen. Doch was soll’s. Die Bildsprache der Trachten versteht heute eh keiner mehr. In der Wohnstube hängt ein Ölgemälde ihrer Urgroßmutter. Sie ist fast genauso gekleidet wie Frau Süßmann selbst.

„Schwälmer gibt es allerdings keine mehr“, erzählt ihr Ehemann. Denn bis vor einigen Jahrzehnten gab es auch noch Männer, die eine ganz eigene, charak- teristische Kleidung trugen. Dazu gehörte bei den Älteren zum Kirchgang der Abendmahlsrock, die Kniebundhose, Schnallenschuhe und auf dem Kopf der „Dreimaster“, der stark an die Hüte der Barockzeit erinnert. Der über 90-jährige Herr Süßmann war als junger Mann der Erste in der Familie, der sich Stadtkleidung, also Anzug und Krawatte, anzog— gegen große Widerstände. Später ist er weit in der Welt herumgekommen. In seiner Generation reiste man allerdings nicht, man führte Krieg. Einige Monate später besuche ich das Ehepaar Süßmann noch einmal. Sie sucht in der Truhe ein weiteres altes Kleidungsstück, einen Trauermantel.

AGNES MÜLLER, SORBEN
Mit ihren über 80 Jahren ist Agnes Müller eine der ältesten Frauen, die bei der Fronleichnamsprozession mitlaufen. Fronleichnam, das „Fest des heiligsten Leibes und Blutes Christi“, ist einer der höchsten Feiertage der Katholiken und wird in der Lausitz immer prächtig gefeiert. Die Hostie wird in einer Monstranz unter Gesängen und Gebeten durch die Straßen getragen. Zu diesem Anlass ziehen nicht nur die alten, sondern auch viele junge Frauen und Mädchen die Festtagstracht an. Die katholischen Sorben leben ihr Brauchtum: Ostereier bemalen, viel besuchte Fronleichnamsprozessionen, Gottesdienste im Freien, Osterreiten—selbst das Fernsehen ist oft dabei und die Touristenbusse sowieso. Frau Müller ist die Witwe eines Bürgermeisters, sie ist die Kamera gewohnt. Während der Prozession gelingt ein Bild ganz ohne Pose.

MARIA MIRTSCHNIK, SORBEN
Um Bautzen herum leben die katholischen Sorben. Dort ist die sorbische Sprache noch sehr lebendig. Zu DDR-Zeiten waren sie durch ihren Glauben der Staatsführung ein Dorn im Auge. Maria Mirtschink kann ein Lied davon singen. Sie ist weit über 90 Jahre alt und bis vor wenigen Jahren noch Fahrrad gefahren. Wie eine Königin sitzt sie, frisch geschminkt und mit schwarzer Schleife im Haar, im Garten. „Sind Sie katholisch?“, fragt sie mich misstrauisch. „Na ja, wie’s beliebt“, setzt sie nach. Sie weiß ja, heute ticken die Uhren anders. Ihr Vater musste unter Hitler ins Gefängnis und hat das Dritte Reich nur mit knapper Not überlebt. Frau Mirtschink ist eine der Letzten, die an diesem hohen Festtag in der Kirche noch ein großes weißes Tuch auf dem Kopf trägt.

ANNA SCHAEFER, SCHAUMBURG
Wir sind im Schaumburger Land, dem Land der Rotröcke, einer Gegend westlich von Hannover, in der noch ein Herzog regiert. Die 86-jährige Anna Schäfer ist die jüngste der wenigen Frauen, die die Schaumburger Tracht noch im Alltag tragen. Immer neue Stücke ihrer Festtagskleidung bringen sie und ihre Tochter herbei: schwere lange Mäntel in Rot—für die jüngeren Frauen—und in Schwarz, die schwarze Haube, die Frau Schäfer nicht mehr anziehen will, weil sie sich dafür zu alt fühlt, Kleider und Röcke in allen Farben, von Grün über Gold bis zu Schwarz, Bernsteinketten und kunstvoll bestickte Halsbänder. 

