Svenja Gräfen, 26, ist Autorin und lebt in Berlin. Im April 2017 erschien ihr Debütroman “Das Rauschen in unseren Köpfen”, seit 2010 tritt sie außerdem regelmäßig bei Poetry Slams im gesamten deutschsprachigen Raum auf. Dabei spricht sie über Dinge, die sie bewegen – und eben auch das Thema, über das sich anscheinend auch im Jahr 2017 noch immer ganz ausgezeichnet streiten lässt: Feminismus.
“Feminismus? Ich halte das für eine übertriebene Scheißidee. Das ist nichts als egoistisches Rumgeheule und ganz und gar falsch. Mittlerweile sind doch die Männer im Nachteil. Jungs werden in der Schule systematisch ausgestochen. Und was dürfen Männer überhaupt noch? Frauen wollen immer schön sein und immer schön gefunden werden, ganz egal wie sie aussehen, ob sie jetzt dick sind oder dünn sind, aber sobald man ihnen dann sagt, sie seien schön, ist das gleich schon wieder Objektifizierung! Oder Sexismus! Oder Mansplaining. Für alles gibt es irgendein scheiß Wort!
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Männer dürfen überhaupt nicht mehr mitdiskutieren, die haben gefälligst den Mund zu halten, still in der Ecke zu sitzen, also wo kommen wir denn da hin? Ich finde das inzwischen wirklich gefährlich, das ist eine Verschwörung, und ich würde jedem davon abraten, sich auf diesen Feminismus einzulassen, ich meine: wir sind doch alle bloß Menschen, oder? Oder muss ich jetzt schon sagen: Menschinnen?”
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Ich seufze und schaue das Männchen an, das mir gerade diesen Vortrag gehalten hat. Wir befinden uns in einer Kneipe und er klinkte sich vorhin in das Gespräch ein, das ich mit einer Freundin führte. Es ging um Brüste und das fand er wohl irgendwie interessant. Er fragte, ob wir auch welche von diesen Feminazis seien, von denen er ständig im Internet lesen würde, sprang daraufhin auf, installierte seinen Körper auf der wackligen Bank und startete sein Referat. Es war wie ein Unfall: Man musste einfach hinschauen. Der Kellner hinter dem Tresen stellte skeptisch die Musik leiser, die Menschen um uns herum stellten ihre Gespräche ein und hielten mit hochgezogenen Augenbrauen ihre Biere in den Händen.
“Oder muss ich jetzt schon sagen: Menschinnen?”
Ich schließe die Augen. Es ist still in der Kneipe, ungewöhnlich still. Bloß das Summen des Getränkekühlschranks ist zu hören und das leise Knarzen der Bank, auf der das Männchen noch immer steht.
Nach 5000 Jahren Patriarchat ist es doch schon okay, wenn man als Mann vielleicht mal kurz die Klappe hält und zuhört.
“Also: Im Prinzip hast du’s ja erkannt”, ruft plötzlich jemand in die Stille, “wir sind alle bloß Menschen. Aber Dude: Lass das mit diesem ‘Menschinnen’. Das ist echt ein total bescheuertes Wort.”
Eine Frau in der hinteren Ecke erhebt sich, sie sagt: „Was natürlich nicht heißt, dass das Gendern der Sprache unwichtig ist. Ich meine, ist ja logisch: Was wir sagen, denken wir, was wir denken, sagen wir, was wir sagen und denken formt unsere Realität und so, die Muster und Strukturen, nach denen wir leben und handeln. Tschuldigung, haben das alle verstanden? Ich bin Psychologin und Sprachwissenschaftlerin und ich vergesse manchmal, dass das nicht alle studiert haben – ein Beispiel: Wer hätte vor Jahren gedacht, dass wir jemals das Wort ‘Googeln’ so selbstverständlich benutzen würden? Und wer könnte sich jetzt ein Leben ohne Googeln vorstellen?”
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“Niemand!”, ruft meine Freundin neben mir. “Und übertrieben ist all das nicht, ich meine: Frauen werden seit jeher benachteiligt, und nach 5000 Jahren Patriarchat ist es doch schon okay, wenn man als Mann vielleicht mal kurz die Klappe hält und zuhört.”
“Genau! Privilegien checken!”, ruft jemand anderes. “Das ist das Stichwort! Viele Menschen sind sich ja gar nicht darüber bewusst, dass sie ungeheuer privilegiert sind, weil sie einen Penis haben. Oder weil sie weiß sind.”
“Moment mal, aber wir sind doch alle keine Nazis”, ruft das Männchen auf seiner Bank, “also, ich zumindest nicht!”
“Es geht aber nicht immer nur um dich selbst, Männchen”, sagt der Kellner hinter dem Tresen, “es geht hier um die Gesamtgesellschaft. Die Struktur. Das System!”
Es ist 2017 und wir sind nicht alle einfach bloß Menschen. Noch nicht.
