Früher existierte so etwas wie Sex für mich nicht. Berührungen gingen klar – innige Umarmungen von Tanten, Händeschütteln oder ein gelegentliches Abklatschen mit Freundinnen. Alles andere war tabu.
Als Kind syrischer Immigranten ging ich auf eine muslimische Schule. Ich trug einen Hidschāb und betete fünfmal am Tag. In der muslimischen Kultur werden viele großartige Dinge in den Fokus gerückt. Nächstenliebe, Freundlichkeit, Hingabe und Glaube zum Beispiel. Sex hat darin jedoch keinen Platz. Ich habe meine Eltern nur selten küssen sehen – und wenn, dann war es nur ein flüchtiger Schmatzer zum Abschied. Mit Jungs durfte ich nicht reden, schon das bloße Anschauen war mir nicht gestattet. Und wenn im Fernsehen geknutscht wurde, musste ich mich wegdrehen.
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Insgeheim wusste ich aber, dass in mir etwas brodelte. Ein Gefühl, das niemand aus meinem Umfeld zu zeigen schien. Dann sah ich zum ersten Mal Tuxedo Mask, eine der Hauptfiguren der Anime-Serie Sailor Moon. Mir wurde sofort klar, um was es sich bei dem Gefühl handelte: Obwohl ich damals mit 12 noch nie mit einem Jungen geredet hatte, verspürte ich Lust. Ich wollte von Tuxedo Mask berührt werden. Jeden Nachmittag verlor ich mein Herz aufs Neue an den maskierten Frauenschwarm.
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Sailor Moon ist eine japanische Manga-Reihe aus den 90er Jahren, bekannt wurde sie weltweit aber vor allem durch ihre Anime-Adaption. Sailor Moon und die anderen Sailor-Kriegerinnen sind ganz normale Schülerinnen, bis sie durch die Kraft der Planeten übermenschliche Kräfte bekommen und die Erde gegen das Böse verteidigen sollen. Hilfe bekommen sie dabei häufig vom mysteriösen Tuxedo Mask, der immer dann auftaucht, wenn Sailor Moon in Not gerät.
Tagsüber ist Tuxedo Mask ein normaler 17-jähriger Teenager namens Mamoru. Nachts verwandelt es sich aber in einen geheimnisvollen Helden, der seine Liebe Sailor Moon (alias Usagi) vor den Bösewichten und Dämonen beschützt, die immer wieder die Erde heimsuchen. Seine Gefühle sind so stark, dass sie sich sogar in einen eigenständigen Menschen verwandeln, als die Charaktere am Ende der ersten Staffel ohne Erinnerung wiedergeboren werden: Fortan wird Sailor Moon vom “Ritter des Mondlichts” behütet.
Beim Schauen der Serie habe ich mich immer gefragt, was genau Mamoru an Usagi so liebt. Die Teenagerin ist wie alle anderen Hauptfiguren schlank und überdurchschnittlich attraktiv, aber im Serienuniversum selbst keine außergewöhnliche Schönheit. Sie ist faul und tollpatschig. Sie schreit lieber, anstatt zu reden. Und sie besitzt einen unersättlichen Appetit. Ihre Freundinnen machen sich ständig über Usagi lustig und fragen, warum sie so eine Heulsuse sei oder wie sie nur so viel essen könne. Dennoch ist Mamoru ihr komplett verfallen.
Durch Mamorus Liebe zu Usagi realisierte ich, dass es beim Thema Schönheit um so viel mehr geht als nur um das Aussehen. Als der Teenager in einer Folge der ersten Staffel mitbekommt, dass sich seine Angebetete als Modell versuchen will, sagt er in seiner ganzen Weisheit, dass es bei einem Model nicht auf das Aussehen alleine ankomme, sondern auch auf die innere Schönheit.
Weil ich mein ganzes Leben lang meinen Körper verhüllt hatte, setzte sich diese Aussage in meinem Hirn fest. Vorher hatte ich immer angenommen, dass nur Frauen mit langen Haaren, Make-up und einer schlanken Figur es wert sind, dass man sie liebt. Unter meinen vielen Klamottenschichten schämte ich mich dafür, anders als meine zumeist weißen Mitschülerinnen zu sein. Ich ging davon aus, dass mich niemals jemand so ansieht wie Mamoru Usagi. Ich hielt mich einfach nicht für gut genug. Dennoch schaltete ich jeden Tag den Fernseher ein und schmachtete diesen perfekten Gentleman an, den Oberflächlichkeiten nicht scherten und der hinter die Fassade blickte. (Auch wenn er sich in manchen Szenen über Sailor Moon lustig macht.)
Ein Mann kann eine Frau auch dafür lieben, dass sie mutig ist – nicht nur, weil sie hübsch aussieht. Dieser Gedanke veränderte mich. Als zwölf Jahre altes Mädchen mit Akne war ich zum ersten Mal wuschig und wusste nicht, wie ich damit umgehen sollte. Ich rieb mich an Kopfkissen und unser Duschkopf wurde von Tag zu Tag interessanter. Mamoru hatte mir auf jeden Fall ordentlich eingeheizt.
Dabei tat der Anime-Charakter so viel mehr, als nur Sailor Moon zu begehren: Er ermutigt sie auch dazu, immer ihr Bestes zu geben und die Kriegerin in sich zu finden. Weil ich in einem gewalttätigen Haushalt aufwuchs, fühlte ich mich oft wie Sailor Moon. Auch ich thematisierte Ungerechtigkeit, wenn ich sie sah – eine Angewohnheit, durch die ich mir oft Schläge einhandelte. Egal ob mein Stiefvater oder meine Ex-Freunde, irgendjemand hatte immer etwas dagegen, wenn ich meinen Mund aufmachte. “Du redest zu viel”, sagten sie immer. “Warum sind dir solche Sachen immer so wichtig?” Damals hatte ich noch keinen Mamoru, der mir Mut zusprach. Ich fühlte mich einsam. Das änderte sich erst, als ich meinen zukünftigen Ehemann Arthur kennenlernte.
Arthur hat sich nie über mich ausgelassen. Nein, er wollte stattdessen immer, dass ich mich nicht verstelle – genauso wie Tuxedo Mask bei Sailor Moon. Er wusste mich von Anfang an zu schätzen und liebte selbst die Teile meines Körpers, die ich hasste. Seine Unvoreingenommenheit war wie ein Segen. Durch Arthur fragte ich mich zum ersten Mal, warum ich vorher so hart mit mir ins Gericht gegangen war.
Tuxedo Mask und Arthurs Liebe haben mir gezeigt, dass ich mir nicht mehr wünschen muss, anders auszusehen. Stattdessen ist nur eins zu tun: die innere Schönheit entdecken. Alle meine Eigenschaften, die ich früher als negativ empfand, machen mich zu etwas Besonderem, zu einer eigenen Sailor-Kriegerin. Heute ist es mir egal, was andere Menschen über mich denken. Ich lebe meine alberne und meine kritische Seite voll aus. So habe zumindest etwas Frieden gefunden – dank einer japanischen Anime-Serie und eines außergewöhnlichen Mannes.
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