In Litauen kann man sich in diesen Tagen nicht entscheiden. Genervt von den Russen, die ihnen ständig im Nacken sitzen, sehnen sie sich nach der süßen finanziellen Instabilität und den gewalttätigen, sozialen Unruhen, die die Welt im Moment mit der EU-Mitgliedschaft assoziiert. Aber als Brüssel ihnen erklärte, dass sie dem Euroclub erst beitreten können, wenn sie ihr riesiges Atomkraftwerk abschalten, fingen sie an zu schmollen.
Wenn man bedenkt, dass das Kernkraftwerk Ignalina auf den gleichen Plänen beruht wie Tschernobyl, das Kraftwerk, das die schrecklichste Atomkatastrophe in der Geschichte der Menschheit auslöste, erscheint die Liebe der Litauer für ihre Mutantenfabrik etwas unvernünftig. Aber du lebst auch nicht in Visaginas, einer isolierten Stadt weit im Osten des Landes, die von der Sowjetarmee in den 70ern aus dem Nichts heraus aufgebaut wurde, nur um die Arbeiter aus Ignalina zu beherbergen.
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Eigentlich leben nicht mehr viele Menschen in Visaginas. Die Belegschaft des Kraftwerks ist auf etwa 200 geschrumpft, aber es gab eine Zeit, in der 5000 Menschen tagelang die Sonne nicht gesehen haben, um sicherzustellen, dass das größte Atomkraftwerk der Welt seine giftigen, grünen Dämpfe nicht über den gesamten Ostblock ausspuckt. Auf seinem Höhepunkt versorgte Irgnalia 70% Litauens mit Strom und ließ mit seinen 1500 Megawatt den Zwillingsbruder Tschernobyl wie eine Milchbubi am Kindertisch aussehen.
Nach der zweistufigen Stilllegung des Reaktors 2004 und 2009 kühlen nun die Uranstäbe ab und die Leistung wird langsam zurückgefahren bis das Kraftwerk fertig zum einmotten ist. Ich dachte mir, dass der Besuch am Totenbett eines Atomkraftwerks mehr Spaß machen würde, als in Vilnius mit Sextouristen abzuhängen, so wie es alle anderen tun.
Meine Entscheidung, der Sexsklaverei auszuweichen, hatte allerdings einen Preis: Die Reise nach Visaginas dauerte eine verdammte Ewigkeit. Am Ende brauchte ich mit Bus, Bahn und Taxi 14 Stunden. Die meiste Zeit war ich allein, abgesehen von den Schiffsladungen dösender Soldaten, die in verschiedene Kasernen im litauischen Wald gefahren wurden.
Und das ist Visaginas: eine Ansammlung von Fertighäusern, die man mitten in den Wald geworfen hat. Nichts in Visaginas ist älter als 35 Jahre, der ganze Ort fühlt sich sehr unreal und temporär an, wie eine Fata Morgana der Kommunisten oder wie eine Ferienanlage in der Nähe eines Atomkraftwerks, in die die Leute nur gehen, wenn sie Trübsal blasen und sich über den Tod unterhalten wollen.
Die Kinder der Atomgeneration spielten schon immer gerne in rostigen Kuppeln.
Das Kraftwerk ist eine weitere kurze Autofahrt vom Stadtzentrum entfernt. Aus irgendeinem Grund hat es eine halbe Stunde gedauert, einen Taxifahrer zu finden, der mich dahin bringen wollte, vielleicht lag es an der riesigen Kamera um meinen Hals, keine Ahnung.
Irgendwann standen wir vor der Schwelle eines massiven Klotzes, der eine ganze Ära der sozialistischen Hoffnung verkörperte: billige und saubere Energie für alle, die Einigkeit des einfachen Mannes und ein Schlag in die Fresse der kapitalistischen Schweine aus dem Westen.
Sich Zugang zu verschaffen war eine mühevolle Angelegenheit. Bevor ich ankam, warnten sie mich, dass ich die gesamte Zeit streng kontrolliert werden würde, und wenn ich etwas fotografierte, das möglicherweise den kalten Krieg wieder aufleben lassen könnte, würden sie meine Kamera zerstören und mich zwingen, eine Plutoniumbombe zu schlucken. Die Bastarde nahmen mir am Ende des Besuchs meine Kamera weg und löschten über die Hälfte der Fotos, also repräsentiert das, was ihr hier seht, die offiziell genehmigte Seite des Besuchs, aber zum Glück sind da immer noch eine Menge spannender Sachen bei.
Nachdem ich mit einem Sicherheitshelm und drei Lagen Schutzmaterial ausgestattet wurde—was ich nicht fotografieren durfte—nahm uns unser Reiseführer mit in diese große, einladende Empfangshalle. Ich kann mich nicht daran erinnern, wofür sie nach der Aussage des Führers genutzt wurde. Vielleicht sieht es bloß wie eine Menge Hebel und Rohre und so ein Scheiß aus, aber wenn du da bist, ist es wirklich spannend, weil du dir ausmalen kannst, dass du mit dem Zug an einem dieser Hebel und dem Drücken der roten Knöpfe in der richtigen Reihenfolge den Planeten zerstören kannst.
Als ich den Guide fragte, wozu dieser grüne Ast hier gut war, hielt er kurz inne und lachte wie ein Verrückter: „Das ist zur Dekoration!!!“ Wer behauptet eigentlich, dass Arbeiter in osteuropäischen Atomkraftwerken keinen Sinn für Humor hätten?