Welch eine Pracht muss in den Kirchen geherrscht ha- ben, wenn die Frauen so ausstaffiert zum Abendmahl gingen. Anhand der Tracht zeigte man nicht nur, ob man verheiratet war oder ledig, ob man gerade um einen nahen oder ferneren Angehörigen trauerte, ob das erst ein halbes Jahr her war oder länger, wie alt man ungefähr war und aus welcher Region man kam, sondern auch seinen Wohlstand. Die armen Frauen trugen keine kostspielige Festtagstracht.

ANNA PAWELCZYK, SCHAUMBURG
Ganz im Chic der 50er Jahre ist das Zimmer von Anna Pawelczyk eingerichtet, gastfreundlich reicht sie uns Kekse und Kaffee, bevor sie zu erzählen beginnt. Sie ist Tochter einer armen Familie und vor bald 100 Jahren hat ihr Vater das Haus gebaut, in dem sie immer noch wohnt. Das Alte war aus Holz und bitterkalt. Nur einmal im Leben hat die Schaumburgerin Hosen getragen: bei Kriegsende, als sie Schanzarbeiten durchführen musste gegen den anrückenden Feind. So plastisch erzählt sie das, dass ihre Tochter sie lachend fragt, ob sie eigentlich auch etwas anderes erlebt hat mit ihren 91 Jahren. 

Frau Pawelczyk trägt einen „Punz“, eine Art Dutt, der aber nicht am Hinterkopf, sondern vorne, di- rekt oberhalb der Stirn befestigt ist. Ursprünglich bestand er aus langem, geflochtenem und gewickel- tem Haar, die alten Damen jedoch verwenden der Einfachheit halber Kunsthaar. Frau Pawelczyk nennt ihre Kleidung ihr „Zeuch“, für sie ist die nichts Besonderes. Ihre Tochter trägt Jeans, Pulli und lange Haare, Arm in Arm lassen die beiden sich im Garten fotografieren. Sie schnacken in Plattdeutsch und ich verstehe kein Wort.

MARIE MEIER, SCHAUMBURG
Die über 90-jährige Frau Meier empfängt mich in langem Rock und Schürze. Bei meinem zweiten Besuch ist auch sie bereit, ihre festliche Kleidung für mich anzuziehen. Frau Schäfer ist mittlerweile verstorben und Frau Pawelczyk bettlägerig. Somit ist sie die letzte echte Schaumburgerin in Festtagstracht, pathetisch könnte man sagen: Ein historischer Augenblick, eine Epoche geht zu Ende! Geduldig kleidet sie sich mithilfe ihrer Tochter immer wieder um, trägt ihre Ülkermütze, ein selbst gestricktes Kopftuch, die schwarze Haube, die üppige Brosche aus Silber mit ihrem eingravierten Namen, die per- lenbestickten Handschuhe, die prachtvoll farbigen Röcke und Schürzen… Eine prächtige Zeremonie spielt sich da in ihrem Wohnzimmer ab, mit ihrem Plüschsessel als Thron. 

Wahrscheinlich hat man den adligen Herrschaften die Pracht abgeschaut, in der sich die Bauern und Bäuerinnen von nun an auch selbst kleiden wollten. Man kennt diese gestärkten Halskrausen von Porträts von Königin Elizabeth I. von England, wie sie einsam und ganz in Schwarz für den Maler posiert. Ob diese Tracht tatsächlich aus der Renaissance stammt, weiß heute aber keiner mehr. „Engel Marie Sophie Meier“, ja, so heißt sie wirklich, ein wahrhaft angemessener Name für die Trägerin einer solch edlen Kleidung. Am Ende ist sie zwar erschöpft, aber trotzdem zufrieden. „Hier bin ich geboren, und hier geh’ ich wieder raus aus’m Haus“, winkt sie mir fröhlich zum Abschied, als ich sie wieder verlasse. In Trachtenvereinen wird ihre Tracht überleben. Dort aber verkleidet man sich nur.