“Und systematisch ist auch sexistische Werbung!”, ruft eine Frau von gegenüber. “Ich versteh’ sowieso nicht, warum Werber so unfassbar unkreativ sind. Die könnten Produkte ja auch einfach mal damit bewerben, wofür sie gut sind. Aber nein! Womit bewerben wir die Autoversicherung? Brüste! Womit bewerben wir den Joghurt? Brüste! Völlig lächerlich.”
“Und wenn du jetzt aber richtig Bock hast, deine Brüste zu zeigen?”, fragt irgendwer, eine andere Frau springt auf: “Genau darum geht’s! Selbstbestimmung! Du sollst mit deinem Körper genau das machen können, was du willst.”
“Scheißegal, ob in Hotpants oder mit Hidschāb”, ruft jemand anderes.
“Hidschāb?”, fragt das Männchen auf seiner Bank.
“Das ist das, was in der Presse immer als Burka auftaucht. Ist aber Humbug. Hidschāb ist ein Kopftuch und damit letztlich auch bloß ein fucking Kleidungsstück.”
“Und kein! Kleidungsstück! Dieser Welt! Ist jemals! Ein Freifahrtschein! Zum Antatschen!”, brüllen zwei Frauen im Chor.
Einige Leute erheben sich, sie rufen: “Lasst uns die Rape Culture vernichten!”
“Was, Rape Culture?”, fragt das Männchen auf seiner Bank.
“Das kannste googeln”, sagt die Sprachwissenschaftlerin, und dann sagt sie: “Und wieso versteht eigentlich niemand, dass wir Frauen gern selbst entscheiden wollen, was mit unseren Körpern passiert? Es sind doch immerhin: unsere Körper!!”
“Aber vielleicht weiß das ja irgendwer besser, ein Arzt oder ein Wissenschaftler oder”, setzt das Männchen an, fast die gesamte Kneipe schneidet ihm das Wort ab und brüllt: “NEIN!”
“Wir sind halt nicht alle einfach bloß Menschen.”, seufzt irgendjemand. Der Kellner ballt die Hand zur Faust und sagt: “Und genau deswegen ist es völlig unlogisch, kein Feminist zu sein.”
Wir tragen Stöckelschuhe und Sneakers, wir tragen Lippenstift und Damenbart, wir trinken Bier und Champagner, wir strippen und wir halten uns bedeckt, wir singen: Girls just wanna have fundamental rights.
Das Männchen bäumt sich nochmal auf, es ruft verzweifelt: “Warum nennt ihr es nicht wenigstens Humanismus?” – “Weil das was anderes ist”, setzt irgendwer an, er wird übertönt von Sprechchören, die eine Hälfte der Kneipe brüllt: “Feminismus ist kein dreckiges Wort!”, die andere setzt an mit “This is what a feminist looks like!”
Der Kellner schreit: “Freibier für alle!”
Stürmischer Beifall. Er dreht die Musik auf, es läuft “Girls just wanna have fun” aber in der abgewandelten Version und alle singen mit: Ohh, Girls just wanna have fundamental rights, fundamental rights. Wir fallen uns in die Arme, das Männchen klettert von der Bank, es ruft: “Verdammt, ja, fundamental rights, ihr habt Recht!”
Wir singen, tanzen, trinken, liegen uns in den Armen, wir sitzen, stehen, klettern auf die Tische, wir sind alt, jung, mittelalt, auf einmal sind auch Kinder da, Babys, Säuglinge, sie schreien, wir haben weiße Haut und schwarze Haut, wir tragen Brillen und keine Brillen, wir sind groß, klein, dick, und dünn, mitteldick und mitteldünn, wir haben lange Haare, kurze Haare, rote, braune, blonde, schwarze, grün gefärbte, wir haben große Brüste, kleine Brüste, keine Brüste, wir sind rasiert und unrasiert, wir tragen Stöckelschuhe und Sneakers, wir tragen Lippenstift und Damenbart, wir trinken Bier und Champagner, wir strippen und wir halten uns bedeckt, wir singen: Girls just wanna have fundamental rights, das Bier fließt in Strömen, wir grölen, wir tanzen, wir liegen uns in den Armen, wir sind glücklich.
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Ich öffne die Augen. Das Männchen, das gerade den Vortrag gehalten hat, klettert von der Bank, kratzt sich am Bierbauch, leckt sich über die Lippen und sagt: “Auf eine von euch beiden Schnecken hätt’ ich heute Abend schon noch Bock.”
Meine Freundin und ich stehen auf, zeigen ihm den Mittelfinger und verlassen die Kneipe. Es ist ein Abend wie jeder andere, später werden wir auf dem Heimweg miteinander telefonieren, damit wir uns sicherer fühlen, wir wissen: Das ist nicht übertrieben, das ist verdammt nochmal notwendig, denn wir sind nicht frei. Es ist 2017 und wir sind nicht alle einfach bloß Menschen. Noch nicht.
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Titelfoto: Christopher Dombres | Flickr | Public Domain