Als nächstes nahmen wir einen Fahrstuhl und fuhren neun Stockwerke hoch auf die Spitze des Atomreaktors. Es war ungefähr so hell erleuchtet wie ein Fetisch-Club und es herrschte der gleiche, komische Geruch von synthetischen Chemikalien und verschwitzten Genitalbereichen. Ihr wisst schon, was ich meine.
Und genau so wie die Sexpartygänger in einem Fetisch-Club ein Doppelleben führen, versteckt jedes dieser Vierecke einen Stab voll unglaublich leistungsfähigem Uran. Aktiviere eins von diesen Dingern und du hast genug Macht, einen Krieg anzuzetteln. Das ist also im Wesentlichen genau das, was Ahmadinedschad jede Nacht beim Schlafen gehen sieht.
Oh Gott, bei dem hier haben sie den Deckel vergessen! Wie peinlich. Der Guide wurde rot. So passieren Sachen wie Tschernobyl, ihr dämlichen Idioten.
Wann immer die Wissenschaftler mit diesen langen Stäben ultraheißen radioaktiven Materials „heiße Kartoffel“ spielen müssen, haben sie dieses Spezialmikrowellenofending. Damit können sie mit den Stangen hantieren, ohne dass genug Gammastrahlen entweichen, um sie in deformierte litauische Superhelden zu verwandeln.
Ich schätze, dass ist Russisch für: „Behalt deine Eier in der Hose, außer du willst Kinder mit drei Armen.“
Diese Brennstoffbecken sind über 40 Meter tief und im Wasser darin werden die nächsten 20 Jahre lang verbrauchte Uranstäbe gelagert und gekühlt, während sie langsam an Radioaktivität verlieren. Auf dem Boden des Beckens halten spezielle Gestelle die Stangen von einander fern—sollten sie sich zufällig berühren, besteht das Risiko einer nuklearen Kettenreaktion. Dieses Dominospiel muss ich nicht unbedingt spielen.
Überall hingen diese kleinen Tücher herum. Ich fragte mich, warum sie trocknen mussten, weil die einzig sichtbare Flüssigkeit leuchtender, grüner Schleim in riesigen Becken unter meinen Füßen war.
Schließlich erreichten wir das Hauptquartier. Sogar hier drin wurde von jedem verlangt, sich wie ein Bäckerslehrling zu kleiden.
Falls es dir noch nicht aufgefallen ist: Ich stehe total auf sowjetischen Kitsch. Als ich also in diesem holzgetäfelten, 70er Jahre Kontrollraum vor dieser Wand mit archaischen Monitoren stand, wurde ich vor lauter sozialistischer Jovialität im Grunde genommen ganz heiß. Sicherlich hatte Lenin genau das im Kopf, als er davon träumte, die Zukunft durch Technologie zu erschaffen—oder zumindest eine Gesellschaft, die auf dem Prinzip der ständigen Überwachung und absoluten Kontrolle über jeden basiert.
Weil die nukleare Bäckerei niemals schläft, bleiben seine Teigkneter mehrere Tage lang in Bereitschaft—aus diesem Grund haben sie nur eine Armlänge von den Schaltflächen entfernt Sportequipment angebracht. So bleiben sie fit, während sie auf irgendwelche Probleme warten. Es ist durchaus möglich, dass der Schichtleiter in Tschernobyl gerade Gewichte stemmte, als er in dieser verhängnisvollen Nacht 1986 den AUS-Knopf hätte drücken sollen.
Hätte ich vor dem Jahr 1992 so ein Foto aufgenommen, hätte ich garantiert einen Kopfschuss kassiert.
Wissenschaft und Technologie waren sehr wichtige Bestandteile der sowjetischen Identität, deswegen fühlte ich mich zu diesem Zeitpunkt wie Gott.
Während des gesamten Aufenthalts in der Fabrikanlage lief ich durch Korridore und Laborbereiche, in denen es streng verboten war, Fotos zu machen. Schließlich wurden wir in einen Dekontaminierungsraum gebracht, in dem wir uns auszogen und unsere gesamten Habseligkeiten mit Hilfe eines langen Vibrators überprüft wurden. Sie wollten sicher gehen, dass sie uns gefahrlos in die Gesellschaft zurück schicken könnten. Nach diesem Tag in der Fabrikanlage war meine Radioaktivität um ungefähr 1,8 Prozent angestiegen—genau der richtige Wert, damit ich meinen Trip als wertvolle Erfahrung bezeichnen kann.
Übrigens arbeiteten überraschend viele nette Frauen in Ignalina. Vielleicht hätte ich lieber Fotos von ihnen machen sollen, als wegen Schaltern und Hebeln so durchzudrehen.
Als wir unsere Hände und Füße in dieses monströse Metallteil stecken mussten, erklärte es uns auf brüchigem Englisch in Computersprache: „KOMM, BITTE, NÄHER.“ Am Ende eines langen Tages war es schön, eine vertraute Stimme zu hören und sich gemocht zu fühlen.
Ein weiterer Tag geht nun zu Ende. Ein weiterer Tag, an dem die mögliche Katastrophe im anderen Tschernobyl verhindert wurde. Für diesen Mann und alle anderen in der Fabrik ist es nun an der Zeit, nach Hause zu gehen und dort einen traditionellen Teller Atom-Borschtsch zu essen und stolz auf die Tatsache zu sein, dass die Welt dank ihnen ein Fukushima weniger hat, um das sie sich sorgen muss.